Ein Führer in das Gebiet der Kunst
Seitdem die Eisenbahnen den Massen ermöglichen, was sonst nur einzelnen Glücklichen vergönnt war, die zahlreichen Kunststätten Europas zu besuchen und dort Aug’ und Herz zu erfreuen, seitdem Weltausstellungen selbst solche erleichterte Touren in ferne Länder unnöthig gemacht haben, indem sie die Kunstschätze der verschiedenen Länder an einzelnen Punkten zur Schau stellen, seitdem der verbesserte Holzschnitt und die dadurch entstandenen illustrirten Zeitungen und Bilderwerke eine instructive Vorstellung der Kunst selbst bis in die Hütte tragen und die Photographie, der Menge den theuren Kupferstich ersetzend, auch demjenigen, der jene Reisemittel nicht benutzen kann, die Möglichkeit giebt, sich an den Meisterwerken der Kunst aller Länder am häuslichen Herde zu erfreuen, seitdem hat sich auch der Sinn für Kunst, die Freude am Kunstwerk in immer weiteren Wellen verbreitet. Eben dadurch ist aber auch in uns Allen das Bedürfniß entstanden und gewachsen, an der Hand eines bewährten Führers in die Kunst eingeführt zu werden, auch wenn wir nicht durch streng künstlerische oder kunstwissenschaftliche Vorbildung für ein richtiges Verständniß der Kunstwerke vorbereitet sind. Unter den Männern, welche, zu dieser schönen Mission berufen, sie in ebenso umfassender als gediegener Weise erfüllt haben und erfüllen, ist in erster Linie Wilhelm von Lübke zu nennen.
Ein Kind der rothen Erde, welche schon so manchen bedeutenden Mann hervorgebracht hat, ist Lübke am 17. Januar 1826 zu Dortmund geboren. Als der Sohn des Lehrers und Organisten der dortigen katholischen Gemeinde fühlte er sich zunächst zur Musik hingezogen und erwarb sich in ihrer Ausübung bald eine solche Fertigkeit, daß er schon in seinem zwölften Jahre in der Kirche die Orgel spielte. Zugleich erhielt er am Gymnasium [837] von Dortmund unter Bernh. Thiersch, dem Verfasser des Preußenliedes und Bruder des Archäologen, eine solide classische Vorbildung. Wenn Lübke daneben Generalbaß und Compositionslehre studirte und anfangs die Idee hatte, die Musik zum Lebensberuf zu wählen, so wurde er doch, als er 1845 die Hochschule in Bonn bezog – wo er unter Ritschl und Welcker Philologie, unter Loebell und Diez, dem Meister romanischer Sprachforschung, Literaturgeschichte studirte – durch Gottfried Kinkels Vorträge über Kunstgeschichte und den Anblick der großartigen und interessanten Bauwerke, welche ihm in Bonn und Köln, an Rhein und Mosel, vor Augen traten, allmählich zu den Tönen und Harmonien der Schwesterkunst hinübergeführt, für die ihn eine am Schlusse seiner Bonner Studien (1846) ausgeführte Reise nach dem bilder- und denkmalreichen schönen Belgien vollends gewann. So mußten ihn in Berlin, wo er zunächst seine philologischen Studien unter Boeckh und Lachmann fortsetzte,
besonders die mannigfaltigen Sammlungen des Museums fesseln, für die er in Waagen und Gerhard bewährte Führer fand, während die dortigen geselligen und kunstwissenschaftlichen Kreise ihm weitere unmittelbare Anregung brachten. Hier begann er Entdeckungsreisen nach alten Denkmälern romanischen und germanischen Stils an Elbe und Weser, an welchen er zeichnend und messend sein künstlerisches Auge übte, während der Philologe, diese Arbeit ergänzend, die Inschriften zu deuten suchte.
Im Jahre 1849 sich das Recht der Lehrtätigkeit erwerbend, machte er am Werder’schen Gymnasium sein Probejahr als Lehramtscandidat durch, um sich hierdurch die Möglichkeit einer spätern akademischen Laufbahn zu sichern. Dann aber gab er sich ganz seinem Lieblingsstudium hin, bereicherte und befestigte seine Anschauungen auf Reisen in Mecklenburg, Schlesien, Sachsen, Ostpreußen und legte die Früchte seiner Studien zunächst in dem 1852 unter Eggers’ Redaction in Berlin erscheinenden „Deutschen Kunstblatte“ in einer Reihe von Aufsätzen und Kritiken nieder, welche die volle Anerkennung der bewährten Kunstforscher, in deren Kreise er sich bewegte, eines Kugler, Schnaase, Waagen etc., gewannen.
Eine Wanderung durch die engere Heimath gab ihm 1853 den Stoff zu seinem ersten größeren Werke, „Die mittelalterliche Kunst in Westphalen“, das er durch einen Atlas mit dreißig selbstgezeichneten Tafeln illustrirte. Diese Arbeit, welche die vollste Beherrschung des Gegenstandes und ein treffendes kritisches Urtheil bekundete und deshalb auch von Schnaase als das Muster einer Kunstmonographie bezeichnet wurde, brach für Lübke die Bahn, auf welcher er nun mit rastloser Thätigkeit weiter schritt. Sein nächstes Werk, „Die Vorschule zum Studiren der Kirchenbaukunst“, verfolgte den praktischen Zweck, die Laien, und zwar vornehmlich die Geistlichen, welche bei Erhaltung kirchlicher Kunstdenkmäler eine so schwerwiegende Rolle zu spielen berufen sind, für die mittelalterliche Kirchenbaukunst zu interessiren. Wie sehr er damit das Richtige getroffen, beweist der Umstand am besten, daß im Jahre 1873 bereits die sechste Auflage dieses Buches erscheinen mußte, dessen Bedeutung und Nutzen doch an den Auflagen allein weitaus nicht zu ermessen ist. – Vom Theil zum Ganzen aufsteigend, beschenkte Lübke im Jahre 1855 das Publicum mit seiner „Geschichte der Architectur“, welche, 1875 die fünfte Auflage erlebend und in’s Englische, Russische, Schwedische und Dänische übersetzt, dadurch auf’s Glänzendste bewies, daß ihr Erscheinen nicht nur ein Bedürfniß gewesen war, sondern auch, daß sie dasselbe in anregendster Weise zu befriedigen verstanden hatte.
Zunächst ward ihm nun die Aufgabe, die zweite Auflage von Kugler’s „Denkmälern der Kunst“ vorzubereiten, welche er durch eine neue Abtheilung über die Kunst der Gegenwart nach eigener Anschauung vervollständigte. Im Jahre 1857 ward Lübke berufen, seinen wissenschaftlichen Ueberzeugungen fortan nicht nur durch die Schrift, sondern auch durch das lebendige Wort Ausdruck zu geben, indem er an der Bauakademie den bekannten Architekten W. Stier als Lehrer zu ersetzen bestimmt ward. Doch hielt ihn dieses Lehramt von neuen Studien, Forschungen und Werken nicht ab.
In diese Zeit fällt auch seine wissenschaftliche Bereisung des Elsasses mit dem Architekten Lasius, deren Frucht, in Förster’s „Bauzeitung (Jahrgang 1860) niedergelegt, das Publicum mit den Denkmälern dieses schönen Strichs deutscher Erde und dem wesentlich deutschen Charakter derselben bekannt machte. Eine Reise nach Italien (1860) brachte den „Grundriß der Kunstgeschichte“ zur Reife, der, recht eigentlich bestimmt, weitere Laienkreise mit den Grenzen der kunstgeschichtlichen Entwickelung vertraut zu machen, diese schöne Bestimmung nun schon in sieben Auflagen (die letzte 1876) weiter und weiter verfolgt.
Hieran schlossen sich kunstgeschichtliche Texte zu photographischen Albums, welche Tizian’s, Paul Veronese’s und Michel Angelo’s Meisterwerke, sowie die Madonnen zum Gegenstande haben und in gleicher Weise bestimmt sind, der Kunst neue Freunde zu erobern wie die alten zu erfreuen. – Im Jahre 1861 gewann ihn Zürich als Lehrer für das eidgenössische Polytechnicum, an welchem er über die gesammte Kunstgeschichte zu lesen hatte. Hier ward er durch die besonderen localen Anregungen veranlaßt, die Glasmalerei in der Schweiz und die dortigen gemalten Oefen in den Bereich seiner Studien zu ziehen und Abhandlungen hierüber zu verfassen, in welchen er den Zusammenhang dieser Kleinkünste mit der großen Kunst erörterte und damit der zeitgemäßen Frage der Hebung des Kunstgewerbes näher trat.
Als ein neuer gewaltiger Schritt auf der Bahn seines Apostelthums auf dem Gebiete der Kunst erscheint aber die „Geschichte der Plastik“, welche sich würdig an seine „Geschichte der Architectur“ anreiht und 1871 in zweiter Auflage erschien. Hierher gehört der Zeitfolge nach ferner die Herausgabe des „Italienischen Tagebuchs“ von Max Nohl, sowie der „Geschichte der italienischen Renaissance“ von seinem Freunde Jac. Burckhardt.
Im Jahre 1866 erhielt Lübke den Ruf als Professor der Kunstgeschichte an das Polytechnicum und die Kunstschule in Stuttgart, wo er nun nicht nur vor dem zahlreichen Auditorium dieser Lehranstalten, sondern auch durch seine Vorlesungen für [838] die gebildeten Kreise der Residenz in vielseitiger Weise thätig ist. Mit seiner „Geschichte der französischen Renaissance“ (1868), welcher (1873) die „Geschichte der deutschen Renaissance“ folgte, betrat er in richtiger Erkenntniß dessen, was noth that, das Gebiet einer gerade unserer Zeit besonders sympathischen, unseren heutigen Anschauungen und Bedürfnissen sich besonders gut anschmiegenden Kunstepoche – eine That, deren praktische Bedeutung deshalb augenscheinlich ist.
Indem wir noch der Sammlung „Kunsthistorischer Studien“ Lübke’s (1869), seiner Bearbeitung der fünften Auflage von Kugler’s „Handbuch der Kunstgeschichte“, seines Textes zu dem photographischen Prachtwerke über P. Vischer und zu den Lichtdruckfacsimiles der Dürer’schen Kupferstiche gedenken, freuen wir uns beifügen zu können, daß seiner bewährten Feder neuerdings die Herausgabe des durch den Tod des Verfassers unvollendet gebliebenen Schlußbandes von Schnaase’s „Geschichte der bildenden Künste“ übertragen worden ist.
Einem so rastlosen, umfassenden und nutzbringenden Wirken konnte eine allseitige Würdigung nicht fehlen. Wenn wir daher anführen, daß Lübke neben Ordensauszeichnungen zum Mitgliede der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften, der kaiserlichen Akademie der bildenden Künste in Wien, der Académie Royale de Belgique, zum Ehrenmitgliede des amerikanischen Institute of Architecture in New-York und zum correspondirenden Mitgliede des Istituto archeologico in Rom ernannt worden ist, so haben wir damit nur einzelne Momente jener allgemeinen Anerkennung und Werthschätzung genannt, deren sich Lübke im engeren und weiteren Kreise erfreut und die sich durch solche Titel und Auszeichnungen weder vollständig ausdrücken noch verstärken läßt.