Drei Sommer in Tirol/Passeyer und Ulten

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Passeyer und Ulten.


Wenige Fremde gehen von Meran, ohne einen Ausflug nach Passeyer gemacht zu haben, zur Heimath Andreas Hofers, des Sandwirths und Obercommandanten von Tirol. Sie ist [347] zu Fuß oder zu Pferde in drei bis vier Stunden zu erreichen. Man geht an der Zenoburg vorbei über Riffian nach Saltaus, einem Edelhofe, der jetzt dem Bürgermeister von Meran gehört. Er ist zum Wirthshaus eingerichtet und der letzte Ort, wo auf dieser Seite die Rebe gezogen wird. Nachher wird der Pfad sehr schmucklos. Die wilde Passer strömt im engen unbebauten Thale; rechts und links sind hohe Berge, auf welchen spärliche Ansiedlungen.

St. Martin, das erste Dorf, das erreicht wird, erfreut sich der Wallfahrt zum rosenfarben Blut, wohin Andreas Hofer laut seines letzten Briefes seinen Seelengottesdienst verordnete. Eine Viertelstunde weiter steht die Wirthschaft „am Sand,“ ein einfaches Haus nach der Landesart, mit einer Laube versehen, mit Scheiben geschmückt und einem Schild, der eine Krone weist und die Namen: Andre von Hofer und Anna von Hofer geb. Ladurner. Neben dran steht ein hölzerner Schopfen, weiter draußen eine Capelle. Die Passer rauscht dran vorbei – mächtige Steinwehren stellen sich ihrem Andrange entgegen. Ein Brunnen sprudelt vor dem Hause, etliche Bäume umsäuseln es.

Wir betreten die Schwelle, die Kellnerin kommt und bringt den Wein, fragt allenfalls auch gesprächsweise, ob wir „des Sandwirths Sachen“ besehen wollen, und wir vertrauen uns ihrer Leitung.

Zuvörderst führt sie uns ins Gemach wo er schlief und seine Frau neben ihm. Die Bettstellen sind noch dieselben. An der Wand hängt das Bleistiftporträt seiner schönen Tochter, die ledigen Standes als Fräulein gestorben. Dort ist ferner der bekannte, auch von Lewald mitgetheilte Brief, den er vor seinem Tode von Mantua aus an den Hrn. v. Pichler schrieb. Ade mein schnede Welt, sagt der Sandwirth da – so leicht khomt mir das sterben vor das mir nit die Augen naß werden. Es ist eine gewöhnliche Bauernhandschrift ohne Zittern und ohne Correctur, ruhig und fest, wie er selbst war in der letzten Stunde seines Lebens.

Dann läßt man sich auch neben andern weniger erheblichen Merkwürdigkeiten Hofers Gewand zeigen, sein grünes [348] „Hemd,“ das ist seine Jacke, seine Hosen und seine Hosenträger, seine Sporen und seinen Hut mit den gestickten Worten: Andre Hofer, Obercommandant von Tirol – ein Werk der englischen Fräulein zu Meran; seinen Gürtel der die Anfangsbuchstaben der nämlichen Worte zeigt. Dieses Gewand hat zum letztenmale öffentlich getragen der Schwiegersohn des Sandwirths bei der Huldigung auf Schloß Tirol im Jahre 1838. Sonst hat man immer große Sorge, es vor den Engländern zu hüten, welche verschiedene Summen dafür geboten, auch verstohlener Weise schon manchen Fleck weggeschnitten haben, gleichwie sie in Italien und Griechenland von den Bildsäulen die abgeschlagenen Nasen als Andenken mitzunehmen pflegen.

Und nun öffnen wir auch das rothe in Saffian[WS 1] gebundene „Gedenkbuch,“ welches, laut des Titelblattes, der Familie Hofers durch das theilnehmende Wohlwollen des k. k. Obersten im Infanterie-Regimente Großherzog von Baden, Grafen v. Wimpfen, gewidmet worden ist. Man sagt, dieser elegante Denkstein sey von dem Widmer aus Paris verschrieben worden. Eine kurze Schilderung von des Sandwirths Leben und Thaten geht voran. Dieser hat Erzherzog Johann am 30 Jänner 1835 die Worte nachgesetzt:

„Vorstehende Schilderung ist die beste, welche über diesen treuen, edlen Mann voll Einfalt, Redlichkeit und seltener Uneigennützigkeit gemacht wurde. Er war der, welcher sein biederes Land so schön vertrat – er war der Blutzeuge von Tirol.“ – Es ist nicht zu verwundern, daß das Gedenkbuch fleißig benützt wird, um schöne Gedanken abzusetzen. Ich habe es lange durchblättert, gleichwohl nicht viel gefunden, was mich ansprach. Sehr zahlreich kommen darin die Engländer vor und die Tiroler Studenten. Einer von letztern gab als seine Gedanken an dieser Stelle Folgendes:

 
Ganz nahe an der Passer Strand
Ich Hofers kleines Häuschen fand.
Wohl, dacht’ ich mir, du großer Held,
Dich nennet schier die ganze Welt –
Doch leb’ ich lieber ungenannt,
Als wie gestorben weltbekannt.

[349] Ein Engländer, Robert Milman, schrieb folgende Verse ein, vielleicht die besten, die darinnen zu finden:


Stranger, spare the idle sigh –
For the stream gushing by
And the wild wind rushing nigh
And the free and noble eye
Of those for whom thou didst die,
Make the fittest elegy,
Purest son of liberty!

Weiter lesend bemerkte ich aber auch eine bedeutende Verwüstung in dem Gedenkbuch. Mehrere Blätter waren herausgeschnitten und so die Einträge mehrerer Wochen verloren. Maidele erzählte auf Befragen, das sey eine trübselige Geschichte; da sey vor kurzem ein junger Mensch über Nacht geblieben und andern Tages, als er wieder fortgezogen, habe sich in dem Buche ein Gedicht gefunden, ein schönes Gedicht, das den Leuten, die darnach gekommen, sehr gefallen habe. Andere hätten dann noch allerlei eingeschrieben, was zu dem Gedicht gepaßt, aber eines Tages sey ein vornehmer Herr aufgetreten, habe den Landrichter rufen und Alles herausschneiden lassen. Ich fragte neugierig nach dem Inhalt des Gedichts. Maidele wollte anfangs nichts davon wissen, aber allmählich gestand sie mit jungfräulicher Verschämtheit, sie habe auch ihre Freude daran gehabt, und es vom oftmaligen Lesen im Kopfe behalten. Nach längerem Zureden gab sie mir dann folgende Verse an:

Eh’ du zum Tod in Mantua gegangen,
Da schriebst du: Lebe wohl, du schnöde Welt!
So wenig ist mein Herz an dir gehangen.
Daß mir für dich jetzt selbst die Thräne fehlt!
Hast du geahnt, was spätere Tage brachten?
Wie fromm dein Hoffen und wie falsch die Welt –
Wie deine Thaten sie zu Nichte machten
Und deinen Wünschen die Erfüllung fehlt?
Sie nennen dich der Freiheit kühnen Helden
Und singen viel von deiner Siege Ruhm –
Was weiß dein Volk von diesem Sieg zu melden?
O sieh dich nicht nach seinen Früchten um! –
Sie preisen dich ob deiner ächten Treue,
Mit der du starbst, wie du in ihr gelebt.

[350]

Was thaten sie, damit dein Volk sich freue
Des schönen Zieles, dem du nachgestrebt?
Sie haben dir ein Wappen angehangen,
Ein stolzes Von dem Namen beigefügt.
Der Freibrief, den dein Thun und Tod verlangen,
Sag’ alter Hofer, sag, wo der jetzt liegt?
Sie haben zu den Fürsten dich begraben,
Du darfst dereinst mit Fürsten auferstehn.
Sie wollen todt dich noch im Auge haben,
Dein Volk nicht, nur die Fürsten sollst du sehn –
– – – –
Ja wohl, Ade du falsche Welt, du schnöde!
Schlaf fest, Andreas, hörst, sie lachen ja,
Sie schelten dich einfältig jetzt und blöde;
Dein Volk vergißt, was es einst that und sah –
– – – –
Du bist kein Held, hast keinen spielen wollen,
Doch du warst fromm und warst dir selbst getreu:
Das ist’s, woran die Deinen denken sollen –
Und dann, Tirol, wirst du vielleicht einst frei.

Später erst hörte ich etwas mehr von dieser trübseligen Geschichte. Das Gedicht stand, vielfach bestaunt, längere Zeit in dem Gedenkbuche, bis der Herr Finanzrath * von Brixen des Weges kam und im Sandwirthshause zukehrte. Er hatte auch sein sechzehnjähriges Töchterchen bei sich, welches als gebildete Tirolerin das Gedenkbuch aufschlug und emsig darin zu lesen anfing. Mitten drinnen rief sie bewundernd aus: Ach Papa, da lies einmal, was das für ein schönes Gedicht ist? Der Herr Vater, der sinnend über dem Weinglase gesessen, nimmt das Buch zur Hand, liest und verliert fast seine ganze Seelenruhe darüber. Das Töchterchen sieht mit Befremden seine Aufregung, hört, wie er nach dem Landrichter schickt, wie sie beide die gewichtigsten Worte wechseln, dann mit rauher Scheere die schlimmen Blätter herausschneiden und einen Eilboten nach Innsbruck entsenden. Der Vater freute sich der erfüllten Pflicht, das Töchterchen aber bedauerte noch lange, daß sie ihr Vergnügen nicht bei sich behalten.

Der jetzige Wirth am Sand ist Andreas Erb, der in erster Ehe mit einer Tochter Hofers vermählt war. Sie starb [351] vor wenigen Jahren. Todt sind auch die drei andern Sandwirths-Töchter, von denen zwei im Thale verheiratet waren, die dritte zu Wien verblich. Dort lebt noch sein Sohn Johann v. Hofer, der aber, wie man im Lande sagt, nicht recht gut thut. Des Sandwirths Enkel, Andreas v. Hofer, ist im Jahre 1838 mit dem Hofe belehnt worden, den Kaiser Ferdinand angekauft und als landesfürstliches Lehen erklärt hatte. Andreas Erb sitzt jetzt als Pächter darauf.

Ueber den Nachruhm Hofers nur wenige Worte. Was er als volksthümlicher Heros zu seiner Zeit, als rächender Blutzeuge in den Befreiungskriegen gegolten, ist bekannt. Ihn in jener Glorie aufzufassen, will aber den Tirolern in der Gegenwart nur schwer gelingen, schwerer noch den Landleuten, als den Gebildeten. Einmal war sein eigenes Unternehmen fruchtlos – der Landesherr blieb nach dem Kriege derselbe – und ferner entsprach auch der Gang der Dinge nach dem Heimfall an Oesterreich nicht ganz den Hoffnungen, die gehegt worden. So seufzt der Schatten des unglücklichen Helden unter doppelter Verantwortlichkeit – erstens weil er einen Aufstand erhoben, der Gut und Blut seiner Landsleute nutzlos aufzehrte, dann weil er etwas gewollt, was, wenn es die Ereignisse herbeiführten, hinzunehmen war, was aber nicht mit Gewalt hätte erstrebt werden sollen. Die Stunden der Begeisterung sind vergangen – man berechnet jetzt nur die Erfolge. Dieser wegen glaubt man nicht, daß man ihm etwas zu danken habe. So vergißt man gerne „von seinen Tugenden zu reden, von seinem christgläubigen Sterbemuth, von vielem Guten, das an ihm war,“ *)[1] von seiner Milde, setzen wir hinzu, die er gegen die Feinde pflog, von seiner Menschlichkeit im wüthenden Volkskriege, von seiner Redlichkeit und seiner Treue. Man hebt mehr den Sandwirth hervor, der vor Schulden sich nicht mehr anders zu helfen wußte, als eine Rebellion zu machen, der fromm und einfältig nicht bedachte, was er that, der nie einem [352] Rufe hätte folgen sollen, dem er nicht gewachsen war. Solche Ansichten sind verschiedener Fassungen fähig; wir wollen aber nicht zu den grellsten übergehen, keines von den vielen bittern Worten wiederholen, die wir hörten, wenn seines Namens gedacht wurde. Was wir andern in deutschen Schriften an Begeisterung eingesogen für das tirolische Anno Neun, das ist im Lande selbst schwer zu retten vor der kühlen Anschauung der Söhne jener Freiheitskämpfer.

Ueber den Verrath, der an dem treuen Helden verübt worden, waren die Stimmen noch manches Jahr nach seinem Tode sehr getheilt. Daß ihn ein Passeyrer, Namens Johann Raffel, auf seiner Alpenhütte ausgespürt und dann die Franzosen hinaufgeführt – dieß steht fest. Am verlässigsten erscheint jedenfalls die Erzählung seines letzten Schreibers, des Cajetan Sweth, später Staatsbuchhaltungs-Official zu Innsbruck, der mit dem Sandwirth auf der Pfandlerhütte im Drachenwald gefangen und dann mit ihm nach Mantua geführt wurde. Dieser Bericht erschien zum erstenmale veröffentlicht 1832 im österreichischen Archiv für Geschichte und wurde daraus im Tirolerboten desselben Jahres abgedruckt. Die Erzählung bei Lewald beruht auf derselben Quelle, zeigt aber einige unwesentliche Verschiedenheiten. Früher galt, zunächst nach Hormayrs Zeugniß, der Priester Donay als der Anstifter des Verrathes; Sweths Bericht aber läßt ihn aus dem Spiele, und im Lande selbst scheint sein Andenken von diesem Flecken gereinigt. Die Lebensbeschreibung, die dem Hofer-Album im Sandwirthshause vorgesetzt ist, behauptet auch, jener Raffel sey „im Zustande der Trunkenheit – wolle Gott – unfreiwilliger Verräther“ geworden. Wirklich soll er wie man hört im Wirthshause berauscht verrathen haben, daß er den Zufluchtsort des überall gesuchten Obercommandanten wisse. Der damalige Landrichter von Passeyer habe ihm dann zugeredet, diese Kunde bei sich zu behalten – doch sey die Sache ruchtbar und Raffel vermocht worden den Zug in die Alpenhütte hinauf zu führen. Später erhielt er einen kleinen Dienst bei der Mauth zu München – wie er geendet, ist mir nicht bekannt.

[353] Gehen wir vom Sandwirthshause weiter, so erreichen wir bald St. Leonhard, den Hauptort des Thales und Sitz des Landgerichts – ein hübsches baumreiches Dorf mit vielen steinernen Häusern, von der Passer durchrauscht. Im Winkel des Thales, wo der vielbetretene Weg über den Jaufen anhebt, steht die stolze Jaufenburg, aus deren Fenstern man in die von Löwenberg bei Meran sieht. Sie war einmal der Sitz eines ansehnlichen Geschlechts, jetzt wohnt ein Bauer darin. Zur linken Seite, der Passer nach, gelangt man in die innern Schlünde des Thales, die auf den Timmels führen, von welchem man ins Oetzthal niedersteigt.

Um die beiden Dörfer her, um St. Leonhard nämlich und St. Martin sieht man auf den Halden noch mehrere Höfe, die ansehnlicher sind als gemeine Bauernhäuser, ja mitunter sogar wehrhaft und streitbar wie kleine Bergvesten. Dieß sind die Schildhöfe von Passeyer, ursprünglich eilf an der Zahl. Sie waren sämmtlich landesfürstliche Lehen, mit manchen Freiheiten begabt, wofür der jeweilige Lehensträger bei den alten Grafen zum zeitenweisen Hofdienst auf Schloß Tirol verpflichtet war. Ihr Hauptmann war der Herr von Jaufenburg. Jetzt sind die Höfe alle von Bauern bewohnt – zur Erinnerung an den alten Stand erschienen aber die ehrsamen Mannen nach langem Laufe der Zeiten wieder zum Hofdienst und zur Burgwache auf Schloß Tirol im Jahre 1838 an jenem Tage, als der Kaiser Ferdinand in der alten Veste den Enkel des Sandwirths belehnte.

Beim Stroblwirth zu St. Leonhard ist ungefähr die beste Einkehr. Der Wirth, als der Sohn eines der innigsten Vertrauten des Sandwirths, erinnert sich noch an manches Merkwürdige aus jener Zeit. Oben in dem Schlafzimmer, das uns angewiesen worden, betrachteten wir fast überrascht ein älteres Bild, ein lebendiges Schlachtengemälde, darstellend eine riesige Eiche, in deren Aesten Herrmann Balkhe, der deutsche Ordensmeister, ein hölzernes Castell erbaut hatte, welches vor unsern Augen von den heidnischen Preußen belagert, von den deutschen Rittern vertheidigt wurde. Auf derselben Stelle, wo die Eiche gestanden, soll, nach beigeschriebenem [354] Texte, die Stadt gegründet worden seyn, die noch jetzt den Namen Doorn (Thorn) führt. Das Bild ist voll naiver Einzelheiten, voll deutscher Herren, die in ihren weißen schwarzbekreuzten Kriegsmänteln, wie schmetternde Waldvögelein auf den Zweigen der Eiche sitzen und mit Schwert und Streitaxt, Pfeil und Speer die anklimmenden Heiden abwehren. Das wundersame Bild, das uns aus dem Burggrafenamte, aus dem sonnigen Gau an der Etsch, von der Wiege des tirolischen Freiheitshelden hinweg führte in das nebelige Moor- und Waldland an der mitternächtigen Bernsteinküste, von den „Rittern im Lodenhemde“ zu jenen andern im Eisenpanzer – dieses Bild hing, wie man uns sagte, früher im Pfarrhofe und der Pfarrhof gehört seit vielen Jahrhunderten dem deutschen Orden, der zumal auch in der Gegend von Bozen reiche Güter hat.

Die Passeyrer nennen ihr Thal nicht ungerne ein „warmes Ort“ und in der That wird es von den Seitenthälern des deutschen Südtirols das mindeste rauhe seyn. Die Vergleichung der Meereshöhe von Meran, welche zu 1000 Wiener Fuß anzunehmen ist und jener von St. Leonhard, welche wir zu 2192 aufgezeichnet finden, stellt heraus, daß man im Thale um mehr als 1000 Fuß höher steht, als draußen im Lande, und eben so viel beträgt das Gefäll der Passer auf dem kurzen Laufe von vier Wegstunden. Der Mais kommt hier noch gut fort und wenn er eingeerntet, wird auf demselben Felde noch Buchweizen gebaut. Schade nur, daß die tragbare Fläche so gering ist. Als gutes Obst gelten die Passeyrer Kirschen, zu Meran die Bergkirschen genannt, klein, säuerlich und gesund, welche erst auf dem Markte erscheinen, wenn die großen und ansehnlichen, welche an der Etsch wachsen, schon lange vergessen sind. Die Passeyrer Kirschen und die Erstlinge der Meraner Trauben fallen gewöhnlich in dieselbe Zeit.

Das Thal Passeyer als das nächste am Schloß Tirol, dessen Bewachung seinen Mannen übergeben war, welche nebenbei auch zu den nächsten Kämmerern der Gräfin Margaretha und ihrer Nachfolger ernannt waren, es wurde von jeher gewissermaßen als das fürnehmste des Landes angesehen. [355] Der herrliche Clan der Passeyrer, wie ihn Hormayr nennt, hat auch zu allen Zeiten diesem Ansehen zu entsprechen gewußt. Wenn Unordnung im Lande war, wie 1762 im Burggrafenamt, hielten sich diese Thälerer an Gesetz und Ordnung; wenn aber zum heiligen Kriege aufgerufen, wie 1703 und 1809, waren sie kühn und heldenmüthig vor allen. Ihrer wird von Augenzeugen aus letzterem Jahre nach oft gedacht als biederer edler Kämpen, die das Waffenhandwerk nie mißbrauchten, sondern mitten in der Wuth des Bruderkrieges schonend blieben und menschlich. So erzählt auch der bayerische General Bauer von ihrer ruhigen Ergebenheit in den Tod, und es sey kein Beispiel, daß von mehreren, die nach dem Ausspruche des Kriegsgerichtes hingerichtet wurden, einer anders gestorben sey, als mit der größten Standhaftigkeit. Ihre Heldentugend hat sie auch den Frauen theuer gemacht, und die Tirolerinnen sprechen mit Vorliebe von den Söhnen dieses Thales. In Meran habe ich noch ein betagtes Fräulein getroffen, das, so oft von Anno Neun die Rede war, mit Begeisterung zu reden begann von dem edlen und herrlichen Benehmen der Passeyrer, wenn sie auf ihren Kriegsfahrten in die Stadt kamen. Jetzt in der Friedenszeit zeigen sie sich vor allem fromm, andachtslustig, ruhig und ergeben, eher ernst als heiter, dem alten Herkommen unverbrüchlich treu, ein mildes stilles Völklein, leicht zu lenken durch seine Priester und seine Beamten, wenn es ihnen Vertrauen schenkt. Ihr Vortrag ist singend und weich – ein Ton in dem auch der Sandwirth redete – was indessen mit einer derben, gebirglerischen Ausdrucksweise gar nicht unvereinbar ist. Man hat die Passeyrer lange im Verdacht gehabt, als lebe in ihnen noch eine geheime, sonst unter den Bauern ausgestorbene Erinnerung an die alten Landesfreiheiten, eine überlieferte Kenntniß hergebrachter und vor langen Zeiten verbriefter Gerechtsame, eine volksthümliche Wissenschaft vom alttirolischen Staatsrechte, aber das ist in jetziger Zeit wohl eine grundlose Einbildung. Doch hörte ich eines Tages eine witzige Dichtung lesen „den Jahrmarkt zu Imst,“ worin alle deutsch-tirolischen Thalschaften, jede mit ihrem Dialekte, auftreten. Dabei ist [356] insbesondere der Passeyrer nicht vergessen. Das Stück spielt im Spätjahre 1830, wo Europa unruhig war, und der Dichter läßt daher die wohlunterrichteten Innsbrucker behaupten, die tirolischen Jäger müßten nach Wälschland marschiren, was eigentlich gegen die Verabredung. Deßwegen haucht der Poet in Anspielung auf jenen Zug dem Passeyrer folgende Worte ein:

Die Jager aus dem Lande ze thien –
Das möchte gegen unsre Rechte gien?

worauf denn freilich der loyale Höttinger, aus der Vorstadt von Innsbruck, nichts anders entgegnet als:

Du Dott’l, was red’st jetzt da daher!
Da wird man g’wiß enk Passeyrer fragen –
Gegen unsre Rechte ging noch mehr;
Geh’ nunter zum Kaiser und thu di beklagen!

Indessen, wie gesagt, die Passeyrer haben diese schwierige und heikle Wissenschaft nunmehr auch den „bessern Leuten“ überlassen und leben von dem dürftigen Ertrag ihrer engen Feldungen, verarmen aber immer mehr und nehmen auch alle Jahre ab an Seelenzahl. Die Noth drängt sie zu auswärtigem Erwerbe; viele gehen als Kraksenträger Jahr aus Jahr ein über den Jaufen und tragen das Meraner Obst und die Küchelberger Trauben auf den Markt zu München. Selten kehren sie dann wieder, ohne etwas bayerischen Tabak ins Vaterland zu schmuggeln. Andre sind dem Viehhandel ergeben und treiben sich speculirend in Wälschtirol herum. Dieß soll ihnen aber einen Schliff und eine weltliche Pfiffigkeit verleihen, die sie ihren Brüdern in der Heimath sehr unähnlich machen und von all den Tugenden, die man jenen beilegt, will man bei ihnen die wenigsten wieder finden. Einem jungen bildschönen Sohn des Thales begegnete ich einst in den Gassen von München und erhielt auf die Frage, was er da zu thun habe, die bescheidene Antwort: Modell stehen bei den Malern! Die schöne Gestalt der Passeyrer darf auch wirklich nicht unerwähnt bleiben, und hat noch die Anerkennung aller Reisenden gefunden. Ihre Tracht gleicht in den Hauptzügen jener der Bauern um Meran, doch fehlen die farbigen Aufschläge und die rothe Weste vertritt ein breiter, braunlederner, schön [357] ausgeschnittener Hosenträger. Die üblichen Wollhauben der Weiber sind hier kürbisförmig. Ueber die Reinlichkeit in ihren Häusern läßt sich nicht viel besseres sagen, als über die ihrer Nachbarn an der Etsch.




Und somit gehen wir wieder auf dem stillen, öden Wege an der Passer zurück und bereiten uns in Meran zu einer Fahrt ins Ultnerbad. Hiefür ist nicht schwer Gesellschaft zu finden, denn die Ultnerfreuden werden von den Meranern einmal des Jahres wenigstens gerne genossen. Die Frauen reiten auf Eseln aus, die Herren gehen nebenher. Kehrt man in Löwenberg ein, so erquickt Herr Kirchlechner mit seinen feurigen Weinen und der große Saal im Schlosse hat eine herrliche Aussicht. Ein Thurm und eine Capelle sind noch aus älterer Zeit, das übrige winkelige Bauwerk haben die Herren, später Grafen von Fuchs hergestellt, welche die Burg von den alten Rittern von Löwenberg am Anfange des sechzehnten Jahrhunderts erheiratheten und dann bis in das unsere herab besaßen. Um dieses Schloß schlich voriges Jahr im Mondscheine ein Münchener Dichter und sang darnach:

Hier wanderte ich um Mitternacht
Die Mauern entlang, die düstern;
Da hörte ich aus dem alten Gebäu
Unheimliches Rauschen und Flüstern.

Es war die Zeit, da man vom Stock
Die glühende Traube gelesen.
Ich glaube es sind die Geister, die
Weinprobe hielten, gewesen.

Denn deutlich vernahm ich Toast um Toast,
Doch keinem Lebenden galt es;
Die Todten nur ließen sie leben, zuletzt
Ihr Vaterland, ihr altes.

Hält man sich nun in der Niederung, so kömmt man in einer halben Stunde über den Valzauerbach nach Lana, einem langen, zerstreuten gartenreichen Dorfe, an dessen anderm Ende die Kirche steht, welche einen prächtigen gothischen Altar [358] bewahrt. Unter die Häuser des Dorfes sind mehrere adelige Ansitze eingeflochten, jenseits der Kirche aber stehen am Anlauf der Höhe die Trümmer des alten Schlosses der Herren von Brandis, welche in sehr frühen Zeiten von den Ufern der burgundischen Aar einen Zweig an die rhätische Etsch getrieben. Die Brandise haben in der Grafschaft Tirol zu verschiedenen Zeiten hohe Würden bekleidet; ein Graf Clemens von Brandis, um die vaterländische Historie verdient durch seine Geschichte Friedrichs mit der leeren Tasche, ist gegenwärtig Landesgouverneur. Einer seiner Ahnen, der fürstlichen Grafschaft Erbsilberkämmerer, Franz Adam, Graf von Brandis, hat des tirolischen Adlers immergrünendes Ehrenkränzel geschrieben, eine „zusammengezogene Erzählung jeniger schriftwürdigisten Geschichten, so sich in zehn nacheinander gefolgten Herrschungen der fürstlichen Grafschaft Tirol von Noe an bis auf jetzige Zeit zugetragen.“ Es ist zu Bozen im Jahre 1678 gedruckt und wäre zum Nachschlagen über die Geschichte tirolischer Herrschaften, Schlösser und Geschlechter *)[2] nicht übel eingerichtet, wenn man sich nur mehr darauf verlassen könnte. Die Urgeschichte ist zunächst nach Aventin bearbeitet mit den bekannten fabelhaften Namen und Thaten nachsündfluthlicher Könige deutscher Nation. – Unterhalb der alten Veste steht ein junges Landhaus, Neubrandis, jetzt ein Herbstaufenthalt des Grafen Gouverneur.

Jene, welche während des Septembers in Meran verweilen, sollen nicht unterlassen am achten dieses Monats früh Morgens sich in Lana einzufinden. Es wird da große Procession zur Feier Mariä Geburt gehalten, eine Festlichkeit, welche die Ultner, die Passeyrer, die Vintschger und die Leute bis nach Eppan hin heranzieht. Der Gasthof zum Rößl, diesseits der Valzauerbrücke, ist da besonders gut gelegen für [359] diejenigen, welche nicht selbst mitgehen, sondern den Umgang nur beschauen wollen. An einem heitern Tage ist derselbe in der That ein schönes, der Erinnerung werthes Bild. Da marschiren im festlichen Sonnenschein und feierlichen Glockenklang die schönen Schützen von Lana daher mit ihrem Hauptmann, den ein großer Federhut beschattet. Dann nahen sich langsam und schweren Ganges die Kirchenfahnen, alle ungeheuer groß, eine darunter besonders mächtig und ungethüm. Von der Raae herab, die den geweihten Segel hält, laufen rothe Taue in die Hände kräftiger roth und weiß gekleideter Männer. Zwei gehen hinter drein, zwei voraus, rückwärts gewendet; alle aber betrachten sorgsamen Blickes, wie Wind und Wetter mit dem heiligen Maste spielen, um nachzugeben oder anzuziehen, je nachdem er wankt. Vor dem Rößelwirth stellen sich die Schützen auf, und nun zieht der ganze Umgang unter unsern Augen vorbei. Der geweihten Bilder, die mitgetragen werden, ist eine große Zahl. Der heilige Papst Urban, derselbe der den Tannhauser so übel angelassen, sitzt in einer schattigen Laube von frischen Trauben umspielt, als der Patron der Weinbauern. Und während mein Auge St. Urban und seinem grünen Gezelte folgte, kam die Himmelskönigin selbst daher mit Krone und Scepter, voll lieblicher Steifheit, im Reifrock von Goldbrocat und blüthenweißer Allongeperrücke, den gekrönten Sohn im Arme. Diese süße Last lag auf den Schultern schöner Jungfrauen, welche Laubkränze um die Schläfe trugen. Ferner war St. Michael erschienen und St. Sebastian, der fromme Jüngling. Den Erzengel stellte ein Kind vor, mit Helm, Fittigen und seidenem Mäntelchen geschmückt. Zwei Knaben, weiß und grün, als Schäfer gekleidet, geleiteten den Engel und mehrere Mädchen als Genien waren auch dabei. Ebenso wenig fehlten Isidor, der spanische Bauer und Nothburga, die heilige Magd aus dem Innthale, die zwei himmlischen Landleute. Als das hochwürdige Gut vorüberzog, erscholl es „zum Gebet,“ die Schützen nahmen den Hut ab und ließen sich aufs Knie nieder. Dasselbe that alles männliche Landvolk und die Frauenleute, alle weißärmelig, [360] rothstrumpfig, dunkelrockig, bloßhauptig, fielen auch zur Erde und der Segen ging unsichtbar aus über ihre blonden Scheitel.

Der Eingang des Ultnerthales ist wie der von Schnals, Gröden, Sarnthal und andern so beschaffen, daß man allererst über einen hohen Berg hinanklimmen muß. Der Bach, der das Thal durchströmt, stürzt nämlich in das Etschland heraus durch eine tiefgerissene, steile, grauenhafte Schlucht, die nicht zu begehen ist und der Weg mußte daher über den hohen Sattel gelegt werden, den der Bergstrom, aber nur für sich allein, durchrissen hat. Ist nun diese Höhe erreicht, so senkt sich der Pfad thaleinwärts wieder hinab und da das Bett des Baches seiner Seits hinansteigt, so finden sich weiter drinnen Weg und Wasser allmählich wieder zusammen.

In einiger Höhe über Lana, an den schwarzen Abgrund hingepfropft, liegt die Veste Braunsberg, noch ziemlich gut erhalten, aber sehr bescheiden in ihrem Wesen. Das scheint ein dürftiges Herrengeschlecht gewesen zu seyn – die Ritter von Braunsberg, die sich mit ein paar rauchigen, halb dunkeln Stuben und einer Stallung für ein paar Rosse begnügten, und ihre Bequemlichkeit wahrscheinlich auswärts suchten. In der Burgcapelle ist ein Gemälde, auf dem sich eine rothstrumpfige Gräfin in den Schlund der Valzauer stürzt – eine Darstellung aus einer Sage, die hier nicht wiederholt zu werden braucht, da sie in Johannes von Müllers Schweizergeschichte im vierzehnten Capitel des ersten Buches getreulich wieder gegeben; nur wird sie dort von der Gräfin Ida von Tockenburg erzählt, hier von der Frau Jutta von Braunsberg.

Wenn man die Höhe erstiegen und damit das Weinland verlassen hat, sieht man nach einiger Zeit die Trümmer von Eschenloh auf einem Bühel, dessen Halden eine Fichtenwaldung schmückt. Aus dem verfallenen Mauerwerk ragt ein bedachter Thurm auf, den die Grafen von Trapp, die Pfandherren der Burg, zu erhalten haben. Die Gegend umher ist öde und wild. Das Geschlecht der Herren von Eschenloh hält man für ein und dasselbe mit jenem, das zu Eschenloh an der Loisach im bayerischen Gebirge saß. Heinrich von Eschenloh [361] trug das Hauptbanner von Oesterreich in der Schlacht bei Sempach und fiel daselbst. Bald darnach erreicht man auch St. Pankraz den Hauptort des Thales, wenn an einem Sonntage, sehr geeignet, um viele Thälerer beisammen zu sehen und unlieb zu bemerken, daß außer den grünen Hütchen die Thaltracht in den schlichten Jacken und langen Hosen der nahen Wälschen untergegangen ist. Ultenthal galt sonst im Süden, was Zillerthal im Norden des Brenners – Lustbarkeit, Liedersang, Sagen und Mährchen, bedeutsame Volkssitten hatten hier vor Zeiten ihre süße Heimath – jetzt ist’s aber so ziemlich wie die andern, eben so andächtig und eben so freudenlos.

Von St. Pankraz geht der Weg am Bache fort, bis sich nach einer halben Stunde zur linken eine Schlucht öffnet, welche jene betreten müssen, die ins Mitterbad von Ulten wollen. Abermals nach einer halben Stunde erreicht man auf ansteigendem Wendelpfad diesen berühmten Curort. An den Geländern der Terrasse stehen schon die ältern Gäste und harren neugierig, was der Tag wieder für neuen Zulauf bringen werde.

Ultnerbad ist das besuchteste in Deutsch-Tirol und zählte zum Beispiel im Jahre 1842 gegen achtzehnhundert Gäste. Das Wasser ist eisenhaltig und oft von wunderbarer Wirkung. Des Bades Aeußeres ist sehr anspruchslos; ein einstöckiges gemauertes Gebäude, in dessen Erdgeschoße der Speisesaal; das Hinterhaus von Holz. Neben dem Badehaus steht ein andres, worin Nachmittags Kaffee getrunken, Abends getanzt wird; nicht weit davon die Capelle, fleißig besucht, belebt von Messen, Vespern und Rosenkränzen, welche die geistlichen Gäste hier abhalten. Als Spaziergang dient die kleine Terrasse vor der Anstalt, die freilich nur für die Schwachen und Siechen ausreicht. Rasche, kräftige Jugend muß sich Bewegung in den Bergen suchen, die von allen Seiten aufragen.

Es ist erstaunlich, was manche dieser Bergbäder für reizlose Lagen haben! Die des vorliegenden ist die Unschöne selbst – ein schmales Gereute in einem engen Waldtobel, keine Aussicht als auf rothe Wände, mageren Forst, unbebaute [362] Halden und einen mäßigen Fleck vom blauen Himmel. Nur weit drüben und hoch oben sieht man Kornfelder und aus schwarzen Fichten einen weißen Kirchenthurm spitzen, St. Helena, wo ein Cooperator wohnt, hoch über den Pomeranzen der Etsch, weßwegen auch, wie der Ultner Wirth witzelte, nur ein solcher hinaufgestellt wird, der diese Frucht nicht besonders liebt. So gehen die Leute aus dem Zauber des Etschlandes, aus dem freundlichen Nonsberg gleichsam auf vierzig Tage in die Wüste, um ihr Auge zu kasteien für die sündliche Lust, die es das ganze Jahr über an der Schönheit der Natur gehabt. Billigerweise lassen sie den Magen nichts daran entgelten, denn die Ultnertafel ist fast noch reichlicher besetzt, als die andern Badetische in Tirol.

Die Gesellschaft ist sehr bunt; doch halten sich die Stände genau auseinander. Im vordern Gebäude wohnen „die bessern Leute,“ im hölzernen Hinterhause „die mindern.“ Die bessern Leute deutschen Stammes betrachten die Curzeit als Landaufenthalt und erscheinen durchweg in sehr schlichter Aeußerlichkeit, abstechend von den wälschen Gästen, die in makelloser Eleganz und Vornehmheit einherziehen. Ihre Wohnungen sind hölzerne Verschläge, enger als Klosterzellen, bloß zum Schlafen eingerichtet. Um zu schreiben und zu lesen kommt ohnedem niemand ins Ultnerbad. Freilich behauptet man, der Wirth habe seiner Zeit eine ganz hübsche Bibliothek gehabt, aber die Geistlichen hätten ihm allmählich seine besten Bücher ausgeführt, weil sie sie für sündhaft erachtet. Zartes, blaustrumpfiges Theeleben mit seelenvollem Vortrag eigener Gedichte, mit geistreicher Durchhechlung fremder, Vorlesungen shakespearischer Schauspiele in Tiecks Manier, wortreiche Raisonnements über Kunst und Litteratur, derlei immer feine, doch oft sehr abtödtende Genüsse wird man in Ulten vergebens suchen – dafür findet man aber, abgesehen von den Tafelfreuden, andre sehr wesenheitliche Unterhaltungen. Es ist in der That ein wunderbars Ding, daß Fröhlichkeit und Lebenslust, die man unten im heitern Thale bei den Gesunden ganz unterbunden, abgetrieben und ausgetrocknet, daß diese da oben in dem finstern Bergloche unter den Kranken [363] und Todesnahen erhalten worden sind. Hier im Ultnerbade wird nicht allein von den böhmischen Musikanten, die alljährlich sich einfinden, Tafelmusik aufgespielt, sondern des Abends auch zum Tanze und nicht etwa auf einen Dreher oder zwei, sondern gleich bis nach Mitternacht; ja wenn unternehmende Jugend beisammen ist, geht’s oft schon wieder in der Frühe hinüber in den Ballsaal. Freilich sagt man, wie an andern Orten, so auch in Ulten: es heißt halt a nicht mehr – aber mir scheint’s noch immer ein sehr ausgiebiges Trumm von Weltlust. Wenn man übrigens in ältern Büchern nachschlägt, so findet man, daß diese Badefreuden des Sommers auch schon ein ziemliches Alter für sich anführen können. So haben wir Nachrichten über das Bad zu Maistatt im Pusterthale, wo im Jahre 1511 Kaiser Max selbst längere Zeit sich aufhielt und seine heitere Laune spielen ließ. Die Badegesellschaft nannte sich die Hanse und legte ein eigenes Hansenbuch an für ihre Namen und geistreichen Einfälle. Das Badeleben an demselben Orte zeichnete sich auch im vorigen Jahrhundert wieder durch einen früherwachten Sprachreinigungstrieb sehr vortheilhaft vor andern aus. Für jedes Wort eines Gastes, das nicht ganz „glatt und reindeutsch“ wäre, sollte nach Statut von 1733 ein Kreuzer bezahlt werden. Das Strafgeld betrug nach Ablauf der Curzeit 21 fl. 6 kr. und wurde der Capelle zugewendet. Es waren also im Maistätter-Bad während weniger Monate eintausend zweihundertundsechsundsechzig undeutsche Worte gebraucht worden. So erzählt auch Guler von Wineck am Anfange des siebzehnten Jahrhunderts vom Bade bei Worms (Bormio im Vältelin), wie dasselbe weit berühmt sey bei Holländern und Gothen, so daß bei ihnen das Sprüchwort gelte: Wormserbad heilt allen Schad – wie da frei stehe Männern und Weibern zu ihrem Gefallen zu baden, wo sie gerne wollen, doch in aller Zucht und Ehrbarkeit, eine Anmerkung, die der Zeichner des beigefügten Holzschnittes freilich übersehen zu haben scheint. Nach einer etwas anzüglichen Bemerkung über die deutschen Frauen, die dahin kommen, fährt der ehrliche Bündner fort: „Insbesondere ist das Bad gebraucht von den Etschleuten, [364] den guten Zech- und Schluckbrüdern, die von wegen des starken Trinkens durch ihre starke Weine und ungesunde Luft demnächst contract werden. Viele Leute jung und alt, Mann und Weib, die frisch und gesund sind, kommen dahin allein von gutem Luft, Kurzweil und Ergötzlichkeit wegen, da sie dann allerlei Schimpfspiel anheben und sich mit Singen, Ringen, Springen, Tanzen, Zechen und andern Belustigungen erquicken. Die Einwohner von Worms erweisen den Badleuten viel Zucht und Ehr als auch mir passirt ist, indem sie mir allerlei Gattung Wein, Zuckerwerk, ausbündige wälsche Frücht’, allerhand Wildpret und herrlich gute Fisch’ verehrt.“

Mit Ausnahme der letzterwähnten Xenien hat Guler hiemit auch das Ultner Badeleben sehr gut geschildert. Hieher kommen ebenso viele Leute, jung und alt, die frisch und gesund sind, allein von guter Luft, Kurzweil und Ergötzlichkeit wegen, nur daß mancher ältere Gast jetzt ungern die fahrenden Fräulein aus Wälschland vermißt, die noch vor wenigen Jahren ganz allein und eigens übers Gebirge stiegen, um mit den frumen Deutschen im Mitterbade der edlen Minne zu spielen. Von Singen, Springen, Tanzen, Zechen soll hier nicht weiter geredet werden, aber was sie da vordem für angenehm Schimpfspiel anhoben, läßt sich nach mancher Erzählung noch jetzt leicht erschließen; wie zum Beispiel ein noch nicht vergessener Scherz darauf beruht, daß aus den Badezellen der bessern Leute die Wannen einige Zoll in den Gang hinausreichen, um dort gefüllt zu werden und daß dieser Vorstoß mit einer Klappe versehen ist. Wer schaudert nun nicht bei dem ungeschmückten Bericht, daß die jungen Herren eines Tages Forellen in der Valzauer holten, um deren je drei den Damen die sie auszeichnen wollten, in die Wanne zu werfen, und wer kann sich nicht das plötzliche und holdselige Wirrsal denken, als die feinen Mädchen aus dem Etschlande die kleinen Haie an ihren frischen Gliedern hinschießen fühlten?

Wandern wir nun durch das mittlere Gebäude, das den Wohnort der bessern Leute mit dem der mindern verbindet, so finden wir zu ebener Erde die Gemeinbäder der letztern, wo in geräumigen Verschlägen die beiden Geschlechter getrennt [365] sind. Da geht in großer Eile und Geschäftigkeit der Chirurg von St. Pankraz umher und applicirt Aderlässe, Schröpfköpfe und Blutegel – ein eigener Badearzt ist nicht vorhanden, aber alle ärztlichen Curgäste ordiniren unentgeltlich. – Da sah ich zuerst ein Nonsberger Kindlein, das in einem winzigen Männchen lag, während die Mutter zu ihm niederkauernd italienische Wiegenlieder in seine Ohren summte, wobei die vorübergehende Bademagd murrend schalt: dem Kindlein da ist das Wasser auch viel zu stark und die Mutter gibt keine Ruhe, bis es zu Tod gebadet. – Ultnerwasser ist nämlich keines, mit dem man spielen darf. Wenn die Leute in die Wannen gestiegen, werden die Thüren der Verschläge geöffnet, und den Besuchern Zutritt gestattet. Da liegen sie dann alle reihenweise zugedeckt in ihren Särgen, während ihnen zu Häupten und zu Füßen die Befreundeten sitzen. Die deutschen Landleute benehmen sich auch in dieser Lage sehr ruhig, die italienischen Weiber verursachen dagegen großen Lärm, und wenn eine aus ihrer Wanne heraus ein kräftiges Witzwort entsendet, so erhebt sich ein sinnverwirrendes Gelächter. Es ist ziemlich dunkel in diesen Räumen. Aus den Ritzen einer Nebenkammer schimmerte ein Licht; plötzlich sprang die Thüre auf und drinnen zeigte sich, zauberhaft beleuchtet von der kleinen Lampe, ein bildschönes, halbenthülltes Landmädchen. Mir fielen die Augen zu bei diesem verbotenen Anblick – unter einem Schrei schnappte auch das Pförtchen ein und ich suchte erschreckt den Ausweg aus dem nicht geheuern Orte. Ueber diesem ist ein langer Gang, auf den die Wohnzimmer der mindern Gäste herausgehen. Auch hier sind unter Tags, da die winzigen Fensterlücken wenig Licht gewähren, die Thüren offen. Da sieht man manche arme Seele, die gewiß nicht der Sommerluft wegen sich hiehergeschleppt – etliche sitzen vor den Thüren, der frischen Luft wegen, andere liegen todtenbleich, grabgerecht in den Betten. So muß sich zuweilen ein frommer Badgast auf den Tod bereiten, während die böhmischen Walzer lebenslustig in sein Sterbekämmerlein schallen. Ein junges Mädchen aus Salurn war da schon in der sechsten Woche gliederkrank, konnte sich nicht rühren, lag aber freundlich [366] und geduldig auf ihrem Lager. Eine Bauernmaid, deren Theilnahme sie gewonnen, saß bei ihr und las aus der Legende vor. Ich machte auch meinen Krankenbesuch und stillte gerne die Neugier, wo ich denn zu Hause sey. Pater Florin, der greise, milde Capuciner aus Lana, löste mich bei ihr ab. Darauf stieg ich wieder in den lebhaften Hof hinunter. Ein alter, ärmlicher Bauersmann mit schneeweißen Haaren lag dort auf einem Sack an der Sonne, todesmüde. Er schloß die Augen – ich glaubte für immer – doch erwachte er an meinen Schritten, blickte mich an und lispelte: wo bleiben Sie? Neben dem alten Bauer saß regungslos ein junger, verwelkten Ansehens, stille Entsagung im Gesichte. Auf seinem grünen Hosenträger war ein rothes Herz eingestickt, das ein Pfeil durchbohrte. Sollte das etwas zu bedeuten haben? Solche bedauernswerthe Gestalten sah ich noch mehrere, jedenfalls genug um beizustimmen, wenn Dr. v. Hörmann in seiner Schrift über die Bäder des Etschlandes sagt: Ja, der Mensch im Gebirgslande ist keineswegs ein Riese an Kräften und Körperbau.

Diese Behauptung ließ sich weiter belegen aus den Erscheinungen hinten im hölzernen Hause, wo die mindern Leute Mittag- und Abendmahl halten und in den Zwischenzeiten etwa ein Gläschen trinken. Gleichwohl besteht auch da eine bedeutende Minderheit aus Gästen, die das Wasser nur so nebenbei gebrauchen. Hier kommen dem Belehrungslustigen unter andern jene Sprachgränzbauern in den Wurf, welche da oben über dem Grate zu Unser Lieben Frau, Laureng und Proveis sitzen, in den deutschen Dörfern, die sich am obersten Bergsaume des wälschen Nonsberges finden, alle in wenigen Stunden zu erreichen, denn was wir schon längst hätten anbringen können, alsbald jenseits des Bergzuges, der die rechte Seite des Ultnerthales bildet, fängt das italienische Val di Non an. Die Bewohner dieses Hinterhauses leben nun sehr frugal und prunklos. Es ist angenehm zu bemerken, wie ihnen in ihrem sparsamen Treiben auch von der Wirthschaft nichts in den Weg gelegt wird, wie die Preise selbst sehr billig sind und wie ihnen alle Listen nachgesehen werden, mit denen sie des [367] Wirthes Vortheil zu umgehen wissen. So bringen die meisten ihre Mundvorräthe mit und nicht allein diese, sondern auch die Geschirre, um sie zu kochen. Gleichwohl sind die Kellnerinnen die hier walten, nicht minder artig und dienstbeflissen, als die im Vorderhause, und geben den armen, kranken Leuten zu ihrer Noth manches gute Wort und manchen unbezahlten Zuspruch. Es wird hier, wie in andern tirolischen Badeorten, jeden braven Mann die Wahrnehmung erfreuen, daß der Wirth nicht an den Dürftigen reich werden will, daß alle Speculation auf den Pfennig des Armen fern gehalten ist. Betrachtet man nun auch noch das Liebevolle der Aufnahme und der Pflege, so erscheinen diese Anstalten im Lichte jener frommen alten Stiftungen, die zum Besten der leidenden Menschheit gegründet worden, und stechen so in ihrer schlichten Volksthümlichkeit recht wohlthuend ab von jenen vornehmen Luxusbädern am Rhein, wo man französische Gauner ihre grünen Tische aufschlagen läßt, um die lieben deutschen Landsleute auszuziehen.

Wenn man übrigens hört, daß in Tirol und Vorarlberg über einhundert und zwanzig Bäder *)[3] sind, und Zuspruch finden, so darf man letzteres nicht allein den Kranken und Leidenden zuschreiben, sondern, wie schon öfter angedeutet, ebensowohl einer Sitte, die das ganze Sommerleben des Landes gestaltet, der Sitte nämlich auf ein paar Wochen oder ein paar Monate Haus und Hof zu verlassen und an einen andern Ort in die Sommerfrische zu gehen. Was das Etschland betrifft, so erzeugen allerdings die sumpfigen Niederungen am Strome Krankheiten genug, um mehr als ein Bad zu füllen, aber auf jene zeitweilige Auswanderung wirkt auch die Hitze hin, die während der schönen Jahreszeit schwül über den südtirolischen Thälern liegt. Da streben dann alle, der [368] Edelherr, der Bürger und der Bauer in die Höhe, in die kühleren Luftzüge der Alpen. Die reichen Bozner hat dieses Streben veranlaßt, auf der Hochebene des Rittens jene freundlichen Sommerstädte zu gründen, die wir auch noch besuchen werden. An andern Orten weiß man andre Freistätten, vielleicht ein eigenes Landhaus im Gebirge oder eine Unterkunft bei gastlichen Verwandten oder auch bei einem ehrlichen Bauern, der sich auf „Sommerfrischler“ eingerichtet hat. Solche Verbindungen stehen in gebührender Achtung und man wechselt nicht leichtsinnig, wen man einmal an einem bestimmten Orte eingewohnt ist. Für alle andern aber, denen es an Geld oder an Gelegenheit mangelt, in dieser Weise ihre Lust zu büßen, sind die Bäder die herkömmlichen Sommerfrischen. Da genießt der Landmann seine Ferien und wenn er einmal aus dem Hause ist, wird auch dem Knechte bald etwas fehlen, was ihn ins Bad treibt und vielleicht auch der Dirn und der Unterdirn. Deßwegen ist die Armuth in den tirolischen Bädern eben so zahlreich vertreten, als der Reichthum, und drum gibt es auch eigene Lotterbäder, nämlich Bäder für arme Leute. Ein Bäuerlein, welches aber nicht einmal den Zutritt zu diesen Anstalten erschwingen kann, verzichtet deßwegen immer noch nicht auf seine Sommerlust. Ein solches geht vielmehr in die Hochalpen, sucht die Heuschopfen auf und legt sich da ins Heu. Es vergräbt sich tief in das weiche Lager und geräth dabei in starken Schweiß, der unendlich heilsam seyn soll für bäuerliche Schäden, für Gicht und Gliederschmerzen. Vor allem andern Heu ist seiner Heilkraft wegen berühmt jenes auf dem hohen Schlern ober Bozen und wird deßwegen auch manche Wallfahrt nach diesem Berge angestellt. Man sagt von solchen Pilgern: sie gehen „ins Heu liegen.“ Als wir einmal vom Ritten aus einen Zug auf den Hornberg machten, um dort die schöne Aussicht zu genießen, begegnete uns in der kühlen Alpenhöhe, weit ober dem letzten Bauernhause eine zahlreiche Familie, Vater, Mutter, Söhne und Töchter bis herab auf die kleinsten, mit Proviantsäcken, Schüsseln und Pfannen beladen, die fröhlich bergabstiegen und uns erzählten, jetzt seyen sie acht Tage im [369] Heuliegen gewesen und hätten viel Kurzweil und Recreation gehabt.

Dieses Sommerfrischleben verbunden mit den mercantilen Wanderungen der Thälerer verleiht denn auch dem Lande Tirol in der warmen Jahreszeit einen eigenthümlich zügigen, nomadischen Charakter. Da gehen die Oberinnthaler ins sogenannte Schwabenland, die Passeyrer nach Italien oder mit Früchten nach Bayern, die Grödner durchstöbern auf allerlei Handelschaft das Land, die Zillerthaler und viele andre deßgleichen; die Wirthe aus Nordtirol fahren ins Etschland um Wein; mächtige Güterwagen wandeln in langen Reihen den Brenner auf und ab und auch die Lahninger geben einen reichen Beitrag zum bunten Straßenleben. Ferner zieht der Adel auf noch bewohnte Schlösser, der Bürger sucht seine Landlust auf den Bergen und reist mit Sack und Pack in die Höhe zu seinem hergebrachten Ruhesitze oder Curort, der Bauer verliert sich in sein „Badl,“ die Taglöhner, die Hirten gehen auf die Alpen ins Heuliegen, die frommen Seelen treiben andächtige Wallfahrt nach dem Weißenstein, nach der Mutter Gottes zu Trens, zu Absam, nach unzähligen andern Gnadenbildern. So ist ein großer Theil des Volkes auf der Wanderschaft und darum sind um diese Zeit alle Stellwagen so voll und alle Wirthshäuser. Kommen nun noch wie in neuern Jahren, die Schwärme deutscher und englischer Reisender hinzu, so erklärt sich zur Genüge, warum das stille Alpenland im Sommer ein sehr lautes und lebendiges ist.


  1. *) S. „das Fremdenbuch im Sandwirthshause im Passeyer“ von J. F. Lentner. Morgenblatt. 1843. Nr. 169 u. ff.
  2. *) Mit vielem Fleiße und schönem Erfolge hat sich dem Studium ritterlicher Genealogien seines Landes der brave Lehrer Kögel in Brixen hingegeben. Ein Anfang zur Veröffentlichung seiner Forschungen ist im elften Bändchen der Zeitschrift des Ferdinandeums gemacht.
  3. *) Nach einer Aufzählung im Tirolerboten von 1830. Zwar sind dabei mehrere Quellen mitgezählt, bei denen sich keine Badhäuser finden, aber einige Anstalten nicht eingerechnet, die seitdem entstanden sind, auch mehrere übergangen, die damals schon im Stillen blühten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Saffianleder, sehr feines und weiches Leder
« Meran und seine Umgebung Drei Sommer in Tirol Bozen — Eppan — Sarnthal »
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