Ein Festparadies am Genfer See

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Titel: Ein Festparadies am Genfer See
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 500-503
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Festparadies am Genfer See.
Der See und seine Riesen. – Erster Gruß des Südens. – Das Paradies des Waadtlandes. – Vevey. – Die Abtei der Winzer von Vevey und ihr Fest. – Das Touristenkarawanserai von Montreux und Vevey. – Chillon und Bonnivard. – Der Festplatz. – Die Kirche von St. Martin und die Grabsteine der „Königsmörder“. – Das Hotel Monnet. – Ein Abend auf seiner Terrasse.

Morgens war es, eines Morgens „im wunderschönen Monat Mai“ und ich nach langer unbehaglicher Nachtfahrt in einer vollen schweizerischen Postkutsche mit dem obligaten Geklingel ihrer vier schellenbehangenen Gäule. Abends bei fallendem Regen in Bern, damals noch im dunkeln Hofe des alten Posthauses auf der Gerechtigkeitsgasse, in das vielräumige Vehikel gestiegen, waren wir mit grauendem Tage auf den Kamm eines rauhen Gebirgs gekommen, bald durch Waldstellen, bald über Moosflächen und Torfgräbereien. Es war der mäßig ansteigende Höhenzug, welcher den Jura mit den Alpen verbindet, eine Landschaft, welche nicht viel verspricht, mit dünn verstreuten Gehöften, meist auf Freiburger Boden, die weder freundlich noch sauber aussehen. Bei einem See, einem kleinen meergrünen, klaren Gewässer, das sich in flacher Thalmulde links der Straße an einigen besseren Häusergruppen nicht unlieblich ausbreitet, rückten wir in scharfer Wendung, hart an die Kante des Gebirgs, welches sich in jähem Absturze gen Mittag abdacht. Da – noch halb im Schlafe, fuhr ich fast zusammen – griff mich meine Nachbarin, eine artige Bäuerin aus dem Rhonethale, plötzlich am Arme. „Monsieur, Monsieur, voilà le lac!“ rief sie. „Le lac,“ als gäbe es nur einen auf der Welt, als wären wir auf unserer Nachtreise nicht schon an zweien vorübergerollt!

Und da lag dieser See, dieser einzige, dieser wahrhaft einzige See, tief, tief unter uns und unserer wandernden Behausung. Zug um Zug wickelte er sich los aus den Nebelhüllen, die ihn bedeckt hatten, und überherrlich, glorios, strahlend und leuchtend in ungeahntem Glanze, entrollte sich Stück um Stück eines Landschaftsedens, das wirklich und gewiß ein Paradies ist, wenn die Natur allein dergleichen schaffen kann! Blau, azurblau, indigoblau der große, breite See mit tausenden und abertausenden von Lichtfunken gesprenkelt, himmelanstrebend die eisbehelmten Alpen jenseit, die Alpen von Savoyen, die in unzähligen ausgezahnten, ausgewitterten Spitzen den Aether durchschnitten, auf den höchsten noch angeglüht vom Rosenschimmer des Morgens, und daran die vom Wallis mit dem Koloß der Dent du Midi bis zum großen Bernhard hin, dort wo sich der Zuckerhut des Mont Catogne vorschiebt, der das Thal zu sperren scheint, und die ewig beschneite Pyramide des Velan ihm anlehnt. Diesseit aber ein Gelände, wer malt seine Pracht? in Ton und Färbung, in Pflanzenwuchs und Baumschlag schon ganz der Hauch des Südens, der erste Gruß jenes sonnigen Südens, nach welchem uns Alle, die wir geboren sind im bleichem Norden, instinctmäßige Sehnsucht zieht, uns Alle, wie der nämliche Drang einst Stämme sogar und Völker aufscheuchte aus ihren Sitzen auf die lange gefahrvolle Wanderschaft nach den fernen Reichen des Mittags! Mitten drin in der unsäglichen Herrlichkeit zwischen Reblaub und Nußbäumen hunderte weißleuchtender Häuser, hier zu einer umfänglichen Stadt geschaart, die ein viereckiger Kirchthurm überragt gleich einem normännischen Castelle; weiterhin zur Linken in kleinern Gruppen vertheilt, bald am Seespiegel, bald auf halber Höhe der Berge; hinten sogar, auf der Fluth schwimmend, ein alterthümlich, weitläuftig Gegiebel, von dem man schon so manches Conterfei gesehen! Und immer schöner, immer reizender werden die Dörfer, durch die wir kutschiren, immer voller das Laubwerk, das sie umspinnt, immer dichter die Büsche von blühenden Syringen und Rosen, welche die offenen Galerien der Häuser umranken, ein wahres Lustgefild! Steil im Zickzack läuft die Straße hinab, nach der Königin des Sees, dem herrlichen saubern, rührigen Vevey, jener Stadt mit dem eigenthümlichen viereckigen Kirchthurm; bei jeder Ecke wechselt die Anordnung des Panoramas, doch aller Orten bleibt dies gleich wonnevoll.

Warum ich ihm das Alles erzähle und zeige, fragt der Leser, warum ich ihn so weit mittagwärts entführe, jetzt, wo seine Gedanken und Blicke nach ganz anderer Richtung schweifen, wo sie an den Dünen und Marschen der Weser hängen und an den lieblichen Ufern der Elbe, bei den deutschen Schützen und bei den deutschen Sängern weilen, nicht am entlegenen Fuße der penninischen Alpen, wie herrlich es dort auch sein mag? Warum? Weil zugleich mit dem ersten Bundessängerfest in Dresden auch im Paradiese des Waadtlandes, in Vevey am Leman, ein Fest gefeiert wird so unvergleichlich in seiner Art, wie seine Bühne ist.

Dies Fest hat nichts gemein mit der Turnerei, nichts mit Sängern und Schützen, ist kein eigentliches Nationalfest mit politischem Untergrunde, die Festgeber selbst zählen nicht nach Tausenden, kommen nicht herbeigezogen aus allen Himmelsgegenden wie bei jenen Festen, nichts destoweniger aber ist’s besucht von Schaaren von Fremden, nicht blos aus sämmtlichen Theilen der Schweiz, sondern aus dem fernsten Auslande, von allen Nationen, welche ihr Contingent zur heutigen Reise- und Touristenwelt stellen.

Und dennoch ist’s eigentlich nichts anderes als eine Art von

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Vevey am Genfer See.

[502] Erntefest, freilich vor der Ernte, in dem ein glückliches Volk seinen Jubel laut werden läßt über den Segen seines Klimas und seines Bodens, welcher es zu der beneidenswerthen Stufe von Wohlstand und Civilisation emporgehoben hat, dessen es sich erfreut. Wo rundum weit und breit die Rebe und ihre Pflege im Vorgrunde alles Sinnens und Strebens steht; wo der Wein das Alpha und Omega des Lebens ausmacht; wo jede Naturerscheinung, jeder Wetterwechsel, jede politische Conjunctur zunächst immer auf die Rebe, ihr Gedeihen und ihre Verwerthung bezogen wird; wo auch für den Aermsten der Wein kein unerreichbarer Luxusartikel ist, sondern das tagtägliche Labsal bildet – da kann es eben nicht Wunder nehmen, wenn ein Winzerfest im Laufe der Jahrhunderte zu Verhältnissen anwuchs, die seine jedesmalige Feier zu einem Ereignisse, zu einem der glänzendsten Schauspiele Europas machen, für welches Jahre lang Vorbereitungen getroffen werden, das schon Monate lang vorher die gesammte Bevölkerung in Spannung und Aufregung versetzt. Wohl die meisten meiner Leser haben bereits von diesem großen Winzerfeste oder, wie es offieiell genannt und feierlich proclamirt wird, dem Feste der Bruderschaft der Winzer von Vevey gehört, jenem in unregelmäßigen Zwischenräumen wiederkehrenden heidnischen Bacchus- und Ceresfeste mitten in einem der allerchristlichsten Winkel der Erde.

Die Bruderschaft oder „Abtei“ (abbaye) der Winzer von Vevey verdankt ihren Namen jedenfalls dem Kloster von Haut Crét im Freiburgischen, dessen Mönche im zwölften Jahrhundert die ersten Reben am Nordrande des Genfer Sees pflanzten, auf den Felsen von La Vaux, die jedem Weinkenner süße Erinnerungen oder Hoffnungen wecken. Ursprünglich hatte diese „Abtei“ der Winzer nur die Ueberwachung der Weincultur zum Zwecke. Wer sich besonders auszeichnete durch seine Rebpflege, der erhielt gewisse Preise und Belohnungen, welche alle drei oder vier Jahr in Vevey zur Vertheilung kamen. Dabei waren ländliche Feste mit Aufzügen und Gesängen veranstaltet, und aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte sich nach und nach das imposante Fest, welches 1851 zum letzten Male gefeiert wurde und eben, in den Tagen des 26. und 27. Juli, wieder eine Völkerwanderung über das elegante Vevey ergießt, die wohl zwei und drei Mal die Zahl seiner ständigen Bewohner übersteigen mag. Der Haupttheil dieses Festes ist eine große Procession, die Parade der Winzer, worin sich die heidnische Tradition mit dem christlichen Elemente vermischt, mythologische Allegorien mit mittelalterlichen Tableaux wechseln, der Gott Bacchus noch jetzt unmittelbar dem Schutzpatron des ehemaligen Klosters, dem heiligen Urban, vorauschreitet und hinter dem Gotte der Zunftmeister der Winzer, der sogenannte „Abt“, als der Oberpriester des Bacchus stolzirt. Außerdem kommt auch Ceres als Repräsentantin des Sommers in den Zug, erscheinen Gruppen, welche die nationalen Sitten und Beschäftigungen darstellen, Gruppen von Hirten und Jägern, andere, welche patriotische Erinnerungen verherrlichen, darunter die alte Schweizergarde, und jede der vielen Gruppen mit ihrer besonderen Musik und ihren besonderen Liedern. Zu alledem rüstet man sich seit einem Jahr ohne Unterbrechung. Ein Tanzmeister hat die Pas und Figuren der vor den errichteten Estraden ausgeführten Tänze zu entwerfen und für die Musik sind die besten Künstler des Cantons und der Schweiz in Anspruch genommen, während für die verschiedenen Costüme Summen verausgabt werden, wie sie kein Hoftheater für seine Opern und Ballets in das Budget setzen kann.

Eine interessante culturgeschichtliche Studie würde es abgeben, wollte man die allmähliche Entwickelung des Festes von der einfachen Winzerparade bis zu seinen heutigen complicirten Aufzügen und Aufführungen, die ein Personal von dreizehnhundert Menschen, Männern und Frauen, erfordern, vergleichend betrachten; sehen, wie sich der jedesmalige Charakter der Zeit in den Darstellungen und Costumen des Festes ausprägt, wie namentlich seit 1791 das künstlerische Element desselben in bis dahin unerhörter Weise zur Geltung kam und wie nun jedes der folgenden Feste das vorhergebende an Glanz und Ausdehnung übertraf. Ohne die Localität aber, ohne den Zauber der Landschaft, die sein Schauplatz ist, die, eine der herrlichsten der Erde, Jahr aus Jahr ein einen Ziel- und Sammelpunkt von Touristen aller Culturvölker bildet, wäre das Fest nimmermehr geworden, was es ist. Anderwärts hat der Festplatz meist einzig Bedeutung und Interesse durch das Fest selbst, das sich auf ihm abspielt, hier ist umgekehrt der Festplatz die Hauptsache, hat der Rahmen das Meiste gethan, das Gemälde zu schaffen, welches jetzt Tausende bewundern: ihm, dem Festplatze im weitern Sinne des Wortes, der Gegend, gilt auch unsere heutige Darstellung zunächst; suchen wir uns darum noch etwas mehr in den entzückenden Umgebungen zu orientiren, welche im Augenblick vom Jubel der seltenen Feier erklingen.

Wir stehen auf der letzten Terrasse der von Freiburg an den See hinabführenden Straße, auf dem Abhange des sogenannten Pilgerberges (Mont Pelerin), der, zur Joratkette zählend, sich unmittelbar im Norden über Vevey erhebt. Ungefähr von hier aus, nur etwas tiefer gegen das Thal hinab, ist die Ansicht aufgenommen, die unsere heutige Nummer schmückt. Ist auch der kalte Holzschnitt nicht im Stande, den Duft, den Schmelz, die Farbe, den Hauch des Südens wiederzugeben, welcher das Urbild umfließt, immerhin wird er ahnen lassen, daß wir hier ein wahres Sonntagskind der Schöpfung vor uns haben, ein Ensemble von Größe und Anmuth, wie es in ähnlicher Harmonie die Natur vielleicht kaum noch zwei oder drei Male hervorgebracht hat. Doch wir können uns das Prachtbild in aller Gemächlichkeit beschauen, wir dürfen nur eintreten in dem Hause, an dem wir eben vorüberkommen. Die Belle-Vue zu Chardonne über Vevey ist ein gar renommirter Ort, ein vielbesuchtes Gasthaus und Fremdenasyl, schreiten wir denn durch den freundlichen Garten, in dem es steht mit „Dependenzen und Châlets“, und lassen uns in seiner Veranda nieder bei einem Glase alten Yvorners aus 1854er Gewächs. Da liegt es vor uns, das Panorama, wie es der Zeichner vor sich gehabt hat – ein Ah! der Bewunderung entfährt uns unwillkürlich, und lange sitzen wir schweigend in andächtiger Begeisterung vor dem Landschaftsbilde, das sich vor uns ausspannt. Wer hätte auch Worte, diese Herrlichkeit zu schildern? Begnügen wir uns darum einfach zu verzeichnen, was wir sehen.

Zuerst die Berge am andern Ufer, die gewaltigen Recken, die kühnen, vielgezackten, himmelanstrebenden, wildzerklüfteten, mannigfachst umrissenen, – wir kennen sie schon, es ist dieselbe mächtige Alpengruppe, die wir weiter oben erblickten. Zur Rechten sind’s die Berge des Savoyer Seelands, an sie reihen sich links die Riesen des untern Wallis. Weiter nach links endlich fallen die Waadtländer Alpen jäh ab in den See, oben in unzählige Spitzen und Zinken gespalten, nackt und felsig, am Fuße prangend in einer Ueberfülle mittäglicher Vegetation, mit Kastanienhainen, mit Nußbaumwäldern, mit Rebhängen bekleidet und umgürtet.

Da ist es, wo das wahre Südland der Waadt beginnt, da nimmt der ununterbrochene Kranz von freundlichen Ortschaften seinen Anfang, die, theils an lauschigen Buchten des Sees, theils in schattigen Gründen, theils auf sanften Hügeln gelegen, vom Ausländer gewöhnlich als Montreux zusammengefaßt werden, obschon dies nur eine, wenn auch eine der ersten Perlen der unvergleichlichen Schnur ist. Die Gegend von Montreux bis Vevey ist nichts als ein großes Touristenkarawanserai, die Zuflucht der Brustkranken und Traubencuristen, Hotel fügt sich an Hotel, Pension an Pension, Landsitz an Landsitz. Wir können auf unserem Bilde nicht wahrnehmen, wie wechselreich – accidenté nennt es bezeichnend der Franzose – das Terrain dieser Landschaft ist, wie sich hier eine romantische Schlucht öffnet, in der sich malerische Häuser und Villen eingebettet haben, dort eine Höhe aufbaut, welche ein stattliches Schloß krönt, hier auf einmal inmitten der Weinberge, die ringsum dominiren, ein Wiesenplan sich einschiebt, auf dem eine Meierei oder Musterwirtschaft im echten Schweizerstyle sich ausbreitet, dort ein Kirchdorf das Plateau besetzt, hinüberschauend nach den Alpen des Greyerzer Ländchens wie nach dem Wasser und dem andern Strande, und wie die braunen Sennhütten von den Alpen heruntergrüßen, – der Leser muß es mir eben aufs Wort glauben, wenn ich ihm sage, auch der weitgereiste Wanderer, der vieler Menschen Länder geschaut, hat anderswo schwerlich ein Gleiches gesehen.

Ehe wir in diese Zauberregion gelangen, weiter im Hintergrunde, da wo der See eine tiefe dunkelblaue Bucht in’s Land schneidet, fällt uns, eben von der Abendsonne beschienen, ein schwerfälliges Mauerwerk in’s Auge, das auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Es ist Chillon, die alte Burg und Veste Chillon. Wem ist Chillon nicht bekannt, das ehemalige Savoyerschloß, welches, wie eine finstere Legende inmitten eines Kranzes süßer Minnelieder, unheimlich aus der lieblichen Gegend emporragt? Welche furchtbare Geschichte hat dies düstere Wassercastell! Tief unter dem Spiegel des Sees lagen seine Kerker, wo die Gefangenen [503] schmachteten, lange, lange, lange Jahre, die meisten, um nie mehr das Tageslicht zu sehen, um in den Wellen des Sees den Tod zu erleiden.

In einem dieser schauerlichen Kerker war der ehemalige Prior von St. Victor in Genf, der bekannte Bonnivard, acht Jahre lang eingeschlossen, an eine Säule geschmiedet und grub in die Steinplatten des Fußbodens die Spur seines immergleichen Schrittes, die noch heute allen Besuchern der Burg gezeigt wird. Zwar hat die moderne Geschichtsschreibung Bonnivard seines Heiligenscheines entkleidet, immer aber erregt das Schicksal des Denkers unser tiefstes Mitleid, wie ihn Byron’s ergreifende Dichtung, die sich unser Aller Gedächtniß unverlöschlich eingegraben hat, jeder Forschung zum Trotz den spätesten Generationen noch zu einem Märtyrer der politischen und Gewissensfreiheit stempeln wird. – Heute zieht die Eisenbahn von Vevey nach dem Rhonethale dicht an Chillon vorüber, eine ihrer Stationen hat ihre moderne Halle unmittelbar neben die mittelalterliche Veste gebaut, die jetzt das waadtländische Geschützdepot und Staatsgefängniß vorzustellen hat, und damit ist dieser ein gut Stück ihrer Romantik und Poesie genommen.

Unser Blick nähert sich dem Punkte des großen Halbkreises, wo auf der Spitze einer Landzunge die Stadt sich auszubreiten beginnt, theils den Bogen des Sees folgend, theils die kleine Ebene besetzend, die sich am Fuße der Weinhänge hinzieht, theils sich die untersten Staffeln dieser letzteren hinanbauend. Eigentlich sind es zwei Städte, die vor uns entfaltet liegen, so deutlich, daß wir fast jedes ihrer Häuser zu erkennen vermögen, von hier oben aber erscheinen sie als ein Ganzes, wie sie denn in Wirklichkeit auch dicht aneinander gerückt sind, obschon sie zwei völlig selbstständige Communen bilden, Links das Oertchen La Tour de Peilz, dem der nahstehende dicke Rundthurm des einstigen savoyischen Herzogsschlosses, dicht am Rande des Sees, seinen Namen verliehen hat und heute vor allem Andern die weitberühmte Erziehungsanstalt unsers vortrefflichen deutschen und speciell sächsischen Landsmannes, des Herrn Eduard Sillig, Ruhm und Glanz giebt; rechts die Stadt Vevey selbst, „die Königin des Sees“, wie sie der Umwohner stolz zu bezeichnen pflegt, dem Range nach die zweite, nach ihrem Verkehre und Wohlstand die erste Stadt des Waadtlandes, deren Handel und Industrie erhebliche Summen umschlägt und große Vermögen geschaffen hat. Natürlich ist der Wein der Hauptstapelartikel des Platzes, um mich gut kaufmännisch auszudrücken; von den etwa 75,000 Chars oder Karren (der Char zu vierhundert Maß gerechnet), welche die Waadt erzeugt, kommen fast die Hälfte auf die nähere und fernere Umgebung von Vevey, aber auch der Zwischenhandel mit dem berühmten Greyerzer Käse des Nachbarcantons Freiburg, für welchen Vevey den Hafen abgiebt, läuft sehr in’s Große und ebenso ist die Cigarrenfabrikation der Stadt von Bedeutung. Die „Veveysans“ und die „Vevey fins“ sind die beliebtesten Cigarren nicht nur der Schweiz, sondern genießen eines wohlverdienten Rufes auch weit jenseit deren Grenzen.

Von unserm Belvedere springen die Hauptgruppen, in die sich der freundliche, selbst stattliche Ort sondert, sofort in die Augen. Da haben wir zuerst – ganz rechts auf unserm Bilde – einen weiten Platz vor uns, der sich im Süden nach dem See zu öffnet und den westwärts ein gothisches Schlößchen, das Wohnhaus eines reichen Privatmannes, und ein daranstoßender dichter Baumgang abrundet. Das ist der Hafenplatz, der Markt, die Place du marché, mit der Fruchthalle und der Landungsstelle der Dampfboote. Für uns aber hat dieser Platz noch besonderes Interesse, denn auf ihm geht das große Winzerfest vor sich. Auf diesem mächtigen Platze sind die Estraden aufgezimmert, von denen am 26. Juli die Fremdenfluth dem Aufzuge zuschaut; hier beginnt sechs und ein halb Uhr Morgens die Procession mit dem Geleite des Frühlings, mit dem Ceres- oder Sommerzuge, dem Bacchus- oder Herbstfeste und der Hochzeit und der Jägergruppe, welche den Winter vorstellen; hier werden um sieben und ein halb Uhr die verschiedenen Preise vertheilt, hier von acht bis eilf Uhr die charakteristischen Tänze und Gesänge aufgeführt; von hier aus wird sich Abends die Kette der erleuchteten Gondeln auf dem See und der Reflex der illuminirten Stadt am prächtigsten ausnehmen, hier der große Costümball, der in der Nacht des zweiten Tages das Fest beschließt, während ringsum Alles in Licht und Flammen strahlt, von magischem Effecte sein. Auf diesem Platze war es auch, wo Napoleon Heerschau hielt über fünfzehntausend Mann seiner Truppen, ehe er über die Fels- und Schneewüste des großen St. Bernhard zum Siege von Marengo zog. An das gothische oder halbgothische Palais, das ihn ziert, reiht sich eine dichte Allee, gegen die Wogen durch hohes Mauerwerk geschützt, weit den See hinablaufend – eine köstlichere Promenade läßt sich nicht denken.

Wenden wir uns etwas mehr landeinwärts, so fesselt uns vor Allem der eigenthümlich viereckige Thurm einer Kirche mit den vier kleinen Eckthürmchen, die aus seinem Dache hervorspringen. Auch ein classischer Punkt, eine Stelle von Weltruf und jedem Touristen wohlbekannt: die Kirche von St. Martin mit ihrer von alten Linden und Kastanien beschatteten Terrasse und ihrem Friedhofe. Wer je nur einen Tag in Vevey weilte, der steigt gewiß hinauf zum Hügel von St. Martin und schwelgt in stillem Entzücken in der Herrlichkeit, die hier vor seinen Blicken ausgegossen ist, bis ihn das Rasseln des dicht unter der „Terrasse du Panorama“ vorüberbrausenden Bahnzugs aus seiner Selbstvergessenheit aufrüttelt und er nun wohl in die kühle Kirche tritt, um hier die Grabsteine zweier Flüchtlinge aufzusuchen, die fern ihrer Heimath im Exile starben, die Gruft Edmond Ludlow’s, eines der Richter Carl’s des Ersten von England, und seines Freundes Andrew Broughton, welcher dem unglücklichen Stuart das Todesurtheil verlas.

Fast in gleicher Linie mit dieser Kirche, doch hart am Ufer des Sees bleibt unser Auge schließlich an einem andern Bauwerk haften, welches etwa das Aussehen einer behäbigen fürstlichen Villa besitzt, in der That aber der in sämmtlichen Reisehandbüchern doppelt und dreifach besternte Gasthof Monnet, das Hôtel des trois Couronnes, ist, eines der sogenannten Schweizer Musterhôtels, jedenfalls desgleichen eine geweihte Stätte. Auch wir wollen unter seinem Dache heut unsere Häupter zur Ruhe legen.

Mittlerweile ist schon die Zweite des Yvorners geleert, es wird schwer sich loszureißen vom Panorama vor uns, doch es will Abend werden. Eine Gluthscheibe ruht die Sonne rechts gegen Genf hin auf den sanften Wellenlinien der Jurakette, der See schwimmt in Licht und Gold, über der Stadt flimmert wie eine Aureole ein Sonnennebel und links auf den Gipfeln und Eisschildern des Wallis schwebt schon der Rosenhauch des Abends, um, höher und höher klimmend, allmählich zur Zaubererscheinung des Alpenglühens zu werden, während der Fuß, die Falten und Schluchten der Berge in tief violettem Schatten liegen, von einer Wärme des Tons, wie wir ihn im Norden kaum für möglich halten. Eö ist Zeit zum endlichen Abstieg in’s Thal.

Rundum sieht das Auge nichts als Weinberge, die in kühnen Terrassen sich zum See hinunter abdachen und deren Mauern zugleich zum Fußpfade dienen. Ein lauer Westwind treibt das Wahrzeichen der Gegend, das Rebenblatt, über unsern Weg, und noch überall in den einzelnen Pflegen begegnen wir emsigen Winzern. An der schäumenden Veveyse, dem Kind der Freiburger Höhen, kommen die ersten Häuser der Stadt, meistens weiß mit grünen Jalousien und breit vorspringenden Dächern, halb italienisch, halb schweizerisch, aber durchaus schmuck und einladend und zum Theil von üppigster Vegetation umwuchert. Der Ort heimelt uns an vom ersten Schritte, den wir durch seine Straßen und Gassen thun, und selbst der süß-säuerliche Geruch, der uns aus den vielen Weinkellern von den darin eingelagerten Fudern und Stückfässern in die Nase dringt, dünkt uns ein neuer Gruß des schönen poetischen Südens.

Und wenn wir dann auf der Terrasse unserer Drei Kronen beim Nachtessen sitzen, umschwirrt von dem polyglottischen Sprachgewirr der um uns plaudernden Engländer, Franzosen, Russen, Deutschen und Schwyzer Dütschen, wenn nun links über den Zacken der Tour d’Ai der Mond aufsteigt und sein mattes Silber in tausend Lichtstreifen und Lichtbündeln über den See zieht und in die Schaumfurchen der Gondeln streut, die in der Nachtkühle sanft über den wellenlosen Spiegel gleiten, während jenseit am savoyischen Ufer die Kalköfen bei St. Gingolph wie feurige Scheiben durch das Dunkel herüberglühen – da überschleicht uns schmerzliches Bedauern, daß dies Alles nur vor dem geistigen Auge des Lesers lebendig wird, daß die Gartenlaube keine Zauberruthe besitzt, ihn mit einem Schlage in das Paradies von Vevey zu entrücken, sondern nur über Stift und Feder, über Druckerstock und Pressen gebietet und auch das große Winzerfest selbst ihm demnächst blos auf dem Papiere vorführen kann, dem Papiere, welches der ureigenste Träger des Geistes unserer Zeit ist.