Textdaten
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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Ein Begräbniß im Walde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 220–223
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Begräbniß im Walde.
Von Brehm.


Vor einigen Jahren bewohnte ich ein Haus vor der Stadt, welches wie die übrigen der Straße rings von einem Garten umgeben war. In dem letzteren hatten meine Vormiether allerlei Buschwerk gepflanzt, und da dasselbe in anderen Gärten ebenfalls geschehen, waren lauschige Plätze für einige unserer besten Singvögel geschaffen und von diesen selbstverständlich auch bald in Besitz genommen worden. Sie verschönerten mir die frühen Morgenstunden, damals die einzige Arbeitszeit, welche ich meiner Schriftstellerei widmen durfte, in hohem Grade. Ein Haus- und ein Gartenrothschwanz, ein Mönch und eine Gartengrasmücke, ein Gartensänger oder Sprachmeister und eine Nachtigall waren die hervorragenden Glieder der gefiederten Mitbewohnerschaft des leidlich hübschen Stückchens Erde, und namentlich die letztere gewährte mir viele Freude, weil sie zu den ausgezeichnetsten Schlägern zählte, welche ich jemals gehört habe.

Ich mag nicht unter die Schriftsteller gerechnet werden, welche es dem wahren Liebhaber zu verwehren suchen, sich Vögel für das Gebauer zu fangen und diesen das „harte Schicksal der Gefangenschaft“ zu bereiten; ich bin im Gegentheil ein ganz entschiedener Anwalt all’ Derer, welche gleich mir ohne einen Singvogel im Zimmer nicht leben können oder doch nicht leben wollen. Närrisch erscheinen sie mir, jene sogenannten „Vertheidiger der Singvögel“, weil sie, so überklug sie sich auch geberden, fast ausnahmslos Unverstand oder doch Unkenntniß mit seichter Gefühlsduselei verbinden und durch ihr fades Wortgeklingel höchstens urtheilslose Nichtkenner für sich einzunehmen vermögen, nicht aber kundige Liebhaber, welche, trotzdem sie einen und den anderen Singvogel seiner Freiheit berauben, weit wirksamer als Jene das „Schutz den Vögeln!“ predigen. Nicht die beregte Liebhaberei, welche kaum mehr als ein Hundertstel der freilebenden Vögel einer Art für sich beansprucht, entvölkert unsere Waldungen, sondern die neuzeitliche Ausnutzung der letzteren, welche den Vögeln ihre Wohnplätze nimmt, das geflügelte Raubzeug, von welchem jedes Mitglied mehr Singvögel raubt als zwanzig Liebhaber zusammengenommen und welchem trotzdem noch immer nicht eifrig genug nachgestellt wird. Und nicht einen Eingriff in „die ewigen Rechte der Natur“, oder wie sonst die Phrasen lauten, erlaubt sich der Liebhaber, welcher sich einen Vogel fängt, sondern das ihm der Thierwelt gegenüber ja sonst unverwehrte Recht des Stärkeren übt er aus, wenn er den „freigeborenen Singvogel“ an sich fesselt und Dasselbe thut, was man den hausthierzähmenden Erzvätern salbungsvoll zum Verdienst anrechnet. Demungeachtet stimme ich mit jedem Vernünftigen für Schutz der Vögel durch die Gesetzgebung und für strengste Beaufsichtigung aller Parks, Lustwäldchen, öffentlichen Gärten, Spaziergänge und dergleichen, denn der Liebhaber hat nicht das Recht, sich auf Kosten Anderer einen Genuß zu verschaffen, und mag sich seine Vögel da fangen, wo sie häufiger sind und leichter sich ersetzen: im großen weiten Walde.

Man verzeihe mir diese Abschweifung: es hat mich gedrängt, meine Ansicht einmal an dieser Stelle auszusprechen, weil gegenwärtig mehr als je namenlose und „berühmt gewordene“ Unberufene die veredelnde Liebhaberei zu verdächtigen suchen und mit ihren

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Das Begräbniß im Walde.
Originalzeichnung von Emil Schmidt.

[222] fabrikmäßig hergestellten Aufsätzen alle Blätter überschwemmen. Ich darf die Liebhaberei vertheidigen; denn ich spreche nicht wie ein Blinder von der Farbe und habe, unabhängig von Gloger, die Bitte um Vogelschutz viel eher und mit faßlicherer Begründung ausgesprochen als meine Nachtreter und Nachschreiber, denen ich so viele Verbesserungen nach Art Ballhorn’s verdanken soll.

Im Sinne und Geiste aller wahren Vogelwirthe war es gehandelt, bei meinen Nachbarn um Schutz für die Sängerschaft unserer ländlichen Straße zu bitten. Und ich erreichte auch meine Absicht; man unterstützte mich nach Kräften: der Eine durch Anpflanzung dichter Gehege, der Andere durch Anbringung von Brutkästen, der Dritte durch Pulver und Blei, zu welchem zudringliche Katzen begnadigt wurden. Wir wußten bald alle Nester unserer Schützlinge und unterhielten uns auf dem Wege „zum Geschäft“, von Eiern, jungen und alten Singvögeln.

Der Winter entführte unsere gefiederten Freunde, der Frühling brachte sie wieder. Es waren dieselben, welche uns verlassen hatten: sie bekundeten vom ersten Augenblicke ihres Einzuges an vollstes Vertrautsein mit der Heimath – das war unverkennbar. Unsere Nachtigall zumal hätte ich unter Tausenden wieder erkannt. So wie sie schlug keine zweite ringsum; sie gehörte eben zu den Meistern, welche sich einen mehr oder weniger ebenbürtigen Stamm von Jüngern und Nachfolgern erst heranziehen müssen. Sie jauchzte förmlich auf in ihren Liedern; sie schlug mit einem Feuer und einer Ausdauer wie wenige ihres Geschlechtes. Der Busch vor dem Erker meiner Wohnung war ihr Lieblingssitz und sollte voraussichtlich ihr Nistort werden. Er wurde es nicht.

Am Morgen eines Maitages brachte mir eine Hausgenossin mit feuchten Augen unsere Nachtigall – leblos, noch warm. Sie hatte vor wenigen Minuten geschlagen, hingebend, feurig, jauchzend wie je. Jetzt war sie todt; ihr Leichnam ließ schon den Beginn der Starre vermerken. Ich betrachtete sie von allen Seiten: sie war unversehrt, keine Feder beschädigt, die Mundhöhle trocken, nicht blutig. Der Tod hatte sie hingerafft, plötzlich, ungeahnt; ihr letzter Hauch war klangvoll gewesen! Die Zergliederung, welche ich später vornahm, erhob meine erste Vermuthung zur Gewißheit: ein Schlagfluß hatte ihrem Leben ein Ende gemacht. Die Beobachter, welche von ähnlichen Fällen berichtet, waren gerechtfertigt in meinen Augen.

Warum soll ich es verschweigen? Der Verlust ging mir nahe. Es war mir fast zu Muthe, als ob ein Mensch gestorben wäre. Gleichwohl beschäftigten mich auch andere Gedanken, welche ich solche der Forscherbegierde nennen möchte. Ich hatte eines der Beispiele vom „natürlichen“ Hingange der Vögel erlebt, diesem Hingange beinahe als Beobachter beigewohnt. Von den im Käfige gepflegten Vögeln hatte ich manch einen sterben sehen, von den freilebenden nur in Zeiten höchster Noth einige wenige.

Es ist das eine eigenthümliche, nicht immer leicht zu erklärende Thatsache. Man findet, von allgemeinen Nothständen abgesehen höchst selten eine Vogelleiche, am wenigsten eine, von welcher man mit Bestimmtheit sagen kann, daß der Vogel eines „natürlichen Todes“ gestorben.

Wenn unsere Zugvögel von einem strengen Nachwinter überrascht werden, ist es freilich anders. Sie können sich nicht so leicht zur Rückkehr entschließen, wie diejenigen Arten, welche zuerst bei uns eintreffen und gar nicht selten wieder auf geraume Zeit die bereits eingenommenen Wohnplätze verlassen, sondern zögern, harren, suchen ängstlich nach Nahrung umher, obgleich doch keine zu finden, hoffen noch immer, werden schwächer und matter und verderben.

Ein solcher Nachwinter, welcher vom 7. bis zum 17. April währte, ist mir aus der Kinderzeit noch wohl erinnerlich. Es war bereits der größte Theil unserer Zugvögel eingetroffen; einzelne von ihnen schickten sich schon zum Brüten an. Da wandte sich der Wind und brachte statt der Frühlingsregen tiefen Winterschnee. Und nunmehr räumten Kälte und Hunger entsetzlich auf unter den bedauerswerthen Vögeln. Man fand ihre Leichen zu Dutzenden auf den gebahnten Wegen, wohin sie sich in letzter Noth geflüchtet; wie viele in Busch und Wald zu Grunde gingen, ohne daß man davon ein klares Bild gewinnen konnte, lehrten erst die nächsten darauf folgenden Jahre. Tagtäglich zog der Vater aus mit uns Knaben, ließ uns in der Nähe von Gebüschen den Schnee wegfegen, und streute dann auf diese Plätze Mehlwürmer, Ameiseneier, Semmelkrumen, Käsequark, gemahlenen Hanf und allerhand Gesäme, und tagtäglich erneuerte und vermehrte er seine Klagen um seine Schützlinge, welche fortdauernd massenhaft erlagen. Das Elend ging endlich vorüber; die Dank dem Vorbilde des Vaters wohlgeschützten oder doch nicht von Bubenjägern behelligten Waldungen aber füllten sich erst im Laufe mehrerer Jahre allmählich wieder mit Bewohnern und Klängen.

Aehnliche Nothstände können überall eintreten, auf trockenem Lande wie in den Gewässern, das Meer nicht ausgeschlossen. Ein galizischer Forscher erzählt von Kiebitzen, welche den Folgen eines anderen Nachwinters erlagen; ich fand in einem Palmenwalde Arabiens Hunderte von Leichen unserer Saatkrähe, welche dort dem Menschen sicherlich nicht zum Opfer gefallen waren, ferner an dem reichen, während des Winters aber von den geflügelten Einwanderern übervölkerten Mensaleh-See in Unterägypten Dutzende von verkommenen Enten, und ebenso auf den Vogelbergen Lapplands, welche Millionen von Schwimmvögeln vereinigen, manch’ einen Alk, Lund, sowie Lummen, Teisten und Möven; Faber sah die Tölpel haufenweise todt am Strande Islands liegen und war mehrfach Zeuge, daß Meeresvögel im Vorgefühle des Todes dem Orte zustrebten, auf welchem ihre Wiege gestanden. Diese Beispiele ließen sich vermehren; sie sind jedoch glücklicher Weise selten.

Unter solchen Umständen also findet man Vogelleichen in allen Stufen der Verwesung, während man außerdem jahrelang den Wald durchstreifen kann, ohne eine einzige zu bemerken – Federn oft genug, nicht aber Fleisch und Knochen, Körper mit einem Worte. Die Federn zeigen in den meisten Fällen die Schlachtbank eines Raubvogels an, welcher hier die gefangene Beute zerstückelte und verzehrte, also in seinem Magen begrub und damit Alles erklärte. Aber es werden doch nicht alle Vögel vom Raubzeuge gefressen oder „von Liebhabern gefangen“, fallen doch nicht alle in die Netze der Italiener, Franzosen und Spanier, während sie deren Länder durchfliegen, um nach der Winterherberge oder von ihr in die Heimath zu gelangen, finden doch nicht alle in den Wogen des Meeres ihr Grab, sondern es sterben ihrer sicherlich mehr einzeln, an verschiedenen Krankheiten, der Last des Alters etc., als ihrer den eben erwähnten Gefahren und den geschilderten Nothständen erliegen. Wo kommen sie hin? Wie verschwinden sie? Wer schafft sie weg?

Die Antwort auf diese Fragen darf mit ziemlicher Bestimmtheit lauten: sie werden begraben.

Weit früher, als unter den Menschen üblich wurde, „der Erde zurückzugeben, was der Erde gehört“, verrichteten eine nicht unbedeutende Anzahl von Kerbthieren, insbesondere von Käfern, das Amt des Todtengräbers und thun dieß heute noch. Einzelne danken ihrer Beschäftigung den Namen: sie heißen auch „Todtengräber“, im Volksmunde wie in den Büchern der Wissenschaft. Mit ihnen im Verein, obschon jeder einzelne für sich, wirken noch viele andere Kerfe: die einen, indem sie ihre Eier in den Leichnam legen, so lange er noch nicht begraben wurde, die anderen, indem sie die Fäulnißerzeugnisse gierig auffangen, die dritten, indem sie Muskelfleisch fressen, Bänder und Knochen benagen etc.; nur die Todtengräber aber arbeiten planmäßig und gemeinschaftlich, und sie sind es, welche das Begräbniß ausführen.

Da ihre Thätigkeit schon unzählige Male geschildert worden ist und wohl ziemlich allgemein bekannt sein dürfte, kann ich mich auf wenige Worte beschränken.

Die Todtengräber, meist nächtlich lebende Käfer, erscheinen in der Regel ziemlich bald bei der kleinen Thierleiche, kurze Zeit nach den ersten Schmeißfliegen, welche gleichsam als die Verkündiger des Todes angesehen werden können. Ihr ungemein entwickelter Geruchssinn führt sie zur Stelle. Sie kommen herbeigesummt, untersuchen den Leichnam und den Boden, und beginnen nachdem sich eine gewisse Anzahl von ihnen zusammengefunden, mit ihrer Wirksamkeit. Größere Thierleichen vermögen die Käfer nicht bewältigen, und ebensowenig begraben sie auf harten Boden, welcher ihrer Kraft unüberwindliche Hindernisse bereitet: sie bedürfen eines verhältnißmäßig weichen Grundes für ihren Zweck. Planmäßig verfahren sie insofern, als jeder in einem gewissen Abstande von dem anderen wirkt. Sie kriechen unter den Leichnam, rücken ihn auch wohl ein wenig von der Stelle, werfen die durch Graben losgearbeitete Erde mit den Hinterbeinen auswärts weg, bilden so allmählich einen Hohlraum unter, einen Wall neben dem todten Körper und erreichen dadurch, daß dieser durch seine eigene Schwere in die gebildete Grube hinabsinkt. In dieser [223] Weise fortfahrend, begraben sie nach und nach den Leichnam fast oder thatsächlich fußtief, lassen ihn vollständig von der Oberfläche verschwinden, entziehen ihn anderen Leichenräubern und legen ihre eigenen Eier auf ihm ab, ihrer werdenden Nachkommenschaft die erforderliche Nahrung sichernd.

Solch’ ein Begräbniß ist es, welches unser Künstler in dichterischer Auffassung uns vorführt. Eine Nachtigall liegt todt im Walde, zur Zeit ihrer und seiner Blüthe. Waldröschen, Ehrenpreis und Vergißmeinnicht umgeben sie und das werdende Grab, in dessen Nähe, wie am Eichbaum ersichtlich, schon vormals ein Unglück geschehen; Glockenblumen neigen sich über sie; der Trauermantel wiegt sich über ihr; von der Rose fallen Tropfen wie Thränen auf sie hernieder. Die Grableute sind bereits erschienen. Von oben summt der Todtengräber (Necrophorus vespillo) herab, um sich zu seinen Verwandten (N. humator, mortuorum, sepultor, germamicus und vestigator) zu gesellen; von rechts kriecht ein ebenfalls mitwirkender Kurzflügler heran. Einer aus der Gesellschaft beginnt bereits seine Thätigkeit. Binnen wenigen Stunden werden sie ihr Amt geübt, ihre Arbeit vollendet haben, und von der Nachtigall, welche vielleicht an demselben Morgen in vollem Feuer schlug, wird nur ein kleiner Hügel zwischen und unter den Blumen dem Eingeweihten noch Kunde geben.

Die Auffassung des Künstlers ist dichterisch, aber naturgetreu, wie die Ausführung naturwahr bis zum geringsten Hälmchen, jene deshalb also wohl vollberechtigt.