Ein Ereignis
[123] Es ist Morgen. Durch die Eisblumen auf den Fensterscheiben fällt das helle Sonnenlicht in die Kinderstube. Wanja, ein etwa sechsjähriger Junge, kurz geschoren, mit einer Nase wie ein Knopf, und seine Schwester Nina, ein vierjähriges pausbäckiges, für sein Alter etwas kleines Mädchen, erwachen und schauen sich durch die Gitter ihrer Bettchen böse an.
„Ja, schämt ihr euch denn nicht?“ brummt die Wärterin, „alle braven Leute haben schon Tee getrunken, und ihr könnt immer noch nicht die Augen aufkriegen…“
Die Sonnenstrahlen tanzen heiter auf dem Teppich, den Wänden und dem Kleide der Wärterin, als lüden sie ein, mit ihnen zu spielen. Aber die Kinder bemerken das nicht; sie sind heute übler Laune beim Erwachen. Nina wirft die Lippen auf, macht ein saures Gesicht und fangt an zu greinen:
„Tee–e–e! Marie! Te–e!“
Wanja zieht die Stirne kraus und grübelt, ob er nicht auch einen Grund zum Heulen finden könnte; er blinzelt schon mit den Augen und öffnet den Mund, in diesem Augenblick schallt aus dem Salon die Stimme der Mutter:
„Daß nicht vergessen wird, der Katze Milch zu geben! Sie hat jetzt Junge…“
Wanja und Nina machen lange Gesichter und sehen einander fassungslos an, dann schreien sie beide zugleich auf, springen [124] aus den Betten und laufen mit lautem Geschrei, barfuß und im bloßen Hemd, in die Küche. –
„Die Katze hat Kinder!“ rufen sie. – „Die Katze hat Kinder!“
In der Küche steht unter der Bank die kleine Kiste, in der Stepan sonst die Kohlen für den Kamin aus dem Keller heraufträgt. Aus der Kiste guckt die Katze hervor. Ihr graues Frätzchen drückt die äußerste Ermüdung aus. Die grünen Augen mit den schmalen schwarzen Pupillen blicken resigniert und sentimental. Man sieht es ihr an, daß zur Vollständigkeit ihres Glückes bloß „Er“ fehlt, der Vater ihrer Kinder, dem sie so rückhaltlos ergeben ist! Sie versucht zu miauen, öffnet das Maul weit, aber aus der Kehle kommt nur ein heiserer Ton… Man hört das Quieken der Jungen.
Die Kinder hocken sich vor die Kiste und beobachten die Katze, ohne sich zu rühren, mit angehaltenem Atem. Sie sind erstaunt und überwältigt und hören nicht, wie die Wärterin, die ihnen nachgelaufen ist, brummt. In beider Augen glänzt die höchste, aufrichtigste Freude.
In der Erziehung und im Leben der Kinder spielen die Haustiere eine bescheidene, aber zweifellos wohltuende Rolle. Wer von uns hat nicht seine Erinnerungen an große und starke, doch edelmütige Hunde, an Bologneser, die ein Parasitendasein führten, an Singvögel, die in der Gefangenschaft starben, an stumpfsinnige, doch hochmütige Truthähne, an sanfte, greise Katzen, die es uns nicht übelnahmen, wenn wir ihnen spaßhalber auf die Schwänze traten und die grausamsten Schmerzen zufügten? Mir scheint es sogar zuweilen, daß Geduld, Treue, Verzeihung und Aufrichtigkeit, die unseren Haustieren eigen sind, auf den kindlichen Geist viel [125] stärker und positiver einwirken, als die langen Moralpredigten eines trockenen und blassen deutschen Hauslehrers, oder als die schwer verständlichen Vorträge einer Gouvernante, die den Kindern zu beweisen sucht, daß das Wasser aus Sauerstoff und Wasserstoff besteht.
„Oh, wie klein sie sind,“ sagt Nina, macht große Augen und lacht hell auf. „Sie sehen ja wie die Mäuschen aus!“
„Eins, zwei, drei…“ zählt Wanja. „Drei Kätzchen! Also für mich eins, für dich eins und noch für jemand eins.“
„Mrrr… Mrrr…“ macht die Wöchnerin, geschmeichelt durch die Beachtung, die sie findet. „Mrrr…“
Als die Kinder sich die Kätzchen lange genug angesehen haben, holen sie sie aus der Kiste hervor und drücken sie in den Händen herum. Dann legen sie sie in den Schoß ihrer Hemdchen und laufen so in die Zimmer.
„Mama, die Katze hat Kinder gekriegt!“ schreien sie.
Die Mutter sitzt im Salon mit einem fremden Herrn. Als sie die Kinder erblickt, ungewaschen, unangezogen, mit aufgehobenen Hemden, wird sie verlegen und macht strenge Augen.
„Wollt ihr wohl…“ ruft sie, „schämt ihr euch nicht! Macht, daß ihr wegkommt, sonst gibt’s Schläge.“
Aber die Kinder achten weder auf die Drohungen der Mutter, noch auf die Gegenwart des fremden Herrn. Sie legen die Katzen auf den Teppich und beginnen ein ohrenzerreißendes Geschrei. Um sie herum streicht die Wöchnerin, kläglich weinend. Während hernach die Kinder in ihre Stube gebracht und angekleidet werden, während des Morgengebets und während sie ihren Tee trinken, sind sie die ganze Zeit über vom feurigen Wunsche beseelt, endlich einmal diese prosaischen [126] Verpflichtungen abzutun und wieder in die Küche zu laufen.
Die gewöhnlichen Beschäftigungen und Spiele werden vergessen.
Die Kätzchen verdunkeln durch ihr Erscheinen auf der Welt alles und treten auf wie eine lebendige Tagesneuigkeit und ein Ereignis. Wenn man Wanja oder Nina für jedes Kätzchen einen Zentner Bonbons oder tausend Groschenstücke geboten hätte, so hätten sie diesen Tausch ohne jedes Schwanken abgelehnt. Bis zum Mittag sitzen sie, ungeachtet der energischen Proteste von Köchin und Wärterin, in der Küche vor der Kiste und machen sich mit den kleinen Kätzchen zu schaffen. Ihre Gesichter sind ernst, wichtig und sorgenvoll. Sie beunruhigt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft der Kätzchen. Schließlich entscheiden sie, ein Junges soll zu Hause bei der alten Katze bleiben, um seine Mutter zu trösten, das zweite soll in die Sommerwohnung hinauskommen, und das dritte soll im Keller wohnen, wo es so viele Ratten gibt.
„Aber warum sehen sie nicht?“ wundert sich Nina, „ihre Augen sind ja blind, wie bei den Bettlern.“
Auch Wanja beunruhigt dieser Umstand. Er unternimmt es, einem Kätzchen die Augen zu öffnen, schnauft und pustet lange, aber seine Operation bleibt erfolglos. Nicht wenig beunruhigend ist auch, daß die Kätzchen sich hartnäckig weigern, das angebotene Fleisch und die Milch zu nehmen… Alles, was man vor ihre Schnäuzchen hinlegt, wird von der grauen Mama aufgefressen.
„Hör’ doch, wollen wir den Kätzchen Häuser bauen,“ schlägt Wanja vor, „sie müssen jedes ein eigenes Haus haben, und die Katze muß zu ihnen zu Besuch kommen.“
[127] In den Ecken der Küche werden alte Hutkartons aufgestellt und die Kätzchen dort einquartiert. Aber diese Auflösung der Familie erweist sich als verfrüht: Die Katze geht, immer mit dem sentimentalen und wehmütigen Gesichtsausdruck, von einer Schachtel zur anderen und trägt ihre Kinder wieder an die Stelle zurück.
„Die Katze ist ihre Mutter,“ bemerkt Wanja, „aber wer ist ihr Vater?“
„Ja, wer ist ihr Vater?“ wiederholt Nina.
„Ohne einen Vater können sie nicht bleiben.“
Wanja und Nina beraten lange, wer der Vater der Kätzchen sein soll, und schließlich fällt ihre Wahl auf ein großes, dunkelrotes Pferd mit ausgerissenem Schweif, das in der Kammer unter der Treppe samt anderen Spielzeugüberresten sein Dasein fristet. Es wird aus der Kammer gezogen und neben der Kiste aufgestellt.
„Hörst du!“ wird ihm befohlen, „hier bleibst du stehen und paßt auf, daß sie artig sind.“
Alles geschieht in der ernstesten Weise und mit dem Ausdruck der größten Besorgnis. Außer der Kiste mit den Katzenjungen wollen Wanja und Nina keine andere Welt mehr kennen. Ihre Freude weiß keine Grenzen. Aber auch schwere, qualvolle Augenblicke müssen durchlebt werden.
Kurz vor Mittag sitzt Wanja im Kabinett des Vaters und sieht aufmerksam auf den Tisch. Neben der Lampe, auf dem Stempelpapier, krabbelt ein Kätzchen. Wanja beobachtet seine Bewegungen und stößt es bald mit der Bleifeder, bald mit einem Zündhölzchen… Plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, steht neben dem Tisch der Vater.
„Was ist denn das?“ hört Wanja seine erzürnte Stimme.
[128] „Das… das ist ein Kätzchen, Papa…“
„Ich werde dir ein Kätzchen zeigen! Siehst du, was du unartiger Junge gemacht hast! Du hast ja all mein Papier verdorben!“
Zum großen Erstaunen Wanjas teilt Papa durchaus nicht seine Sympathien für die Kätzchen. Anstatt sich zu freuen und in Entzücken zu geraten, zieht er Wanja am Ohr und ruft: „Stepan! schaff’ dieses Ungeziefer weg.“
Auch beim Essen gibt es einen Skandal… Während des zweiten Ganges vernehmen die Speisenden plötzlich ein Gequieke, und nach näherer Untersuchung findet man unter Ninas Schürze ein junges Kätzchen.
„Nina! weg vom Tisch!“ ruft ärgerlich der Vater. „Den Augenblick werden die Katzen ins Wasser geworfen. Daß ich dieses Ungeziefer nicht mehr im Hause sehe!“
Wanja und Nina sind starr vor Schreck. Ganz abgesehen von seiner Schrecklichkeit, droht der Tod im Wasser die Katze und das hölzerne Pferd ihrer Kinder zu berauben und alle Pläne für die Zukunft zu zerstören, jene herrliche Zukunft, wo die eine Katze ihre alte Mutter trösten, die andere in der Sommerfrische leben und die dritte im Keller Ratten fangen soll. Die Kinder beginnen zu weinen und um Gnade für die Katzen zu flehen. Der Vater willigt ein, aber nur unter der Bedingung, daß die Kinder nicht mehr in die Küche gehen und keine Katze mehr anrühren.
Nach dem Essen treiben sich Wanja und Nina in allen Zimmern herum und vergehen vor Sehnsucht. Das Verbot, in die Küche zu gehen, bringt sie schier zur Verzweiflung. Sie wollen nicht einmal Süßigkeiten haben und sind eigensinnig und unartig gegen die Mutter. Als am Abend Onkel Petruscha kommt, ziehen sie ihn beiseite und beklagen sich [129] bitter über den Vater, der die Katzen ins Wasser werfen wollte.
„Onkel Petruscha,“ bitten sie, „sage Mama, sie soll die Kätzchen in die Stube bringen. Sag’s ihr.“
„Schön, schön!“ wehrt sich der Onkel, „schon gut!“
Onkel Petruscha kommt gewöhnlich nicht allein. Mit ihm erscheint Nero, eine große dänische Dogge mit hängenden Ohren und einem Schwanz, so hart wie ein Stock. Dieser Hund ist schweigsam, finster und voller Selbstbewußtsein und Würde. Den Kindern schenkt er nicht die geringste Beachtung, und wenn er an ihnen vorbeigeht, schlägt er mit dem Schwanze auf sie los, als wären sie Stühle. Die Kinder hassen ihn von ganzer Seele, aber dieses Mal bezwingen sie ihren Widerwillen und lassen sich von gewissen praktischen Erwägungen bestimmen.
„Weißt du was, Nina?“ sagt Wanja und reißt die Augen weit auf, „wollen wir doch lieber statt des Pferdes den Nero Vater sein lassen! Das Pferd ist doch tot, und der ist ganz lebendig!“
Den ganzen Abend erwarten sie die Zeit, wo Papa sich an den Kartentisch setzen wird und man Nero unbemerkt in die Küche bringen kann… Jetzt endlich setzt sich Papa zum Spiel, Mama macht sich am Samowar zu schaffen und gibt nicht Acht auf die Kinder… Der Augenblick ist günstig…
„Wollen wir gehen!“ flüstert Wanja der Schwester zu.
Aber in diesem Moment kommt Stepan herein und meldet lachend:
„Gnädige Frau, der Nero hat die kleinen Katzen aufgefressen!“
Nina und Wanja erbleichen und sehen Stepan erschrocken an.
[130] „Jawohl,“ lacht der Diener, „er ging an die Kiste und fraß sie auf.“
Die Kinder glauben, daß jetzt alle Leute, soviel ihrer im Hause sind, in Aufregung geraten und sich auf den Bösewicht Nero stürzen werden. Aber die Leute sitzen ganz ruhig auf ihren Plätzen und wundern sich bloß über den Appetit des großen Hundes. Papa und Mama lachen… Nero geht um den Tisch, wedelt mit dem Schwanz und leckt sich selbstgefällig das Maul… Unruhig ist nur die Katze. Mit gestrecktem Schwanz geht sie in dem Zimmer umher, schaut mißtrauisch die Menschen an und miaut wehmütig.
„Kinder, es ist schon neun! Schlafenszeit,“ ruft Mama.
Wanja und Nina legen sich zu Bett, weinen und denken noch lange an die tiefgekränkte Katze und an den grausamen, frechen und unbestraften Nero…