Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte/Die Höhlenlabyrinthe in Bayern und Oesterreich

Textdaten
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Autor: Eduard Grosse
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Titel: Die Höhlenlabyrinthe in Bayern und Oesterreich
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 685–687
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Serie: Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte
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Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte.

Die Höhlenlabyrinthe in Bayern und Oesterreich.
Von Eduard Grosse.

Seit uralten Zeiten haben die Menschen in Höhlen Zuflucht gesucht, anfangs in Naturhöhlen, in denen sie sich häuslich niederließen, später in künstlichen Höhlen, die sie zu Wohnzwecken in weiches Gestein oder geeignetes Erdreich gruben. Noch heute werden hier und dort solche Höhlenwohnungen geschaffen. In den mächtigen Lößlagern Chinas findet man sogar ganze Dörfer, die in den Löß eingegraben sind, der bekanntlich die Eigenschaft besitzt, an der Luft zu erhärten und auch ohne Ausmauerung genügende Sicherheit gegen den Einsturz zu gewähren.

Diese Eigenschaft des Löß war auch Völkern, die vor uns Deutschland bewohnten, wohl bekannt, und sie legten in ihm sowie in weichem Sandstein eigenartige Höhlen an, die unter dem Namen „Erdställe“ in Mähren, Niederösterreich und Bayern bekannt sind und seit einigen Jahrzehnten den Scharfsinn der Altertumsforscher herausfordern, da ihre ehemalige Bestimmung noch immer von dem Schleier des Geheimnisses verhüllt ist.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0685 1.jpg

Das Höhlenlabyrinth zu Lechwitz in Mähren.
Blick von innen mich dem Eingänge.
Eingang in einen Höhlenbau.
Innerer Gang mit Abzweigungen im Hintergrunde.

Auf diese sonderbaren Höhlen wurde man zumeist durch Einsinken von Pferden, das während des Ackerns erfolgte, aufmerksam. So versank im Jahre 1813 unweit des Lechwitzer Schlosses in Mähren ein Ackerpferd mit den hinteren Beinen so tief in das aufgelockerte Erdreich, daß es großer Anstrengung bedurfte, das Pferd wieder herauszuheben. Wo es eingesunken war, entdeckte man ein tiefes Loch, das zum Eingang einer künstlichen Höhle führte, die zuerst vom Lechwitzer Amtmann Zelinka untersucht und beschrieben wurde. Man schüttete damals den Bau wieder zu, und er geriet in Vergessenheit. Im Jahre 1857 sank abermals ein Pferd ein, und nun beauftragte die Regierung den Altertumsforscher Mauriz Trapp, eine gründliche Untersuchung vorzunehmen. Diese ergab, daß der Erdstollen aus fünf Gemächern und verbindenden Gängen bestand, alle von geringer Höhe und die Decken in Spitzbogen ausgehauen. Der Eingang, welcher ursprünglich frei lag, war hoch mit aufgeschwemmter Humuserde bedeckt, deren Mächtigkeit Zeugnis ablegt für das hohe Alter des Höhlenbaues. Unsere obenstehenden Bilder zeigen den Eingang in den Höhlenbau, den Blick von innen nach dem Eingänge, und einen Gang mit Spitzbogenkammern nach den Zeichnungen, die s. Z. im Auftrage des mährischen Landesausschusses aufgenommen wurden.

Durch das Einsinken von Zugtieren und durch andere Zufälle wurden da und dort immer mehr Höhlenbauten entdeckt; dadurch aufmerksam gemacht, nahmen die Altertumsforscher sowohl in Oberbayern wie auch in Niederösterreich eine umfangreiche, wissenschaftliche Durchforschung der rätselhaften Erdstollen vor.

Die gesamten Höhlenbauten Bayerns und Oesterreichs sind nach gleichen Grundgedanken angelegt. Eine Abweichung zeigt sich nur in der verschiedenen Deckenform, die bald im Rundbogen, bald im Spitzbogen mehr oder weniger kunstvoll ausgehauen ist.

Auffallend ist die allgemeine Niedrigkeit der Gänge sowohl als der Kammern. Erstere muß man fast immer in gebückter Stellung durchschreiten oder noch öfter langausgestreckt auf Händen und Beinen durchkriechen. Auch die Kammern sind sehr niedrig, so daß ein großgewachsener Mann darin selten vollständig aufgerichtet stehen kann. Der Querdurchmesser der Kammern schwankt zwischen 1 und 4 Metern, der Durchmesser der Gänge ist meist so gering, daß ein Mann eben hindurchschlüpfen kann. Die Maße sind alle zwerghaft, und wenn das Volk des Mittelalters, welches die ehemalige Bestimmung der Erdhöhlen nicht mehr kannte, dieselben sagenhaft als Zwergwohnungen auffaßte, so war das dem damaligen Zeitgeiste ganz entsprechend. Noch heute werden die Höhlen in einigen mährischen Landstrichen vom Volke „Zwirglhöhlen“ genannt.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0685 2.jpg

Grundriß des Höhlenlabyrinthes von Unterretzbach.
(Die Buchstaben K bezeichnen die Kammern, G die Gänge, F die unerforschten Fortsetzungen der Gänge. Die punktierten Linien bedeuten übereinander liegende Bogengänge oder Irrgänge.)

Der Umfang der Höhlen ist verschieden. Man findet kleine Anlagen, aber auch wieder erstaunlich umfangreiche Bauten, die sich kilometerweit unter der Erde hinziehen und ein vollständiges Labyrinth von auf- und niedersteigenden, sich verzweigenden, sich krümmenden, in sich zurückkehrenden Gängen und dazwischenliegenden Kammern bilden. So entdeckte Pfarrer Lambert Karner in dem österreichischen Dorfe Röschitz ein Höhlenlabyrinth, das sich unter vielen Bauerngehöften hin erstreckte und zu dessen Erforschung er nahezu drei Tage Zeit brauchte. Das Labyrinth war zwar nicht mehr vollständig zugänglich, die Grundmauern und Keller der Häuser hatten es in einzelne Teile zerschnitten, der Grundriß der Anlage läßt jedoch erkennen, daß ehemals die einzelnen Teile alle zusammenhingen und ein Ganzes bildeten. Umfangreich ist auch das Labyrinth von Unterretzbach, das sich der Sage nach eine halbe Stunde weit unter der Erde fortsetzen soll, und von dessen erforschtem Teil wir den Grundriß in Abbildung bringen.

Die unterirdischen Gänge und Kammern sind natürlich vollständig dunkel, da kein Lichtstrahl in dieselben fallen kann. Wer sein Leben nicht aufs Spiel setzen will, darf sie daher ohne ein mitgenommenes Licht und ohne sonstige Vorsichtsmaßregeln nicht beschreiten. Als sie noch von ihren Erbauern und deren Nachfolgern benutzt wurden, fand sich der Eingeweihte mit Hilfe von handgroßen Vertiefungen [686] zurecht, die an verschiedenen Stellen in die Wände eingehauen sind, und die daher von den Altertumsforschern „Tastnischen“ genannt werden. Wer mit dieser Zeichensprache genau vertraut war, konnte das Labyrinth auch ohne Licht besuchen, der Fremdling dagegen durfte das nicht wagen, denn die Gefahr des Verirrens war zu groß.

Infolgedessen ist auch die Erforschung der Höhlen nicht gefahrlos, umso mehr als dieselben stellenweise schon eingestürzt sind und fortwährend neuer Einsturz droht. Wer sich, auf dem Bauche liegend, durch die engen Eingänge zwängt, muß stets befürchten, daß hinter ihm ein Einsturz stattfindet, der ihn von der Außenwelt abschneidet. Aber auch sonst erfordert das Betreten der Höhlen Mut und Kaltblütigkeit. Die Gänge laufen oft steil nach oben, man muß sich in ihnen nach Schornsteinfegerart emporarbeiten, andernteils fallen sie ebenso steil wieder nach unten, und kriecht man mit dem Kopfe voran in dieselben hinein, so kann man leicht einen unerwünschten Kopfsturz in die Tiefe machen. Verliert man dabei das Licht, so kommt man in Gefahr, sich in dem dunklen Labyrinthe zu verirren. Dazu drückt die schwüle Luft betäubend auf das Hirn, der Schweiß rinnt aus allen Poren des Körpers, und eine unheimliche Angst schnürt die Brust zusammen. Alles ist zu eng. In den Gängen kann man sich nicht frei bewegen, in der schweren Luft nicht frei atmen. Das alles trägt dazu bei, die Sinne zu verwirren, und hierin liegt fast eine größere Gefahr als in den Labyrinthgängen selbst. Offenbar wurde dieser unheimliche, sinnverwirrende Eindruck mit Vorberechnung angestrebt, um dadurch die Gefahr des Verirrens zu erhöhen.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0686 1.jpg

Gang. 0 Kammer mit Gang- 0 Gang. 0 Gang in 0 Gekrümmter Gang. 0 Kammer mit 0 Gang.
öffnung in die Tiefe   die Tiefe.   Luftloch.
und Luftloch.  

Teil eines Höhlenlabyrinthes im Durchschnitt.

Von diesem Umstande abgesehen, machen die sauber ausgehauenen Kammern einen verhältnismäßig günstigen Eindruck, der in einigen besonders schön angelegten Räumen selbst bis zum staunenden Bewundern steigen kann. Es wurden Gemächer entdeckt, die durch regelmäßig eingehauene Nischen und sorgfältig gearbeitete Spitzbogen einen überraschend schönen, fast weihevollen Eindruck machten. Einen solchen Raum entdeckte der Pfarrer Karner in dem großen Labyrinth zu Röschitz. Er schreibt darüber: „Als Licht und Auge den Raum vor mir streifte, da wäre beinahe das Licht meiner Hand entfallen – nicht vor Furcht und Entsetzen, sondern vor Ueberraschung über den wundervollen Bau desselben. Unwillkürlich entfuhr meinen Lippen ein Ruf des Erstaunens, denn was ich schaute, versetzte mich sozusagen in eine ganz andere Welt, und ich glaube, selbst die kühnste Phantasie hätte diesen Anblick nicht geahnt. Ein Heiligtum in dem ausgesprochensten Sinne des Wortes glaubte ich betreten zu haben! Ein schmaler, langgestreckter, zu einem scharfkantigen Spitzbogengewölbe sich verjüngender Raum lag vor mir. Hätte ich doch eines Künstlers Hand, um dieses Bild fixieren zu können! Es klingt zu prosaisch, diesen Raum eine ,Kammer‘ zu nennen. Die Bezeichnung ‚gotische Kapelle‘ drückt noch am annäherndsten die Vorstellung aus, die man sich davon machen kann.“

Diese vollendet schönen Kammern bilden freilich Ausnahmen. Die große Mehrzahl ist gewölbeartig ausgehöhlt, an den Wänden befinden sich oft Bänke, die aus dem Erdreich ausgehauen sind, desgleichen mehr oder minder große vertiefte Nischen.

Die Gänge münden nicht immer zu ebener Erde in die Kammern, sondern der Fußboden der letzteren liegt oft beträchtlich tiefer, so daß man vom Gang aus in die tiefergegrabene Kammer hinuntersteigen muß. Das läßt auch die untenstehende Abbildung der „Spitzbogenkammern“ erkennen, wo in der oberen Kammer der Gang im Hintergrunde in Bodenhöhe weiterführt, während er in der unteren Kammer in ziemlicher Höhe vom Boden mündet.

Um einen annähernden Begriff von der Anlage der Erdbauten zu geben, bilden wir den Teil eines Höhlenlabyrinthes auch im Durchschnitt ab. Leider ist es nur möglich, auf diese Weise die Gänge und Kammern abzubilden, die in einer Linie liegen. Das Labyrinth dehnt sich natürlich nach allen Seiten aus, und diejenigen Gänge und Kammern, welche in die Tiefe führen und hinter dem abgebildeten Teile liegen, entziehen sich der Wiedergabe. Man muß sich demnach dieselben rechts und links, wie auch in die Tiefe fortgesetzt denken, um ein annäherndes Bild der Wirklichkeit zu gewinnen. Ferner steigen die Gänge oftmals nach oben auf, teils allmählich, teils schornsteinartig, und führen zu höhergelegenen Kammern, die sich wie die Stockwerke eines Hauses über den unteren Kammern als obere Etagen befinden.

Der Bau so umfangreicher Labyrinthe erforderte offenbar viel Arbeitsaufwand, dazu auch bewundernswerte Ausdauer und Geduld. Denn die niedrigen Gänge, welche man nur in ausgestreckter Lage durchkriechen kann, mußten natürlich auch in einer ähnlichen Körperlage ausgehöhlt werden. Liegend zu arbeiten ist jedoch ungleich schwieriger, als stehend zu hacken und zu schaufeln. Bedenkt man ferner, wie umständlich das Hinausschaffen der ausgegrabenen Erde war, die bei umfangreichen Erdbauten durch viele Kammern und enge Gänge nach außen befördert werden mußte, so fragt man sich wohl erstaunt, wer sich die anstrengende Arbeit machte, diese weitverzweigten Höhlen zu graben, und welchen Zweck dieselben haben mochten.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0686 2.jpg

Rundbogen- und Spitzbogenkammern.

Bevor die künstlichen Höhlen wissenschaftlich erforscht waren, nahm man an, sie seien von den Landleuten während der Schweden- und Türkenkriege als geheime Zufluchtsstätten gegraben und benutzt worden. Diese Annahme erwies sich jedoch nach der wissenschaftlichen Durchforschung als irrig. Die Höhlenlabyrinthe sind viel älter, sie gehören höchst wahrscheinlich der vorgeschichtlichen Zeit an und wurden vielleicht schon lange vor unserer Zeitrechnung gegraben. Die Werkzeugeinschnitte, welche noch an den Wänden vieler Höhlen sichtbar sind, zeigen stets dieselben Formen, nämlich Einschnitte von einem spitzen und einem breiten, an der Schnittfläche [687] gerundeten Werkzeuge. Die breiten Einschnitte haben genau die Form von Schneiden, wie man sie an vorgeschichtlichen Bronzeäxten findet; man ist daher geneigt, die Höhlen der vorgeschichtlichen Bronzezeit zuzuschreiben. In einem mährischen Höhlenbau fand man einen Steinhammer, ein als Spitzhacke zugerichtetes Hirschgeweih und eine hölzerne Schaufel, also Funde, die auf eine noch ältere Zeit hindeuten, auf die sogenannte Steinzeit, in welcher die Metalle noch unbekannt waren.

Als Wohnungen haben die Höhlen offenbar nicht gedient, denn in keiner derselben fand man Spuren, die auf ehemalige Bewohner schließen lassen. Der Fußboden war stets sehr sauber, nirgends fand man Speiseüberreste und dergleichen, so daß man nicht einmal an eine vorübergehende Wohnstätte in Zeiten der Gefahr mit Bestimmtheit glauben kann. Als Wohnungen waren die kleinen, engen Kammern überhaupt ganz ungeeignet, weil sich beim längeren Aufenthalt mehrerer Personen in denselben die Luft bald so verschlechtern mußte, daß der Aufenthalt gesundheitsschädlich wurde. Ueberdies gewährten die Höhlen auch keinen sicheren Schutz. Denn die engen Gänge, welche die Verfolger abhielten, wurden natürlich für die Eingeschlossenen gleich gefährlich, sobald diese durch Nahrungsmangel oder durch eine Kriegslist der Belagerer gezwungen wurden, die Höhlen zu verlassen. Letztere konnten z. B. Wasser in die Luftlöcher gießen oder Rauch in die Höhlen verbreiten und dadurch die Darinbefindlichen zum Verlassen ihrer Zufluchtsstätte zwingen.

Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, daß die Höhlenlabyrinthe Kultuszwecken dienten. Man führt zur Begründung dieser Ansicht an, daß die kleinen Nischen als Fackel- und Lichthalter, die großen dagegen zum Einstellen von Urnen gedient haben mögen. In der Decke vieler Gänge befinden sich enge röhrenartige Luftlöcher. Mitunter gehen diese Löcher auch von tiefen, in Mannshöhe angebrachten Nischen aus. Einige Forscher wollen in diesen Luftlöchern eine Art von Sprachrohr erkennen. Stellte sich ein Mann in die Nische und redete in das Sprachrohr, so wurde seine Stimme an der Oberfläche gehört; auf diese Weise sollen altheidnische Priester dem versammelten Volke ihre Orakelsprüche aus der geheimnisvollen Tiefe der Erde verkündet haben. Das sind jedoch ungenügend bewiesene Annahmen. Würde man in den Höhlenlabyrinthen Urnen oder Skelette finden, so könnte man sie mit Gewißheit für Grabstätten erklären. Man fand jedoch weder diese noch andere Spuren eines ehemaligen Gebrauches, nichts erinnert an das Vorhandensein von Menschen als nur der Rauch, der sich oberhalb der Lichtnischen an der Decke vieler Kammern befindet. Dieser Rauch rührt offenbar von Fackeln oder Lichtern her, die zur Erleuchtung der unterirdischen Räume dienten. Was jedoch die Menschen beim Licht ihrer Fackeln hier vornahmen, ob gute oder böse, ob religiöse oder weltliche Handlungen, das wird wahrscheinlich niemals vollständig aufgeklärt werden.