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Titel: Ein Besuch in Hubertusburg
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, 12, S. 151–154, 161–164
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Besuch in Hubertusburg.
Bau des Schlosses. – Seine Glanzperiode. – Die Zerstörung. – Der Friede. – Das Lazareth. – Das Magazin. – Erster Eintritt in’s Schloß.
– Die vereinigten sächsischen Straf- und Versorganstalten.

Wohl selten hat ein Schloß ein so wechselvolles Geschick gehabt, als Hubertusburg. Welche Gegensätze! – Das glänzende, prunkvoll ausgeschmückte Lustschloß August des Starken und seines Nachfolgers und – das geplünderte, zerstörte Hubertusburg im siebenjährigen Kriege. Einstmals Schauplatz der üppigsten Hof- und Jagdfeste und dann – Sterbestätte von vielen tausend verwundeten Kriegern. Vorher bewohnt von den Herren der Erde und jetzt – eine Wohnstätte körperlich und geistig elender Menschen. – Ich beschloß, dieses geschichtlich merkwürdige und durch seine Straf- und Versorgungsanstalten so berühmte Gebäude genauer kennen zu lernen. Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn brachte mich bald nach Luppe-Dahlen, dem Hubertusburg am nächsten liegenden Bahnhofe. Es war ein schöner Morgen – ich wartete deshalb die Post nicht ab, sondern pilgerte zu Fuß dem Schlosse zu. Der einsame, fast zwei Stunden lange, zum Theil durch Wald und an Teichen vorbeiführende Weg gab mir genug Muße, die Geschichte der Hubertusburg an meiner Seele vorbeiziehen zu lassen.

Auf Befehl August des Starken, der in der mutzschner Haide oft Parforcejagden abhielt, wurde 1721 der Grundstein zum Jagdschloß Hubertusburg gelegt und schon im Jahre 1724 bezog der Kurprinz Friedrich August das in großartigem Style und mit ungeheueren Kosten erbaute Schloß. In vollendeter Pracht, von den Zeitgenossen unvergleichlich genannt, stand es erst 1742 da, nachdem der Graf Brühl die Oberleitung des Baues übernommen. Besonders zeichneten sich durch Glanz und Herrlichkeit die katholische Capelle, der große und kleine Hubertussaal aus. Prachtvolle, mit orientalischem Luxus abgehaltene Hof- und Jagdfeste, schimmernde Aufzüge bilden die Hauptgeschichte des Schlosses während seiner kurzen Glanzperiode und machten es zum Versailles des sächsischen Hofes.

An einem dieser Feste stiftete Friedrich August II., bei Gelegenheit seines Geburtstages und um seine tapfern Officiere, durch deren Hülfe er König von Polen geworden war, zu ehren, den Militair-St. Heinrichsorden. Der benachbarte Horstsee gab genug Veranlassung zu Wasserfahrten und Fischerfesten, allein um hierin ebenso Bewundernswerthes, wie in Moritzburg, veranstalten zu können, fehlte es an der erforderlichen Anzahl prachtvoller Gondeln und an einer Verbindung des See’s mit dem Schloßgarten. Auch dem sollte abgeholfen werden. Der Horstsee, dessen Umfang eine Stunde Wegs beträgt, sollte mit seiner nächsten Umgebung durch eine Mauer eingeschlossen, mit einer Flotille besetzt und mit dem Schloßgarten verbunden werden. Die nachfolgende Kriegszeit machte diese Verschönerungsidee und bald auch die ganze Herrlichkeit zu Nichte.

Siebzehn Jahre hatte das Schloß in seiner Vollendung, seinem Glanze gestanden, da durchtobten Preußische Kriegshaufen die Hubertusburg, der heitern Pracht ein klägliches Ende machend. Preußens großer König nahm Rache für sein von Russen und Sachsen zerstörtes Lustschloß Charlottenburg. Und was der rohe Soldatenhaufe übriggelassen, das durchwühlten schmutzige Berliner Juden, die damaligen Münzpächter Ephraim und Itzig, an die es von dem Hauptmann Quintus Icibius, der mit der Plünderung beauftragt und dafür zum Major befördert wurde, für 72,000 Thlr. verkauft worden war. Das Kupferdach wurde abgerissen, der Thurm seiner großen Glocken und seiner kunstreichen Uhr beraubt. Aus dem gewonnenen[WS 1] Metalle, der Thurm hatte allein 90 3/4 Ctr. Kupfer dazu geliefert, wurde in den Trotzergewölben der Pleißenburg in Leipzig schlechtes Geld, die sogenannten Ephraimiten, geprägt. Alles, was nur einigermaßen werthvoll war, wurde fortgeschleppt. Die starkvergoldeten Schlösser und Bänder, Riegel und Beschläge der Thüren und Fenster wurden abgerissen, die schweren Vergoldungen an Thüren und Wänden abgekratzt und dann chemisch zersetzt. Aus diesen Vergoldungen allein sollen die Juden gegen 12,000 Thlr. gewonnen haben.

Reiche Beute versprach ihnen die prachtvolle katholische Capelle. Schon wollten sie Hand an’s Heiligthum legen, da kam, auf inständiges Bitten des damaligen Hofcaplans, der Befehl Friedrichs, die Plünderung aufzuheben, und die schmutzigen Juden waren geprellt.

Einige Jahre später – und in den Räumen der Hubertusburg versammelten sich die Bevollmächtigten der kriegführenden Mächte, um im Hubertusburger Frieden dem geplagten Deutschland die ersehnte Ruhe zu geben. Als die bevollmächtigten Minister im Schlosse ankamen, fand sich im ganzen großen Hauptgebäude kein Zimmer, das sie hätte aufnehmen können. Nach langem Suchen fand man in der Mitte des dem Hauptpalais gegenüberliegenden ersten Rundflügels einen Saal, in dem die Verhandlungen stattfinden konnten.

Hier kam den 15. Februar 1763 der Friede zu Stande und am 1. März wurden die Ratificationsurkunden in diesem Friedenssaale ausgewechselt. So wurde ein Krieg beendet, von dem Friedrich der Große selbst sagt, daß er ihm etwa 240,000, seinen Feinden aber weit über eine halbe Million Menschen gekostet habe. Längere Zeit stand nun die Burg öde und leer.

Ihre Dächer sind zerfallen,
Und der Wind streicht durch die Hallen,
Wolken ziehen drüber hin. –

Nach und nach wurde das Schloß nothdürftig restaurirt und einzelnen verarmten adeligen Familien als Gnadenwohnung überlassen. Da kam die Napoleonische Zeit, die weitläufigen Räume des Schlosses wurden zum Lazareth benutzt und da, wo früher glänzende Freudenfeste abgehalten wurden, da rangen verwundete Krieger mit dem Tode. Auch diese Zeit rauschte vorüber. Die Todesseufzer verstummten. – Im benachbarten Walde grub man ungeheure Gräber und scharrte die Opfer des großen Kaisers hinein. Von etwa 9000 Soldaten, die in dieses Lazareth gebracht wurden, sind kaum 1000 zurückgekehrt, die übrigen harren des großen Appells. Jetzt kennt man diese Begräbnißstätten nur daran, daß dort das Getreide üppiger wächst, und ein speculativer Sohn der Neuzeit dachte sogar daran, die Gräber zu öffnen, um – Knochenmehl daraus gewinnen zu können.

[152] Wieder wechselte die Scenerie in Hubertusburg. Die ungeheueren Räume benutzte man zum Getreidemagazin. Im ehemaligen glänzenden Hubertussaale, der an Pracht seines Gleichen gesucht, wurde Malter an Malter aufgehäuft. Einstens tanzten da feine Damen mit Reifröcken und schmucke Cavaliere mit gepuderten Zöpfen – jetzt machen sich dort Kornmäuse lustig. Die praktische Neuzeit bahnte sich allmählich an. Eine Steingutfabrik entstand und verschwand wieder. Die Gnadenbewohner mußten das Schloß räumen und die vereinigten sächsischen Straf- und Versorganstalten wurden hineinverlegt. Nun dürfte man schwerlich einen zweiten Ort finden, der, wie Hubertusburg, soviel körperliches und geistiges Elend umfaßt. Die vorhandenen Räume langten bald nicht mehr aus, neue Gebäude entstanden. Eine evangelische Kirche wurde gebaut, da der Versuch, die katholische Kapelle in eine Simultankirche zu verwandeln, scheiterte. In den Räumen, die einst von hohen Herren und lustigen Edelleuten bewohnt wurden, büßen jetzt weibliche Verbrecher ihre Strafzeit ab. Und in dem Räume, in dem einst der Friede geschlossen wurde, haben unglückliche Blödsinnige ein friedliches Asyl gefunden! – So ist’s noch jetzt. – Wer weiß, wie es in fünfzig Jahren dort aussieht! Wer weiß, ob nicht einmal, wenigstens zum Theil, die alte Pracht wiederkehrt? – Hubertusburg steht etwas über hundert Jahr und welche inhaltsreiche Geschichte hat es!

So sinnend war ich durch den Wald geschritten, durch denselben, in dem die berühmten Jagden abgehalten wurden. Freilich ist viel gelichtet worden seit damals, die Bäume, die jetzt dastehen, haben jene Zeit nicht gesehen und anstatt des Ebers und des Hirsches hegt der Walde nur Hasen und Rehe.

Jetzt bog ich aus dem Wald hinaus und die Hubertusburg lag vor meinen Blicken. Auf ihre Zinnen schien die Morgensonne, sie glänzten aber nicht, wie ehedem, das glänzende Dach war ja abgerissen und in schlechtes Geld verwandelt worden.

Bald war Wermsdorf, ein großes, dicht bei Hubertusburg liegendes Dorf, erreicht; eine schöne, breite Allee führt von da bis zu dem Thore des Schlosses, dessen sämmtliche Gebäude und Grundstücke von einer ziemlich hohen Mauer umgeben werden. Jetzt stand ich vor’m Thore, es öffnete sich, ich trat ein und – sah vor mir ein zweites verschlossenes Thor. Deutliche Zeichen, daß ich mich auf dem Boden einer Strafanstalt befand, die ihre Ausgänge mit möglichster Sorgfalt verwahrt; las ich doch auch durch das Thorgitter am gegenüberstehenden Hause die Aufschrift: „Arbeitshaus.“ Ein uniformirter Aufseher fragte mich das übliche: „Wer? – Zu Wem?“ und nachdem meine Antwort befriedigend ausgefallen und ich der Direktion gemeldet worden war, wurde ich über den riesigen Schloßplatz hinweg in die Räume der Anstalt geführt. Ich besuchte mit meinem Begleiter zunächst die katholische Kirche, die mit ihrer Pracht aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt, während alle anderen Herrlichkeiten verschwunden sind. Sie befindet sich im Hauptpalais und nimmt daselbst die ganze linke Hälfte des vorderen Hauptflügels ein. Die Wände sind mit marmorartig geglättetem Gyps bekleidet, der Fußboden ist von getäfeltem Marmor. Der Hochaltar und die Kanzel sind mit Balthasar Permosers meisterhaft ausgeführten Gypsstatuen geschmückt. Neben dem Hochaltare stehen noch zwei Seitenaltäre, die durch Gemälde von Ludwig Sylvester verziert sind.

Außerdem befinden sich in der Kirche noch vier Gemälde von Torelli und zwei von unbekannten Meistern, aber von hohem Werthe; sie stellen Ignatius von Loyola und Franciscus Xaverius dar, und sind ein Geschenk des Papstes an die Kirche. Die Decke ist durch ein riesiges Frescogemälde geschmückt, für das der Maler Gruno 60,000 Thaler erhalten haben soll. Man sieht den heiligen Hubertus, den Schutzpatron des Schlosses, in Ehrfurcht niedersinken vor dem Bilde des Gekreuzigten, das ein auf hohem Felsen ihm erschienener Hirsch in seinem Geweihe trägt. Der Kunstwerth des ganzen Gemäldes ist nicht bedeutend, da der Hirsch ganz unnatürlich ist, und Hubertus eine Stellung einnimmt, in der er sich in der Wirklichkeit kaum erhalten könnte. Zu den Kostbarkeiten der Kirche gehört noch der aus cararischem Marmor gehauene Taufstein, welcher 6000 Thaler gekostet haben soll.

Die übrigen Räume des Hauptgebäudes werden nur für das Magazin benutzt. Ich durchging nun flüchtig die verschiedenen Anstalten Hubertusburgs. Zunächst besuchte ich die Strafanstalten. Wir traten zuerst in das Landesgefängniß, welches für solche Verbrechen bestimmt ist, die eine längere, als dreimonatliche Gefängnißhaft nach sich ziehen, in der Regel aber nach der öffentlichen Meinung nicht entehrend sind. Es findet hier Einzelhaft statt. Der Detinirte darf sich, wenn er Mittel hat, nach Belieben beschäftigen und beköstigen, so weit es die Hausordnung gestattet, und wird seiner bürgerlichen Stellung entsprechend behandelt.

Wir gingen nun in das Arbeithaus für weibliche Verbrecher. Es besteht, wie das Landesgefängniß, seit 1838. Natürlich ist hier die Disciplin schärfer und die Arbeit anstrengender. Ein Theil der durch seine graue Kleidung leicht kenntlichen Sträflinge war mit Haus- und Gartenarbeit beschäftigt, die andern arbeiten in großen Sälen. Beim Durchgehen dieser Räume sah ich Einzelne mit Nähen, Andere mit Cigarrenmachen, wieder Andere mit Strohflechten beschäftigt. Die meisten dieser Damen waren wegen Eigenthumsvergehen in das Arbeitshaus gebracht worden.

Außer diesen beiden Strafanstalten befindet sich in Hubertusburg ein Pensionair-Corrections-Institut. Es ist zur Besserung meist junger, den gebildeten Ständen angehöriger Personen, die dem Trunke oder einem ausschweifenden Leben ergeben sind, eingerichtet. Die Pensionaire werden nur auf Wunsch der Eltern, Vormünder oder Verwandten eingeführt, und unter steter Aufsicht gehalten.

Unter den Versorgungsanstalten ist am ältesten das Landeshospital. Es ist eine Ruhestätte für arme, alte, gebrechliche Personen; die Hospitäler zu St. Jacob in Dresden und St. Georg in Döbeln sind damit vereinigt worden. Die Leutchen spazierten in ihrem Garten herum, und sahen recht wohl und vergnügt aus. In neuerer Zeit wurde diesem Hospital eine zweite Abtheilung hinzugefügt, ein sogenanntes Pfleghaus, welches insbesondere für solche Personen bestimmt ist, die an einem habituellen Gebrechen leiden, welches eine Heilung nicht erwarten läßt. Der jährliche Pflegebeitrag beträgt in der ersten Abtheilung 50, in der zweiten 24 Thaler.

Das Landeskrankenhaus ist als ein Muster für derartige Anstalten hinzustellen. Tüchtige ärztliche Oberleitung, hinreichende und vortrefflich eingerichtete Räumlichkeiten, gesunde Luft sind die Hauptvorzüge dieser Anstalt, der mancher schwere Kranke Gesundheit und Leben verdankt. Der Verpflegungsbeitrag ist wöchentlich 1 Thaler; verlangt der Patient ein besonderes Zimmer, müssen 2 Thaler gezahlt werden. Personen, deren Uebel ansteckend und unheilbar ist, werden in ein von allen übrigen Gebäuden isolirtes Haus gebracht, in das sogenannte Siechhaus. Nachdem mein Begleiter mir die einfache, aber sehr freundliche evangelische Kirche gezeigt, führte er mich in das Versorgungshaus für unheilbare oder doch minder besserungsfähige Geisteskranke weiblichen Geschlechts. Ein Institut, das in seiner Einrichtung kaum von einer zweiten derartigen Anstalt übertroffen werden dürfte.

Es bildet einen Häusercomplex, der von den übrigen Anstaltsgebäuden ziemlich abgesondert liegt. Ein großer, schön eingerichteter Garten, in dessen Mitte sich ein Hügel erhebt, von dem aus der Besucher eine idyllische Aussicht über den nahen Horstsee und seine Umgebung genießt, grenzt dicht an die Anstaltsgebäude. Gegen 500 Geisteskranke haben hier ein Asyl gefunden.

Der Anblick so vieler Unglücklichen ist tief ergreifend. Ein Theil hatte sich auf die grünen Rasenplätze gelagert, Andere gingen im Garten spazieren, noch Andere hatten sich isolirt und ergingen, sich in ihren irrsinnigen Gedanken. Fast Allen sah man die Geistesstörung an, die unstät rollenden Augen zeigten deutlich, daß das Licht der Vernunft erloschen war.

Aus einem der naheliegenden Gebäude erscholl ein entsetzliches Geschrei. Unser Weg führte da vorüber. Am vergitterten Fenster stand ein vom Dämon der Tobsucht befallenes Weib, sie streckte ihre Arme nach mir und stieß thierähnliche Laute aus. Unwillkührlich fielen mir die Worte von Ernst von Feuchtersleben ein: „Tief versteckt ruht in der Brust eines Jeden der Funke des Wahnsinns, – Hüte Dich, daß Du ihn nicht weckest.“ – Mir war’s, als streckte jetzt das Gespenst des Wahnsinns seine Arme drohend mir entgegen – ich ging entsetzt vorüber.

Mein Begleiter erzählte mir, daß in dieser, wie in den übrigen Krankenanstalten Hubertusburgs auch der Aermste Aufnahme findet. Kann er den sehr geringen Beitrag nicht zahlen, so tritt die Heimathgemeinde für ihn ein.

Wir kamen an der großen Anstaltsküche vorbei, aus der täglich mehr denn tausend Menschen gespeist werden. Reinliche, sich

[153]

Schloß Hubertusburg.

[154] durch gute Aufführung auszeichnende Sträflinge werden mit als Küchengehülfinnen benutzt.

Sämmtliche Anstalten hatte ich jetzt gesehen; nur die mich am meisten interessirende, das Erziehungsinstitut für Schwach- und Blödsinnige, blieb mir noch zu besuchen übrig. Sachsen hat den schönen Ruhm, in der Errichtung solcher Institute, deren hohe Aufgabe die Linderung menschlichen Elends ist, mit leuchtendem Beispiele andern deutschen Ländern vorangeschritten zu sein. In Sachsen wurde das erste Taubstummen-Institut, zu Leipzig 1778 gegründet; Sachsen besaß in Deutschland das erste Irrenhaus, Waldheim 1787 – und wiederum war es Sachsen, wo im Jahre 1846 auf Antrag des Landtags die erste Anstalt zur Erziehung und Bildung blödsinniger Kinder auf Staatskosten in’s Leben gerufen wurde, während sich alle übrigen, zum Theil schon früher gegründeten derartigen Anstalten in den Händen von Privatpersonen befinden. In dieses Institut trat ich jetzt ein. Doch – über diesen Besuch werde ich in der nächsten Nummer dieses Blattes genauer Bericht erstatten.

Für jetzt noch ein Wort über die Gesammtbevölkerung Hubertusburgs. Gegenwärtig befinden sich in den verschiedenen Anstalten dieses Schlosses etwa 1020 Individuen. Direktor sämmtlicher Anstalten ist der Hauptmann von Bünau, ein Mann, in dessen Charakter sich Ernst und Humanität auf’s Schönste vereinen. Außerdem befinden sich in Hubertusburg zwei evangelische und ein katholischer Geistlicher, drei Aerzte, drei Lehrer, ein Hausverwalter, ein Wirthschaftsinspector, vier Expedienten, 27 Aufseher und Aufseherinnen und etwa 50 Wärter und Wärterinnen. Hierzu kommen noch einige Professionisten. Diese Andeutungen und die beigegebene, ganz genaue Abbildung von Hubertusburg mögen genügen, um einen Begriff von der Großartigkeit dieser Anstalten zu geben.


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Zweiter Artikel.
Eintritt in das Erziehungsinstitut für Schwach- und Blödsinnige. – Erste Eindrücke. – – Innere und äußere Einrichtung der Anstalt. – Der Gang des Lehrverfahrens. – Erziehung der Blödsinnigen von der ersten Uebung der Sinne bis zum Schulunterricht. – Oberlehrer Gläsche. – Ein Leichenzug.

Der Friedenssaal, jetzt bewohnt von Hospitaliten.

Wir traten in das Institut ein. – Dem Leiter desselben, Herrn Oberlehrer Gläsche, vorgestellt, lernte ich in ihm einen ebenso liebenswürdigen, wie für seinen Beruf hochbegeisterten Mann kennen. Ohne Weiteres führte er mich in das Aufenthaltszimmer der Kinder, an welche soeben das Frühstück vertheilt wurde. Ein erschütternder Anblick, die Menschennatur in ihrer tiefsten Verkommenheit zu sehen. Da saßen oder standen etwa vierzig der unglücklichsten aller Kinder. Die meisten zeigten einen fast thierischen Appetit, gierig verschlangen sie ihr Butterbrod; einige versuchten sogar, nachdem sie ihre Portion verschlungen, ihren langsamer essenden Nachbarn das Brod zu entreißen. Auf einem Fenster lag ein Stück Seife, plötzlich ergriff es ein Knabe und verzehrte es, ehe er daran verhindert werden konnte, mit dem größten Behagen.

Herr Oberlehrer Gläsche theilte mir mit, daß der Appetit mancher seiner Zöglinge oft ein so abnormer sei, daß sie Alles, was ihnen vorkäme, selbst die ekelerregendsten Sachen, mit demselben Wohlgefallen verzehrten, wie genießbare, wohlschmeckende Gegenstände. Mein fremdes Gesicht hatte die Aufmerksamkeit der Meisten erregt. Viele kamen auf uns zu, liebkosten ihren Lehrer, zu dem sie eine rührende Anhänglichkeit zeigten, und fragten mich auch, wie ich heiße und woher ich komme. Besonders erregten meine Brille und glänzende Uhrkette ihre Aufmerksamkeit. Die Stumpfsinnigsten unter ihnen zeigten dagegen auch nicht den entferntesten [162] Antheil an unserer Gegenwart. Ich rief sie, griff sie an, gab ihnen Zucker zu essen – sie glotzten mich mit stierem Auge an oder gaben thierähnliche Töne von sich. Eigentümlich sind die Kopfbildungen dieser armen Kinder. Während einige Kinder ungemein große Kopfe, sogenannte Wasserköpfe haben, zeichnen sich die anderer durch ungemeine Kleinheit aus. So war ein etwa zehnjähriger Knabe zugegen, dessen Kopf nicht größer, als der eines einjährigen Kindes war und ungemeine Ähnlichkeit mit einem Vogelkopfe hatte. Der Kopf eines andern Knaben glich einem Todtenkopfe, so tief lagen die Augen darin und so wenig trat die Nase hervor. Fast Alle hatten etwas Abnormes an sich; ich bemerkte dies nicht nur an der Kopfbildung, sondern auch an der übrigen Körperbeschaffenheit. Wie der Geist, so war auch der Leib schlaff. Stiere Augen, dicke, schwulstige Lippen, lange, entweder unförmlich dicke oder ganz schwache Arme, aufgetriebene Bäuche, verkrüppelte Füße bemerkte ich bei vielen dieser unglücklichen Geschöpfe. Die Meisten hatte ein stark scrophulöses Aussehen. Ein einziger Blick auf diese Armen ließ die ungeheuere Aufgabe ahnen, die sich hier die Erziehung gestellt hat. Vortheilhaft zeichneten sich die Kinder aus, die schon längere Zeit den Segen dieser Anstalt genossen hatten. Das körperliche Aussehen war frischer; die Augen hatten den stumpfsinnigen Ausdruck verloren, es sprach Leben aus ihnen. Die Kinder waren sich des Gebrauchs ihrer Glieder bewußt, die Sprache war verständlich, der Gedankenkreis zwar beschränkt, aber die Kinder zeigten, daß die Anstalt bald ihren Zweck an ihnen erreicht haben würde. Das Frühstück war beendet. Die Kinder eilten in den Turngarten hinab, um ein Weilchen in frischer Luft herumzuspringen. Wir folgten ihnen und traten auf einen großen, geräumigen, theils mit Rasen, theils mit Sand bedeckten Turnplatz. Während sich hier die Kinder unter Aufsicht der Lehrer und Wärter herumtummelten, erzählte mir Herr Oberlehrer Gläsche Einiges aus der Geschichte des Institutes. Ein Menschenfreund, der Bezirksarzt Hr. Dr. Ettmüller in Freiberg, behandelte in der 1843 abgehaltenen Versammlung sächsischer Aerzte die Sache der Blödsinnigen-Erziehung in einem längern Vortrage und lenkte die Aufmerksamkeit der Regierung auf diesen Gegenstand. Auf dem Landtage 1846 kam diese Sache wieder zur Sprache und noch im Laufe desselben Jahres begründete die Regierung diese Anstalt. Der Grund, warum man diese Anstalt in Hubertusburg einrichtete, lag darin, daß hier die Räumlichkeiten schon vorhanden und die andern nothwendigen Einrichtungen in Betreff der Bäder, Kost, Verpflegung u. s. w. am leichtesten getroffen werden konnten. Die Anstalt wuchs mehr und mehr, es wurden neue Lehrkräfte gewonnen und während bisher nur Knaben in dieselbe aufgenommen wurden, hat man neuerdings angefangen, auch blödsinnige Mädchen in das Institut aufzunehmen. Auch Ausländer, d. h. Nichtsachsen, werden jetzt gegen entsprechendes Honorar aufgenommen, Gegenwärtig zählt die Anstalt etwa vierzig Pfleglinge, welche von drei Lehrern erzogen werden. Zur speciellen Beaufsichtigung der Kinder sind ein Wärter und drei Wärterinnen da.

Die Herren Lehrer hatten nun die Güte, mir ihre Pfleglinge in stufenweiser Reihenfolge vorzuführen. Muß irgendwo individualisirt werden, so ist dies bei der Erziehung der Blödsinnigen besonders am Orte, da jeder dieser Unglücklichen gleichsam eine Classe, eine Abtheilung für sich bildet und demnach eigens beobachtet und behandelt werden muß. Im Allgemeinen unterschieden die Herren drei Grade des Blödsinns.

Der erste oder geringste Grad könnte auch mit Schwachsinnigkeit oder Dummheit bezeichnet werden.[1] Die auf dieser Stufe sich befindenden Individuen unterscheiden Bilder, vermögen die ihnen bekannten Gegenstände nach Stoff, Farbe, Ort, Form zu beschreiben, haben Gefühl für Recht und Unrecht und sind befähigt für die Anfänge des gewöhnlichen Elementarunterrichts. Der Grund, warum diese die öffentliche Schule nicht mit Erfolg besuchen können, liegt oft lediglich darin, daß der Lehrer bei seiner zahlreichen Classe sie nicht genug berücksichtigen kann; er kann nicht genug individualisiren.

Der Blödsinnige zweiten oder mittleren Grades kennt auch noch die Dinge seiner Umgebung, vermag sie auch wohl zu nennen, aber unterscheidet nur wirkliche, nicht abgebildete Gegenstände. Nahenden Gefahren weicht er, wenn auch ungeschickt, aus. Er empfindet Freude und Schmerz, wird ängstlich in fremder Umgebung und fühlt sich unbehaglich, wenn er sich verunreinigt hat.

Die Sinne des auf letzter, tiefster Stufe Stehenden sind ganz ungeübt, er sieht und hört nicht, ihm gehen daher auch alle Vorstellungen ab. Er spricht nicht, sondern stößt nur unarticulirte Laute aus. Er flieht keine Gefahr. Herr Oberlehrer Gläsche erzählte mir hierbei, daß einer dieser Unglücklichen sich die Hand am Ofen verbrannt und dennoch in nächster Minute wieder den glühenden Ofen berührt habe. Diese Armen vermögen weder allein zu essen, noch sonst irgend ein Bedürfniß anzuzeigen. Freude kennen sie nicht. Ihr Gefühlsvermögen kann nur durch heftige äußere Eindrücke erregt, werden. Sie sind meiner Meinung nach als geistig todt zu betrachten. Die Grenzen dieser drei Grade lassen sich natürlich nicht haarscharf bestimmen. Die meisten Hubertusburger Pfleglinge stehen auf der ersten und zweiten Stufe, sie sind bildungsfähig, während die auf tiefster Stufe sich befindenden höchstens, man erlaube mir den Ausdruck, dressurfähig sind. Diesen tiefsten Grad des Blödsinns zu heben ist ein Problem, dessen Lösung meines Wissens bis heute noch nicht gelungen ist. Ich glaube daher, alle die Anstalten, die sich dieser hohen Sache widmen, würden ihre schöne Aufgabe, der Menschheit zu nützen, vollkommener erfüllen, wenn sie sich nur mit der Erziehung der auf erster und zweiter Stufe Stehenden befaßten, für die auf unterster Stufe sich Befindenden aber nur Pfleg- und Versorganstalt wären. Man rette zunächst die geistig Todtkranken und dann versuche man, die Todten zu erwecken.

Da Körper und Geist in genauester Wechselwirkung stehen und da bei vielen dieser unglücklichen Kinder der krankhafte Körper die Ursache des kranken Geistes ist, so ist es ganz natürlich, daß bei der Erziehung dieser Kinder Beides mit gleicher Wichtigkeit behandelt werden muß. In Hinsicht darauf ist die Hubertusburger Anstalt auf das Trefflichste bestellt. Vor Allem leiten tüchtige Männer das Erziehungswerk und wachen mit großer Treue über die Pflege ihrer Zöglinge. Mit größter Sorgfalt ist Alles in der Anstalt auf das Zweckmäßigste eingerichtet. Die Luft ist in allen Räumen gesund und rein, ich fand alle Zimmer mit den nöthigen Ventilatoren versehen. Die Zimmer selbst sind sehr geräumig und haben eine Höhe von 14 F. Sommer und Winter gehen die Kinder unter Aufsicht eines Lehrers und der Wärterinnen täglich wenigstens eine Stunde spazieren. Erlaubt dies die Witterung nicht, so bewegen sie sich auf den langen, breiten Corridors, die sich an die Wohnzimmer anschließen. Außerdem wird jeden Tag eine Stunde geturnt. Die Kleidung der Kinder ist zweckmäßig und nett, ohne uniformähnlich zu sein. In den Schlafsälen fand ich, ich wiederhole es nochmals, die größte Reinlichkeit und ungemein reine und frische Luft, Das Lager der Kinder besteht aus Matratze, Betttuch, wollenen mit leinenen Ueberzügen versehenen Decken. Betten fand ich sehr wenige und diese waren, wie mir Herr Oberlehrer Gläsche mittheilte, auf Anordnung des Arztes gegeben worden. In jedem Saale schläft zur Aufsicht eine Wärterin, bei den größeren Knaben schläft der Wärter. Dicht neben den Schlafsälen befindet sich die Wohnung des Oberlehrers und erleichtert diesem somit die Ueberwachung und Beobachtung seiner Pfleglinge während der Nacht. Eine solche immerwährende Beobachtung ist besonders deshalb wichtig, weil viele dieser Unglücklichen Neigung zur Onanie zeigen. Die Bettwäsche wird monatlich, die Leibwäsche wöchentlich zwei Mal gewechselt, bei unreinlichen Kindern so oft es nothwendig ist. Die Kinder baden wöchentlich ein Mal, in besonderen Fällen werden auf Anordnung des Arztes besondere Curbäder angewendet. Während des Sommers baden die größeren Knaben, natürlich unter sorgfältigster Aufsicht, in einem der benachbarten Teiche, da kein fließendes Wasser in der Nähe ist. Die Beköstigung ist sehr zweckmäßig und wird fortwährend vom Hausärzte überwacht. Des Morgens erhalten die Kinder Eichelkaffee mit Semmel, um 10 Uhr etwas Butterbrod. Des Mittags bekommen sie nahrhaftes Gemüse und wöchentlich drei Mal Fleisch, um 4 Uhr abermals Butterbrod oder eine leichte Mehlspeise. In besonderen Fällen, etwa bei Krankheiten, wird natürlich auch entsprechende [163] Nahrung gegeben. Das Trinkwasser fand ich gesund und wohlschmeckend. Alles ist vortrefflich, aber eins fiel mir auf, daß nämlich die Kinder, sobald sie einigermaßen unwohl oder krank sind, in eine andere Abtheilung, in das sogenannte Krankenhaus, gebracht werden, somit der Beobachtung ihrer Pfleger entzogen und der Beaufsichtigung fremder Wärter, die mit ihren Eigenthümlichkeiten nicht vertraut sind, allerdings unter Oberaufsicht des Arztes, übergeben werden. Gerade in diesen Fällen, meine ich, ist die Beobachtung dieser Kinder recht ergiebig, der Erzieher sollte sich daher dieser mit Sorgfalt unterziehen können. Die Schuld hierzu trägt die Verbindung dieser Anstalt mit den anderen Anstalten und es wäre wohl zu wünschen, daß dieses Institut, zumal wenn es sich weiter vergrößern sollte, von den übrigen Anstalten getrennt und gleich den Blinden- und Taubstummeninstituten für sich allein verwaltet würde. Bei der Wahl eines neuen Ortes könnte dann auch eine höher gelegene Gegend, die doch immer für diese Anstalten sehr wünschenswerth ist, ausgesucht werden. Sehr passend dürfte z. B. das Schloß Augustusburg hierzu sein.

Nachdem mich die Herren mit allen das somatische Heilverfahren betreffenden Einzelnheiten bekannt gemacht, hatten sie die Güte, mir den Gang ihres Lehrverfahrens in lebenden Bildern, d. h. indem sie mir ihre Schüler speciell vorführten, zu zeigen. Erziehungsgrundsatz Herrn Gläsche’s ist: „Wir suchen in unsern Pfleglingen so oft als möglich das Gefühl der Freude zu erregen, weil sie in solchen Augenblicken am empfänglichsten für unser Wirken sind.“ Ein Satz, der genugsam den Erziehungsgeist, welcher in dieser Anstalt herrscht, charakterisirt. Basis des Unterrichts ist stets und immer die Anschauung. Es gilt daher zuerst, ich erlaube mir hier Herrn Oberlehrer Gläsche wörtlich zu folgen, die Sinne des Kindes zu üben, damit es anschauen lerne, und zugleich den Thätigkeitstrieb, der auf dieser Stufe fast durchgängig als Nachahmungstrieb auftritt, einigermaßen anzuregen. Die Herren verfuhren hierbei auf folgende Weise. Es wurde einem auf dieser Stufe stehenden Individuum eine kleine, glänzende, hellklingende Glocke vorgehalten. Durch den Glanz und das Tönen derselben wurde das Auge und Ohr des Kindes, wenn auch nur auf wenige Augenblicke, gefesselt. Dasselbe Experiment wurde mit einer Repetiruhr, einem Glase wiederholt. Eine schwere Kugel und bunte Bälle wurden auf dem Boden hingerollt und das Kind veranlaßt, dasselbe nachzuahmen. Einfache Körperbewegungen, Aufstehen, Setzen, Legen, die Hand reichen, wurden vorgenommen. Auf der Violine und dem Pianoforte wurden einzelne Töne und stark in’s Gehör fallende Melodien angegeben. Bei alledem war die Sprache der Herren Lehrer kräftig markirt. Alles dies wurde vorgenommen, um das Gesicht und Gehör des Kindes zu fesseln und um seine Willensthätigkeit anzuregen. Am meisten wirkte die Musik auf diese Armen. Auch die Augen sehr tiefstehender Kinder verklärten sich, sie fanden sich veranlaßt, das Instrument, dem diese Töne entlockt wurden, zu suchen und zu betasten. Wie ich hörte, versucht man auf dem Abendberg in der Schweiz das Auge der Cretinen dadurch zu fesseln, daß man dieselben in ein dunkles Zimmer führt und vor ihren Augen mit Phosphor Figuren an die Wand malt.

Durch ähnliche Uebungen gelingt es nach vielen Mühen und längerem Zeitaufwande, wenigstens bei Einigen die Sinne und die Willensthätigkeit so weit zu wecken, daß das Kind durch wiederholtes Anschauen der Dinge zu Vorstellungen von denselben gelangen kann. Herr Oberlehrer Gläsche führte mir einige auf dieser zweiten Stufe stehende Kinder vor. Sie waren durch wiederholtes Anschauen der schon genannten Dinge im Stande, Uhr, Glas, Glocke, Kugel, Klavier etc. zu unterscheiden, und brachten diese Gegenstände auf mein Verlangen herbei. Den Erfahrungen der Herren Lehrer zufolge, lernen die Kinder auf dieser Stufe Vorstellungen von den Gegenständen ihrer nächsten Umgebung, ihres eigenen Körpers gewinnen. So gelangt das Kind zur dritten Stufe. Es wird fähig, die gewonnenen Vorstellungen zu combiniren, und gelangt dadurch zu Begriffen. Man zeigte den auf dieser Stufe stehenden Knaben Bälle, Kugeln, Tische etc. von verschiedener Größe, Farbe und Gestalt, um die Kinder das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu lassen. Die Knaben waren im Stande, Befehle auszuführen, wie: „Leg den Stab auf den Tisch! – Trag die Glocke auf das Fenster! – Stelle die Glocke an die Wand! – Trag die Bürste auf die Bank und bring’ den Ball her!“

Auf diese Weise, indem man den Kindern nach und nach drei- oder vierfache Befehle ertheilt, sucht man ihre Willensthätigkeit, ihre Auffassungskraft, ihr Gedächtnis; zu stärken und zu vervollkommnen. Leichte Turnübungen, die schon auf der ersten Stufe ihren Anfang genommen, wurden auf dieser Stufe eifrig fortgesetzt. Das Kind findet nun sich selbst, denn es versteht jetzt auch solche Aufträge, als: „Komm her! – Stell dich an die Thür!“ Es ist nunmehr im Stande, sein Ich von der Umgebung zu trennen. Welche Freude für den Erzieher, wenn er sein Werk so weit gefördert hat!

Auf der vierten Stufe lernt das Kind abstrahiren. Herr Gläsche brachte eine Anzahl gut colorirter Bilderbücher herbei. Die auf dieser Stufe stehenden Individuen waren im Stande, das erst in Wirklichkeit Angeschaute auch im Bilde unterscheiden zu können. Sie zeigten mir auf den Abbildungen Stuhl, Tisch, Uhr, Glas etc., versuchten dies auch nachzumalen und fingen an, die Buchstaben, die doch nur gemalte Laute sind, kennen und schreiben zu lernen. So bereiten sich Lese-, Zeichen-, und Schreibeunterricht vor.

Nun verwenden die Herren alle Mühe darauf, daß das Kind sprechen lerne. Die auf dieser fünften Stufe vorgenommenen Uebungen ähneln denen, die in den Kindergärten mit vollsinnigen Kindern ausgeführt werden. Schon bei den vorhergehenden Uebungen fand ich, daß Herr Gläsche die Kinder zum Nennen der Gegenstände anleitete. Jetzt war dies Hauptsache. Die Knaben müssen einfache Sätze: das ist ein Tisch – der Tisch ist rund et. aussprechen. Da vielen dieser Kinder das Sprechen schwer fällt, manche sogar stumm zu sein scheinen und zum Theil auch wirklich sind in Folge mangelhafter oder gelähmter Sprachwerkzeuge, so hat sich Herr Gläsche einige Zeit sowohl im Dresdner, als auch im Leipziger Taubstummeninstitute aufgehalten, um die dortigen Unterrichtsweisen kennen zu lernen und dieselben für seine Zwecke benutzen zu können.

Das Kind ist nun nach vielen Mühen und nachdem es manchen seiner Genossen zurückgelassen hat, zur sechsten Stufe gelangt. Es wird nun fähig, mit Nutzen am Elementarunterricht der Volksschule Theil nehmen zu können. Herr Oberlehrer Gläsche hielt mit den auf dieser Stufe stehenden Knaben kleine Unterredungen über verschiedene, theils in Wirklichkeit, theils im Bilde vorhandene Gegenstände. Die Knaben vermochten in einfachen Sätzen dieselben nach Stoff, Ort, Theilen, Farbe, Gebrauch zu beschreiben. Der Unterricht in der Naturgeschichte, in der Geographie bereitet sich hier vor, eben so der im Rechnen, indem die Kinder die Zahl der Augen, der Füße des gezeigten Thieres etc. angeben. Als Gedächtnißübungen hatte man mit den Kindern kleine verständliche Verschen und Liederchen mit ihren Melodieen eingeübt. Hierbei wurden besonders die Fröbel’schen Spiellieder benutzt. Diese Gesanges- und Spielübungen bilden nach Herrn Gläsche’s Ausdruck „die Lichtblicke in seinem Unterrichtsleben.“ Da thaut Herz und Seele seiner Zöglinge auf. Die Armen fühlen ihr Unglück nicht, sie singen fröhlichen Sinnes, wie vollsinnige Kinder: „Freut euch des Lebens.“ Die Willenskraft sucht man durch fortgesetztes Turnen zu steigern, und nun tritt auch der nächste Zweck der Anstalt, die Kinder erwerbsfähig zu machen, mehr hervor. Man benutzte die Kinder zu leichten Hausarbeiten, zum Holzmachen, zu Gartenarbeiten; auch verfertigten sie hübsche Pappsachen, und hatten durch einen geschickten Meister wöchentlich mehrere Male Anleitung zur Korbmachern. Ich freute mich über die Geschicklichkeit, die viele der größeren Knaben bei dieser Beschäftigung zeigten. Nach jahrelangen Mühen und Arbeiten haben die Lehrer das Kind so weit geführt, daß sie ihrem Bildungswerke die Krone aufsetzen können, indem sie seine religiös sittliche Bildung genauer in’s Auge fassen. Zwar hat die Bildung des sittlichen Gefühls schon längst begonnen. Die sorgsamen Lehrer haben alle Gelegenheiten, die das Zusammenleben der Kinder, das Weihnachtsfest, Geburtstage, Spaziergänge, Erscheinungen in der Natur (Sonnenauf- und Niedergang, Gewitter) u. s. w. darbieten, benutzt, um das Gemüthsleben der Kinder zu wecken und ihnen Freude an der schönen Natur, Dank gegen den guten Gott und gegen die Menschen, Gefühl für Recht und Unrecht einzupflanzen. Nun aber beginnt der eigentliche Religionsunterricht. Dieser gründet sich, wie schon aus dem Vorhergesagten folgt, auf [164] Naturanschauung, biblische Geschichte und Ereignisse aus dem einfachen Leben der Kinder. Er ist deshalb einfach und praktisch und den Kindern leicht verständlich. Hören wir hier Herrn Gläsche selbst reden: „Wo, wie hier, die Erzieher und Pfleger mit den Zöglingen gleichsam eine große Familie bilden, wo jedes Leid, das den Einzelnen trifft, und jede Freude von Allen getheilt wird; wo Alle in Gemeinschaft essen und trinken, lernen und spielen, aufstehen, schlafen gehen und beten; da kann es an geeigneten Anknüpfungspunkten nicht fehlen. Ein Religionsunterricht aber, der sich – sei er auch noch so einfach – auf die Erscheinungen des alltäglichen Lebens gründet, der gleichsam aus dem Leben herauswächst, muß auch wiederum in den Kindern lebendig werden und sicherlich mehr in das Leben eingreifen, als ein zu abstract gehaltener oder mit Begriffserklärungen sich herumwerfender. – Je größer die Schwäche des Denkvermögens bei dem Blödsinnigen ist, desto mehr muß man durch den Religionsunterricht auf das Gemüth desselben zu wirken suchen, damit dieses ersetze, was ihm dort gebricht.“

Die Hochachtung, die man vor einem solchen Erzieher, wie Herr Oberlehrer Gläsche ist, empfindet, wird noch mehr gesteigert, wenn man erwägt, daß er sich sein Erziehungssystem selbst, ohne fremde Hülfe geschaffen, da zur Zeit, als er sein Werk begann, weder praktische Erfahrungen noch literarische Hülfsmittel ihm zur Seite standen. Sein im Jahre 1854 erschienener erster Bericht[2] war das erste literarische Erzeugniß, das in einem ausführlichen Plane den pädagogischen Theil der Erziehung Schwach- und Blödsinniger darlegt. Es ist ein Werk, das fern von aller Charlatanerie Zeugniß gibt sowohl von der Bescheidenheit des Verfassers, als von seiner Humanität und Tüchtigkeit. Das hat auch die Kritik Sachverständiger, mit unbedeutenden Ausnahmen, allgemein anerkannt. Wie ich gehört habe, wird in nächster Zeit ein neuer Bericht Herrn Gläsche’s erscheinen, auf den ich im Voraus die verehrten Leser der Gartenlaube aufmerksam mache. Er wird neues Zeugniß über die Wohlthätigkeit dieser Anstalt geben, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens bereits eine ziemliche Anzahl geistig verkrüppelter Kinder zu brauchbaren Menschen herangebildet hat. Der Segen Gottes ruht auf dieser Anstalt. Möge sie fort und fort zum Heile der ärmsten aller Kinder wachsen und gedeihen.


Mein Besuch war beendet; eben wollte ich Hubertusburg verlassen, da bewegte sich ein prunkloser Leichenzug über den Schloßhof. Man trug einen Hospitaliten, einen Veteran der altnapoleonischen Kaiserzeit, hinaus. Ich begleitete den Zug bis auf den Gottesacker der Anstalt. Früher, zur Zeit der Glanzperiode Hubertusburgs, war hier der Operngarten. Prachtvolle Statuen hatten an dieser Stelle gestanden, zärtliche Rendez-vous waren hier abgehalten worden. Jetzt ist gleichsam die Zeit der Buße für das stolze Schloß gekommen, und da begräbt es hier seine Todten. Mancher Blutstropfen mag an dem Golde gehangen haben, das Hubertusburg in seinem Glanze verschlungen. – Die Schuld ist gesühnt. – Es ist zur Friedensstätte für körperliches und geistiges Elend geworden.

Die doppelten Thore öffneten sich mir wieder, ich trat hinaus, und bald war das Schloß meinen Blicken entschwunden.



  1. Dummheit, Bornirtheit, das, was der Kladderadatsch „höheren Blödsinn“ nennt, ist leider, trotz unserer vielgerühmten Volksaufklärung, weiter verbreitet, als man denkt. Die letzte Kometenfurcht hat dies genugsam bewiesen, und Kladderadatsch hat ganz Recht, wenn er singt:

    „Wir bleiben frisch und munter,
    Der Blödsinn geht nicht unter.“

  2. Erster öffentlicher Bericht über die Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder zu Hubertusburg, von Karl Gläsche, Oberlehrer. Leipzig, 1854, bei Reclam sen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gewonnnenen