Doctor Schmidt und Magister Müller

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Doctor Schmidt und Magister Müller
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 91–94
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Doctor Schmidt und Magister Müller.

Erinnerung aus dem Leben einen bekannten Komikers.


In einer Mittelstadt eines der kleinern Rheinbundstaaten (es ist sonach von längst vergangener Zeit die Rede und zwar vom Jahre 1808), wo gerade eine Schauspielergesellschaft Vorstellungen gab, erschien eines Tages ein junger Mann, welcher entschlossen war, bei dieser Truppe ein Engagement zu suchen. Sein Mißgeschick wollte jedoch, daß sich augenblicklich alle Fächer ausreichend besetzt fanden, während er in der sichern Erwartung, eine Stelle für sich hier offen zu finden, weit genug hergekommen war. Der junge Mann gehörte aber zum Glück unter die begünstigten Leute, welche sich nicht so gleich durch ein unvermuthetes Fehlschlagen entmuthigen lassen.

Man muß weiter wandern, dachte er, und was sich hier nicht findet, das zeigt sich anderswo. –

Er gehörte indeß ebenso auch nicht unter die Leute, die gern Hunger und Durst leiden, zumal auf der Reise, und um solchem Uebelstande auszuweichen, ist in dieser civilisirten Welt nun einmal das beste Mittel eine wohlgefüllte Börse. Diese letztere besaß er keineswegs, denn die seinige war, wenn auch nicht buchstäblich leer, doch nur äußerst sparsam gefüllt.

Gegen Abend schlenderte er aus seinem Gasthofe hinaus, um ein Kaffeehaus zu besuchen, da er seinerseits die Erfahrung gemacht hatte, daß ein gescheidter Kopf nirgends leichter auf fruchtbare Gedanken geräth, als in einem Kaffeehause.

Das Tagesgespräch drehte sich dazumal, wenigstens in jener Stadt, um die Erhebung der Spanier gegen die Franzosen; namentlich sprach man von dem erbitterten Heldenkampfe, welcher im Augenblick noch unentschieden in den Mauern Saragossa’s wüthete. Kaum vermochte ein anderes Gespräch aufzutauchen, als über diesen Gegenstand. Der junge Fremde, welcher an einem Tische Platz genommen hatte, nahm lebhaft an einem solchen Gespräche Theil, sprach viel über die grauenvollen Scenen, welche in jener Stadt jetzt ununterbrochen vorkommen sollten, wo es Rauch und Trümmer in Fülle gab, wo der Krieg über und unter der Erde tobte, ja unter der Erde, in Kellern und Gewölben, fast noch grimmiger als oben. In begeisterten Worten sprach er sich über den Heldenmuth jener Spanier aus, welche lieber ihre Felder verwüstet und verwildert, ihre Städte in Schutthaufen verwandelt sehen, als sich der aufgedrungenen Fremdherrschaft fügen wollten.

Mitten in einer seiner glänzenden Darstellungen schoß ihm aber plötzlich eine Idee durch den Kopf. – „Gefunden!“ dachte er freudig. „Es ist doch wahr, daß man in einem Kaffeehaus am gescheidtesten ist. Alle Welt interessirt sich hier ausnehmend für Spanien und für Alles, was dort vorgeht. Warum sollte eine öffentliche Vorlesung über diese Gegenstände nicht guten Anklang finden?“

Von der Idee zur Ausführung war bei ihm nur ein Schritt. Triumphirend leerte er sein Glas, nahm seinen Hut und begab sich zurück nach seinem Gasthofe, dem goldenen Wolfe, um alle nöthigen Vorbereitungen noch am nämlichen Abend zu treffen, denn schon am folgenden mußte die Vorlesung gehalten werden, weil dies der einzige Abend war, an welchem das Theater in dieser Woche geschlossen blieb. Er befragte zunächst seinen Wirth, einen leidlich gebildeten Mann, welcher ganz der Ansicht war, daß ein solches Unternehmen den besten Erfolg erwarten ließe. Sofort wurde Alles geordnet. Im Hause selbst befand sich ein Saal, welcher weit mehr als dreihundert Personen bequem fassen konnte. Es war gerade noch Zeit, die betreffende Einladung in das Lokalblatt einzusenden, wo sie am nächsten Morgen erscheinen mußte, und ebenso wurden von der Druckerei bis dahin noch in erforderlicher Anzahl Eintrittskarten geliefert. Nachdem Alles dies bestellt war, ließ sich der Gast noch eine Flasche Wein auf sein Zimmer bringen und legte sich, als sie geleert war, zur Ruhe, sehr zufrieden mit sich und seinem guten Einfall.

Er erwachte am andern Morgen ziemlich spät. Das Blatt mit der Ankündigung war bereits vorhanden. Das Publikum erfuhr darin, daß Herr Doctor Schmidt (der Doctor war ein kleiner Betrug, den er unter den Umständen und als unempfohlener Fremder für verzeihlich hielt) am Abend im Saale des goldnen Wolfes gegen einen Gulden Eintrittsgeld einen Vortrag halten würde „über Spaniens Verhältnisse zu Europa in älterer und neuerer Zeit, und insbesondere über den gegenwärtigen Heldenkampf der Spanier gegen die Fremdherrschaft, dessen Einfluß und Bedeutung“ u. s. w.

Während Herr Schmidt noch bei seinem Frühstück saß, brachte ihm der Wirth die frohe Nachricht, daß bereits jetzt am Morgen eine ziemliche Anzahl Karten abgeholt worden wären. Man kann denken, daß diese Kunde das Frühstück würzte.

Nachdem letzteres beendigt war, konnte er sich indeß nicht verhehlen, daß er sich noch mit anderweitigen ernsten Gedanken beschäftigen müßte. Er hatte viel versprochen, und gleichwohl mußte er sich gestehen, daß von den hoffentlich sehr zahlreich erscheinenden Zuhörern die meisten zum wenigsten ebenso viel als er selber, ja Viele vermuthlich weit mehr von dem Gegenstande wissen würden. Was die jüngste Zeit betraf, für welche die Zeitungsberichte noch die einzige Quelle waren, so fühlte er sich unbesorgt, denn er konnte da der nie stockenden und nie in Verlegenheit [92] kommenden Geläufigkeit seiner Zunge, so wir seiner sehr lebendigen Phantasie vertrauen, um den Zuhörern glänzende Schilderungen von den spanischen Scenerien und Volkssitten, von den unermüdlichen, kühnen Guerillaschaaren in den Gebirgen und von den wilden Gefechten in den Städten aufzutischen. Allein, er hatte noch gar viel mehr in Aussicht gestellt, und was wußte er im Grunde von Spanien? Daß einst die Römer dort gewesen, daß Hannibal daher gekommen, daß später auch Araber da gewohnt, daß zu allen Zeiten mancherlei Südfrüchte und Maulthiere, sowie verschiedene andere Dinge bei gehöriger Pflege, wilder Fanatismus, Mönche und Inquisition aber auch wild daselbst wuchsen, daß es das Vaterland des berühmten Don Quixote, des Marquis Posa und vieler anderer berühmten Personen gewesen: diese und noch einige andere Dinge kannte er ungefähr, wie sie Jedermann kennt; aber sein Publikum wollte natürlich etwas Gründliches und was nicht jedes Kind schon weiß, vernehmen. Einige Vorstudien waren unerläßlich, das ließ sich nicht verkennen; allein sein gutes Gedächtniß und seine treffliche Redegabe ließen ihn nicht zweifeln, daß für den speciellen Zweck die Studien eines Nachmittags völlig ausreichend sein würden, und es kam ihm daher nur darauf an, sich ein Buch zu verschaffen, welches einen Abriß der spanischen Geschichte und einige andere nöthige Notizen über dieses Land enthielte. Das nur flüchtige Durchlesen einer solchen Schrift mußte ihn genugsam ausrüsten, um sein Schiff am Abend glücklich und glänzend an’s Ziel zu steuern. Also ein Buch! Ein Königreich für ein Buch!

Es war indeß recht gut, daß er keine sehr tiefen Studien zu machen beabsichtigte, denn dazu würden die Hülfsmittel gefehlt haben. Er erfuhr nämlich auf Befragen, daß sich keine öffentliche Bibliothek am Orte befand; ebensowenig eine Sortimentsbuchhandlung. Möglich, daß sich im Privatbesitz, etwa bei einem Gelehrten, etwas finden möchte, was Herr Schmidt hätte brauchen können; allein an solche Leute mocht’ er sich nicht wenden, denn es hätte ihm dies leicht eine Blöße geben und den Kredit seiner Vorlesung im Voraus ruiniren können. Die einzige Zuflucht war eine Leihbibliothek, von welcher der Wirth einen Katalog besaß. Dieser Katalog wurde denn sofort vorgenommen und durchgesehen. Allein, außer zwei Romanzensammlungen, dem Cid, dem Don Quixote, etlichen Dramen und mehreren Rittergeschichten enthielt der Katalog auch rein gar nichts, was auf jenes gesegnete Land einen Bezug gehabt hätte. Indeß fand sich doch darin ein Herrn Schmidt nicht unbekanntes, sehr umfangreiches Lexicon verzeichnet, in welchem er sicher sein konnte, wenigstens das Nothdürftige, zwar gedrängt, doch vollständig, zu finden. Dies war ihm ganz gelegen. Er brauchte da um so weniger zu lesen und konnte den Stoff um so bequemer zurecht legen und übersehen. Hatte er nur das nothwendig Geringe zum Ganzen, so war er sicher, den Vortrag selbst gewiß anziehend und befriedigend zu machen.

Es wurde also auf der Stelle nach der Leihbibliothek geschickt, um den oder diejenigen Bände des fraglichen Lexicons zu erlangen, welche den Buchstaben S oder Sp enthielten.

Herr Schmidt war soeben vom Mittagstisch aufgestanden, und hatte sich nach seinem Zimmer begeben, als ihm der verlangte Band gereicht wurde. Zufrieden legte er sich damit auf sein Sopha, um nun endlich die nöthige Vorbereitung anzustellen. Aber ach, der Band, welchen er erhalten, schloß gerade mit dem Artikel „Spanferkel.“

Er zog die Klingel und erfuhr von dem eintretenden Kellner, daß eben nur dieser Band vorhanden und der folgende bereits ausgeliehen gewesen war. Kein Wunder; es wollten damals vermuthlich auch andere Leute etwas über Spanien lesen. Aber die Mittel waren jetzt in der That erschöpft, und Herrn Schmidt blieb nur der Trost, daß er bei seinen Studien nun zum wenigsten keine herkulischen Arbeiten zu verrichten und keine Berge mehr umzureißen haben würde.

Er brütete einige Zeit, während ihn doch eine gewisse Unlust befallen hatte, die ihm sonst fremd war. Da erschien abermals der Wirth und berichtete, daß jetzt, zwei Uhr Nachmittags, bereits der bei weitem größte Theil der Eintrittskarten verkauft wäre; man risse sich förmlich darum, und wenn es so fort ginge, würde der Vorrath vielleicht nicht zureichen. – „Ich bin soeben im Begriff,“ sagte der Mann, „die Stühle im Saale anders stellen zu lassen, um mehr Raum zu gewinnen. Wie Schade, daß Sie kein höheres Eintrittsgeld festgesetzt haben. Ich denke, Sie dürfen schon auf vierhundert Gulden Einnahme rechnen.“

Wieder allein, setzte Herr Schmidt sein Nachdenken fort. Er hatte, offen gestanden, bis jetzt noch nie vierhundert Gulden auf einmal in seinem Besitze gehabt.

Aber plötzlich sprang er vom Sopha auf, schlug sich vor die Stirn und rief: „Ich Thor, ich Narr! Mich da um solche Dinge zu quälen! Ich sollte doch gleich erwägen, daß das Pathetische eigentlich nie mein Fach war, und wo ich erst studiren soll, da vergeht mir vollends Geist und Lust bei der Sache, wie dem Koche der Appetit. Ich muß mich ganz auf eigenem Grund und Boden, in meinem eigenen Revier ergehen, wenn ich etwas leisten soll. Ich müßt’ also einen ganz freien Vortrag halten, reines Gespinnst aus mir selbst heraus. Und wie könnt’ ich mir Sorge machen, während bereits Alles so gut geht, und das Publikum oder das Schicksal so ausgezeichnet für mich sorgt!

Nur sehr schlimm, daß die Leute für ihr vorausbezahltes Geld etwas ganz genau Bezeichnetes und fest Bestimmtes erwarten. Ich müßte einer schlechten Aufnahme, vielleicht einer schmachvollen Niederlage gewärtig sein, falls sich das Publikum widerhaarig zeigen sollte.“

Er sann weiter nach, während er mit starken Schritten auf und ab ging. Die Aussicht lichtete sich mehr und mehr vor seinem Blicke. Ein Plan arbeitete sich aus, und seine Miene ward immer zufriedener und zuversichtlicher, was ihm selbst nicht entging, so oft er vor dem Spiegel vorüberkam.

So brachte er wohl ein Paar Stunden zu. Es fehlten deren noch drei an der Zeit, wo die Vorlesung beginnen sollte.

Herr Schmidt machte sich jetzt fertig zum Ausgehen. Zuvor jedoch schrieb er folgendes Briefchen:

„Geehrter Herr!
„Seit gestern erst hab’ ich die Ehre, Ihnen bekannt zu sein. Ich glaube jedoch, unser kurzen Beisammensein genügte, um uns gegenseitig zu mehr als nur flüchtigen Bekannten zu machen. Meinerseits kann ich Ihnen diese Versicherung geben, und das große Vertrauen, welches Sie mir eingeflößt haben, ermuthigt mich, eine Bitte an Sie zu richten, zu welcher mich eine außerordentliche Verlegenheit veranlaßt. Ich erhalte so eben eine Familiennachricht, welche mich zu augenblicklicher Abreise zwingt. Indeß kennen Sie jedenfalls die Verpflichtung, welche ich für diesen Abend hier übernommen habe. Darf ich Sie bitten, darf ich Ihnen zumuthen, meine Stelle heut’ Abend einzunehmen? Ich muß um diesen Freundschaftsdienst bitten, die Umstände haben mir jeden andern Ausweg abgeschnitten und mir bleibt keine Secunde Zeit. Ich weiß, daß Sie weit besser als ich im Stande sind, das Publikum auch ohne besondere Vorbereitung zu befriedigen. Sollten Ihnen einige nöthige Notizen nicht zur Hand sein, so sende ich beifolgend das Lexicon, wo Sie unter den Artikeln Spanien, Spanisch u. s. w. alles Erforderliche beisammen finden werden. In Betreff der Einnahme werden wir uns leicht arrangiren; inzwischen ersuche ich Sie, den ganzen Betrag in Empfang und Verwahrung zu nehmen; sollte ich nicht schon in den nächsten Tagen zurückkehren können, so werd’ ich dafür sorgen, daß Sie meine Adresse erhalten. Im Voraus sag ich Ihnen meinen unendlichen Dank für Ihren Liebesdienst. Sie werden mich bei den Zuhörern zu entschuldigen wissen. Ihr u. s. w.
Dr. Schmidt.“ 
„An Herrn M. Müller, im silbernen Lamm,
  hierselbst.“

Diesen Brief nebst dem vorhandenen Bande des Lexicons gab er dem Wirthe mit der Weisung, beides nach einer Stunde, nicht früher und nicht später, im silbernen Lamm abgeben zu lassen.

Darauf verließ er das Haus und nahm seinen Weg sehr vorsichtig, um von Niemand auf der Straße bemerkt zu werden. Zum Glück hatte ihm seine kaum zweitägige Anwesenheit auch erst wenig Bekannte erworben. Er begab sich in eine Barbierstube, ließ sich den Schnurrbart, den er damals trug, abnehmen, und sein etwas langes Haar sehr kurz schneiden. Darauf setzte er auch noch eine Brille auf, und begab sich so nach dem silbernen Lamm, wo er sich Magister Müller nannte und sich ein Zimmer anweisen ließ. Hier ließ er es sich sofort angelegen sein, die schon begonnene Metamorphose noch vollständiger zu machen, [93] was ihm bei der Bühnenpraxis, die er früher erworben, nicht gar schwer fiel.

Bald nachher kam der Brief und das Buch aus dem goldnen Wolf für ihn an.

– „Es wäre doch fatal,“ dachte er, „wenn mich noch Jemand erkennen sollte, z. B. der Wirth, der mich zu genau gesehen hat. Vielleicht wär’s klüger gewesen, ich hätte mich in eine Dame verwandelt; dann durft’ ich auch beim Publikum auf größere Nachsicht rechnen – wenn ich etwa als die Schwester oder die Braut des Dr. Schmidt erschienen wäre, als liebenswürdige Dea ex machina! – Doch, sei’s denn so darauf gewagt!“ schloß er diese Erwägung, indem er zugleich seine Toilette am Spiegel beendigte; „ich denke, so bin ich sicher genug!“

Eine halbe Stunde vor dem Beginne der Vorlesung traf er im goldnen Wolf ein, und verlangte den Wirth zu sprechen, der ihn zu seiner Genugthuung als einen Wildfremden empfing.

– „Ist Herr Doctor Schmidt schon abgereist?“

– „Abgereist? Der Vortrag des Herrn Doctors soll ja erst beginnen. Es ist außerordentlich! Wir haben noch eine Menge Personen ohne Karten zulassen müssen. Kein Apfel kann im Saale zur Erde.“

Darauf erklärte Herr „Magister Müller“ dem unendlich staunenden und anfangs sogar höchlich erschrockenen Wirthe, was ihm geschrieben worden. Er legitimirte sich durch den Brief, dessen Außenseite der Wirth gar wohl wieder erkannte, und erklärte, daß er gekommen wäre, um das an ihn gerichtete Verlangen zu erfüllen.

Der Wirth mußt’ es schon geschehen lassen, obwohl ihm nicht ganz wohl bei der Sache zu Muthe war, zumal wenn er das etwas einfältige Gesicht des Herrn Magisters in Erwägung zog. Dieser aber schien nichts zu besorgen, und nachdem er zur Stärkung noch ein Glas Wein zu sich genommen, begab er sich in den Saal, und nahm den für den Vortragenden hergerichteten Platz ein.

Von Herren und Damen war die Elite der nicht umfangreichen Stadt versammelt, und im Ganzen mochten gegen fünfhundert Personen im Saale sein. Damit waren die kühnsten Erwartungen überflügelt. Drei oder vier Personen ausgenommen, war Jedermann des Glaubens, den Doctor Schmidt vor sich zu sehen. Es erregte daher kein geringes Erstaunen, als er zunächst eröffnete, daß man keineswegs jenen Herrn, sondern nur den Magister Müller, auf der Durchreise begriffen, im silbernen Lamm wohnend, in seiner geringen Person erblickte. Er wußte diese einfache Meldung jedoch in einer Weise vorzutragen, daß das Staunen wenigstens kein Unangenehmes war, sondern sich mit einem gewissen Behagen verband. Sodann berichtete er, daß er erst Tags vorher mit Herrn Doctor Schmidt bekannt geworden und erlaubte sich desgleichen, die schriftliche Bitte desselben vorzulesen.

Daran knüpfte er die Frage, ob die geehrten Anwesenden überhaupt geneigt sein möchten, den Tausch gelten zu lassen und ihn an der Stelle des vergebens Erwarteten zu hören. Er vernahm, Dank einem sehr zu Herzen gehenden Humor, mit welchem er sich ausdrückte, durchaus kein Zeichen der Ablehnung. Er erwähnte nun ferner, daß sein Freund ihm zu viel zugetraut, denn er wäre keineswegs so gründlich unterrichtet in dem betreffenden Punkte, um darüber vor einer so ansehnlichen und ohne Zweifel sehr kundigen Versammlung sprechen zu können. Er hielt den mitgebrachten Band des Lexicons empor, erklärte, zu welchem Zwecke ihm dieser Band gesendet worden wäre, wie selbiger aber leider blos bis zum Artikel „Spanferkel“ reichte. Da nun dies Buch einmal die ihm angewiesene Quelle wäre, so müßte er auch daraus schöpfen und über das sprechen, was darin dem Artikel Spanien noch am Nächsten käme, nämlich über das Spanferkel, und er bedürfe dazu nur noch der Genehmigung von Seiten der Versammlung.

Der Redner bewegte sich jetzt in der That ganz in seinem Elemente, und seine Worte, die ganze Art und Weise, wie er das Obige dargestellt hatte, verriethen eine so unwiderstehliche komische Kraft, daß die Versammlung, vielleicht ein halb Dutzend verhärteter politischer Kannegießer ausgenommen, gar nichts Besseres verlangte, als ihn so fortfahren zu hören, wie er begonnen, und als er nach den letzten Worten, wie Erlaubniß erwartend, eine kleine Pause machte, hatte er die Versammlung bereits so weit gewonnen, daß ihm nur ein rauschender Beifallssturm antwortete.

Nunmehr ließ er sich nach Herzenslust gehen, und wußte über das Thema Spanferkel einen Vortrag zu halten, in welchem sich der köstlichste Humor, der glänzendste Witz von Satz zu Satz fortwährend steigerten. Er hatte sich nur einige flüchtige Hauptzüge und Umrisse zuvor entworfen gehabt. Aber während er sprach, strömten ihm die ergötzlichen, durch treffende Satyre und Persiflage gewürzten Einfälle, die schlagenden Witzspiele fort und fort in einer Fülle zu, daß sich selbst das halbe Dutzend Kannegießer bald gewonnen und hingerissen fühlte. Es war das nun eben sein Talent; in andrer Weise würde er vielleicht sehr wenig geleistet haben. Auch möchte der Vortrag, wär’ er aufgezeichnet worden, wohl manche schwache Seiten und matte Stellen gezeigt haben, wie es bei allen Improvisationen der Fall ist; allein beim mündlichen Vortrage wirkte des Redners hierin trefflich begabte Persönlichkeit, sein Mienenspiel, sein Organ, seine Betonung. Er sprach wohl dreiviertel Stunde lang, ließ dann eine Pause eintreten, und sprach hierauf noch ebenso lange mit unverminderter Frische. Als er endlich mit einer gloriosen Wendung schloß und sich zurückzog, war er selber innig gerührt über die Begeisterung, mit welcher man den lang anhaltenden Applaus erschallen ließ. Die heitere Lust hatte aber auch zum wenigsten mehr Thränen erpreßt, als es die erschütternste Schilderung der Scenen in Saragossa vermocht haben würde. –

Als der Redner aus dem Saale trat, wurde er von einem Herrn, in dessen Gesellschaft sich der Wirth befand, ersucht, in ein benachbartes Zimmer einzutreten. Dieser übrigens sehr artige Herr hatte für den gefeierten Redner etwas Unheimliches, was er sich nicht gleich zu erklären wußte, was ihm jedoch bald klar wurde, als er mit jenem Herrn in das bezeichnete Zimmer getreten war. Hier bat der Unbekannte, indem er sich näher zu erkennen gab, Herr Magister Müller möchte entschuldigen, wenn er ihn von Amtswegen mit einigen Fragen hinsichtlich des Dr. Schmidt belästigen müßte. Der Herr war nämlich ein Polizeibeamter.

Die vorgelegten Fragen vermochte der Herr Magister Müller nur zum Theil zu beantworten. Man wünschte zu wissen, woher Herr Dr. Schmidt gekommen, wohin er sich gewendet, was seine rasche Abreise veranlaßt, ob und wann er zurückkehren würde, welche Bekannte er etwa hätte u. dgl. mehr. Der Gefragte erklärte, den Doctor am vorhergehenden Abend zum ersten und einzigen Mal im Kaffeehaus gesehen und gesprochen zu haben, im Uebrigen durchaus nichts von ihm zu wissen; aus eigener Liebhaberei habe er sich bestimmen lassen, in der bekannten Weise heute an Jenes Stelle zu treten. Er wies des Doctors Brief vor und versprach, sobald er im Besitz der darin verheißenen Adresse sein würde, dieselbe der Behörde schleunigst mitzutheilen.

Dabei bewendete es. Der Beamte entschuldigte sich abermals sehr artig wegen der Bemühung, und ging.

Nun hielt Herr „Magister Müller“ Abrechnung mit dem Wirthe und nahm, nach Abzug aller Kosten und Berichtigung der Rechnung des verschwundenen Dr. Schmidt immer noch über vierhundert Gulden in Empfang.

„Warum forscht man aber wohl so eifrig nach dem Doctor Schmidt?“ fragte er nach Beendigung jenes angenehmen Geschäftes.

„O!“ sagte der Wirth, nachdem er sich zuvor überzeugt, daß nicht etwa ein Lauscher an der Thür wäre. „Dr. Schmidt hat sich gerade noch zur rechten Zeit entfernt. Es mußt’ ihm wohl eine geheime Warnung zugegangen sein. Sein Verschwinden bedarf jetzt keiner Erklärung mehr.“

„Aber was vertrieb ihn denn?“

„Lieber Herr Magister, schon die Anzeige im heutigen Blatte hat, wie ich erfahren habe, sogleich die Aufmerksamkeit der Polizei erregt, weil darin vom spanischen Heldenkampfe gegen die Fremdherrschaft, vom Einflusse dieses Kampfes auf Europa u. s. f. die Rede war. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, bin aber belehrt worden, daß es mindestens dem Hochverrathe gleichkäme. Sie wissen ja, daß wir jetzt hier so gut wie französisch sind. Der Besitzer und Censor des Blattes, welche die Sache zufällig übersehen haben, werden auch große Ungelegenheit erleben. Dann soll Dr. Schmidt auch gestern Abend schon öffentlich sehr scharf gegen die Franzosen gesprochen haben, und da hat es solche Horcher gegeben, woran es jetzt nirgends fehlt. Sie hatten sich heute kaum in den Saal begeben, als der Beamte mit einigen Gensd’armen erschien, um den Dr. Schmidt zu verhaften. Ich theilte ihm mit, was inzwischen geschehen war. Er hörte nun an, was Sie vortrugen, [94] und da nichts Spanisches vorkam, so entließ er seine Leute. Ich bemerkt’ aber wohl, daß er ihnen erst noch viele geheime Aufträge gab. Liebster Herr Magister, gratuliren wir dem Dr. Schmidt, daß er bei Zeiten Wind bekommen und sich entfernt hat!“

„Nun ja – allein, was hätte man ihm denn viel anhaben können?“

„Lieber Himmel, was man ihn hätte anhaben können? Herr Magister, unsre Besatzung hier hat jetzt einen französischen Commandanten, weil der Kaiser Napoleon unser Protektor ist, wie man ihn nennt. Drei Stunden von hier ist ein großes französisches Kriegsdepôt. Der Beamte, der Sie befragte, gehört eigentlich gar nicht hierher, sondern ist nur auf Verfügung der französischen Regierung, gewissermaßen als ihr Commissär, hier angestellt, obwohl er nominell zu den ordentlichen städtischen Beamten gehört. Sie fragen noch, was man ihm hätte anhaben können? Jedes Kind, nehmen Sie mir nicht übel, jedes Kind kann Ihnen das sagen, Herr Magister! Man hätte ihn wahrscheinlich nicht lange im Gefängniß gelassen; man hätt’ ihn aber hübsch sicher mit Ketten geschlossen und so an’s nächste französische Kriegsgericht abgeliefert. Dort aber – Sie wissen doch, wie’s dem Buchhändler Palm gegangen ist?“

„Freilich, freilich! – Ich denke, Sie haben Recht – Dr. Schmidt hat den rechten Zeitpunkt wahrgenommen, um weiter zu reisen.“

„Und, im Vertrauen. Herr Magister.“ fuhr der Wirth fort, „das sollten auch Sie thun!“

„Auch ich?“

„Gewiß! Habe mich schon gewundert, daß man nicht mehr Umstände mit Ihnen machte, aber das ist sicherlich nur eine Falle. Man hält Dr. Schmidt vermuthlich für einen Emissär der antifranzösischen oder preußischen Partei und Sie für seinen Gehülfen. Man glaubt, jener sei vielleicht noch in der Stadt verborgen. Daher wird man all’ Ihre Schritte beobachten, und am Ende – könnten Sie leicht ein ähnlichen Schicksal haben. Denken Sie an Palm, und der hatte weit weniger gethan!“

„Der Teufel! Ein deutscher Magister vor einem französischen Kriegsgericht? das ist kein wohlthuender Gedanke. Wie soll deutsche Magisterlogik gegen jene metallene ultima ratio aufkommen?“ sagte Herr Magister Müller, welchem bei Alledem nicht ganz wohl zu Muthe ward.

„Wenn Sie meinen Rath nicht verachten,“ bemerkte der Wirth, „so entfernen Sie sich noch diesen Abend, noch diese halbe Stunde, und das gleich von hier, ohne erst in’s silberne Lamm zurückzugehen.“

„Ganz recht. Gepäck hab’ ich nicht dort – es geht sehr leicht. Sie werden so gut sein, meine kleine Rechnung im Lamm zu berichtigen.“

„Bewahre der Himmel! Das könnte mich in den Verdacht bringen, Ihr Entweichen befördert zu haben. Sie können ja das Geld aus der Ferne schicken. Es geht jetzt gleich ein Wagen ab, welcher einer alten Dame gehört, die heute hier abgestiegen ist. Ich will mit ihr sprechen. Vielleicht giebt Sie Ihnen einen Platz im Wagen. Inzwischen bleiben Sie ganz ruhig hier.“

Die alte Dame war zum Glück barmherziger Gesinnung, und ein halbes Stündchen später gelang es dem mit Recht etwas eingeschüchterten „Magister Müller“, in Gesellschaft jener Fremden aus dem goldnen Wolf abzufahren. Er ward erst ruhiger, als er die Stadt einige Meilen hinter sich hatte. Bald nachher erhielt er verschiedene Beweise, daß er wirklich nur wie durch ein Wunder Palm’s Schicksal entgangen war.

Noch in späterer Zeit, wo er auf verschiedenen Bühnen als einer der beliebtesten deutschen Komiker glänzte, und außerdem durch zahlreiche heitere Skizzen seiner Feder auf mancher verstimmten Stirn die Furchen glätten half, erregte der Name Spanien gewöhnlich ein Gefühl leisen Mißbehagens in Herrn Schmidt, während er in dankbarer Erinnerung stets das Spanferkel in Ehren hielt, welchem er, genau genommen, doch allein seine Rettung aus ungeahnter, schwerster Gefahr verdankte.