Textdaten
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Autor: F. L. Reimar
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Titel: Doctor Reinhard
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, S. 1–4, 17–21, 44–48 und 57–59
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[1]
Doctor Reinhard.[1]


Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen in einen geschmackvoll angelegten blumenerfüllten Garten, und während sie auf der grünen Sammetdecke der Rasenstücke, dem reichen Flor der Beete spielten, zeigten sie beide in ihrer vollen entzückenden Frühlingspracht. Auf den stattlichen Mann jedoch, der über die breiten Kieswege dahinschritt, machte sichtlich die letztere keinen Eindruck, und er schien um ganz anderer Dinge willen, als um Sonnenschein und Blüthenflor, in den Garten gekommen zu sein, wenigstens verrieth sein suchender Blick, daß er nach einem besonderen Gegenstande spähete, und es zeigte sich bereits ein Ausdruck leichter Ungeduld auf seinem Gesicht, als ihm derselbe immer noch entging. Endlich fielen seine Augen auf eine Laube, die in einer entfernten Ecke des Gartens angebracht war, und als müsse er nun jedenfalls den Lohn seines Suchens finden, richtete er entschlossen seine Schritte dorthin.

Seine Erwartung hatte ihn nicht getäuscht; auf einer Ruhebank, unter einem dichten Laubdach von Clematis und wilden Rosen, saß ein junges Mädchen, das hier vielleicht für seine Träumereien, denen es ganz hingegeben zu sein schien, ein ungestörtes Asyl gesucht hatte. Dieselben stimmten aber offenbar weder zu ihren Jahren, noch zu der sonnigen Umgebung, denn es lag ein ernster, fast schwermüthiger Ausdruck auf ihren lieblichen Zügen. Der Herr, welcher an der Laube stehen geblieben war, hatte sie schon einige Augenblicke schweigend und forschend betrachtet, ehe sie ihn bemerkte; als sie dann aber aufblickte, sagte sie freundlich: „Ah, Sie sind es, Herr Doctor!“ und stand auf, um ihm zum Gruß die Hand zu bieten.

„Man sagte mir, daß ich Sie im Garten finden würde, Fräulein Eva,“ entgegnete er, „und da habe ich den Einbruch hier und in Ihre Gedanken gewagt – wollen Sie ihn mir vergeben?“

„Vergeben?“ lächelte sie. „Wissen Sie, daß ich in diesem Augenblick an Sie dachte, und daß ich – aber zuerst sagen Sie mir, ob Sie bei meiner Tante waren und wie Sie dieselbe gefunden haben!“

„Der Frau Räthin geht es gut, und ich werde sie in wenigen Tagen ganz aus meiner Cur entlassen können,“ erwiderte der Angeredete, indem er dabei das junge Mädchen nach ihrem Sitz zurückführte und selbst an ihrer Seite Platz nahm. Ihre Hand behielt er in der seinigen, und die Unbefangenheit, mit welcher sie ihm dieselbe ließ und, als er mit ihr sprach, zu ihm aufblickte, verrieth, daß sie ihm die Rechte eines alten Bekannten einräumte.

„Also Sie dachten an mich, Fräulein Eva?“ fuhr er fort – und es lag ein weicherer Ton in der Frage, als in jener Antwort – „aber dann waren Ihre Gedanken nicht freudiger Natur, denn Ihr Blick war traurig, als ich zu Ihnen trat!“

„O, es mischten sich viele Erinnerungen hinein,“ entgegnete sie. „Es ist heute der Geburtstag meines Vaters, an welchem er vor einem Jahre noch bei mir war. Wenige Monate später leiteten Sie mich an sein Krankenlager, nachdem die Nachricht von seiner Erkrankung mich von dem Besuch bei der Freundin heimgerufen hatte. Ich sah ihn in der Stunde zum letztenmal, denn in derselben Nacht noch starb er.“

„Ich weiß, ich weiß!“ sagte der Doctor, bemüht, seiner eigenen Bewegung Herr zu werden, als er auf die fallenden Thränen des jungen Mädchens sah. „Sein Tod kam auch mir überraschend – eine unerwartete Wiederholung des Schlaganfalls – in wenig Augenblicken war Alles vorüber!“

„Und mich weckte die Nachricht, daß ich keinen Vater mehr habe,“ entgegnete sie traurig.

„Armes Kind!“ flüsterte er und sah mit tiefer Theilnahme auf sie nieder.

„Ich hätte ihn nur einmal, o, nur noch ein einziges Mal sprechen mögen,“ fuhr sie fort. „wenn auch nur um eines schweren Räthsels willen, das mir seine letzten Worte auf die Seele gewälzt haben, und welches ich mir immer noch nicht zu lösen vermag.“

Er erwiderte nichts und sie bemerkte den Schatten von Unruhe nicht, der einen Moment über seine Züge flog. Plötzlich aber wandte sie ihm ihr volles Gesicht zu und sagte „Ich weiß nicht, wie es kommt, daß mein Herz in dieser Stunde so offen ist wie noch nie seit meines Vaters Tode; vielleicht, weil ich noch nie wieder so allein mit Ihnen geredet habe, der Sie meines Vaters Freund waren und – mir auch jenes Räthsel lösen könnten. Nein, nein, unterbrechen Sie mich nicht; ich muß Ihnen in dieser Stunde sagen, was mich so lange gequält hat, denn ich weiß, daß ich Ihnen Alles vertrauen darf.“

„Das dürfen Sie!“ sagte der Doctor warm.

„Nun denn: als ich meinen Vater wiedersah und weinend an seinem Bette kniete, sagte er mit seiner schwachen Stimme, indem er mir beide Hände aufs Haupt drückte: ‚Vergiß nie, dem Doctor [2] Reinhard zu danken, ihn zu lieben als unseren theuersten Freund, denn er hat unser Glück, meine Ehre gerettet!‘“

„Es waren fieberhafte Gedanken, Phantasien eines schwerkranken, sterbenden Mannes, die er in gesunden Stunden nie wiederholt haben würde!“ rief der Doctor in unverkennbarer Aufregung.

„Nein, nein! Er war in dem Augenblick nicht als ein Sterbender anzusehen, vielmehr bei vollem, klarem Bewußtsein; und ich hätte auch damals eine Erklärung seiner Worte vernommen, wenn Sie nicht hinzugetreten wären und dem Vater jede Erregung, jedes weitere Wort verboten hätten. Mich selbst aber führten Sie hinaus, und ich habe ihn lebend nicht wieder gesehen. Darum aber sind Sie mir jetzt die Erklärung schuldig geworden, Doctor, und Sie müssen mir sagen: was bedeuten jene Worte? Ich muß Ihnen ja danken können, wie es meines Vaters Wille war,“ fügte sie bewegt hinzu.

Er war aufgestanden und trat jetzt vor sie hin, indem er ihr beide Hände hinreichte. „Eva,“ rief er, „Sie sind mir keinen Dank schuldig! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß es nur eine krankhafte Einbildung war, welche Ihren Vater dazu brachte, mich als einen Retter seiner Ehre hinzustellen; dieselbe war so rein und makellos wie die Ehre des besten Mannes, und es ist Niemandem in der Welt eingefallen, sie anzutasten. Darum verscheuchen auch Sie jeden Gedanken, der einen Zweifel an ihm hervorrufen könnte, denn ein solcher wäre eine Versündigung an seinem Andenken!“

Sie sah ihm mit innigem Ausdrucke in’s Gesicht. „Das Bild meines Vaters lebt heilig in meinem Herzen, aber seit seinem Tode hatte sich ein Nebel davor gelegt, der mich die theuren Züge nicht immer klar erkennen ließ, und wenn ich Ihnen denn keinen andern Dank schuldig sein soll, so danke ich Ihnen wenigstens dafür, daß Sie diesen Nebel verscheucht haben. Ich werde Ihnen das nie vergessen!“

„Und doch möchte ich, daß Sie dies Alles vergäßen, Eva, daß überhaupt von gar keinem Danke gegen mich die Rede wäre, denn wissen Sie, daß ich gekommen bin, um etwas ganz Anderes von Ihnen zu hören!“

Sie sah ihn eben so erstaunt wie erwartungsvoll an; er aber nahm auf’s Neue ihre Hand und fuhr mit bewegter Stimme fort: „Eva, seit dem Tode Ihres Vaters ist das Haus Ihrer Tante Ihre Heimath geworden – könnten Sie den Gedanken fassen, auch diese Heimath wieder zu verlassen, um dafür einem Manne anzugehören, dessen Herz seit Ihrem Kindesalter für Sie schlägt?“

Ihre stumme Frage lag in ihren Augen, ihre Hand aber zitterte in der seinigen.

„Eva, ich selbst bin der Mann, der sie liebt, dessen höchster Wunsch es ist, Sie sein nennen zu dürfen, und der Sie in dieser Stunde fragt: können, wollen Sie ihm Ihre Hand reichen?“

Einen Augenblick stand sie erschrocken, fast gelähmt von seiner Erklärung, die ihr so gänzlich unerwartet und ungeahnt entgegengebracht wurde. Sie hatte in dem viel älteren Manne, der das Doppelte ihres achtzehnjährigen Lebens zählen mochte, stets nur eine Art väterlichen Freundes erblickt, wie sie denn ja auch wußte, daß er ihrem eigenen Vater freundschaftlich nahe gestanden, sie hatte ihm ihre großen und kleinen Angelegenheiten vertraut und sich in ihrer Rechnung auf seinen Schutz, seine Theilnahme nie betrogen. Und nun stand dieser Mann plötzlich als ein Bittender vor ihr, stellte sich gewissermaßen unter sie, indem er von ihrer Entscheidung sein Lebensglück abhängig machte! Sie war gar nicht fähig, das Alles zu fassen, und er sah, wie ihre Wangen bleich wurden. Ihr Schweigen machte ihn besorgt, und mit erregter Stimme fuhr er fort:

„Habe ich mich getäuscht, Eva, als ich Ihr Herz frei wähnte und deshalb wagte, um Sie zu werben, oder fühlen Sie in sich nicht die Möglichkeit, mich lieben zu können, so sprechen Sie Ein Wort, und ich trete zurück, denn ich will Ihr Glück, wie ich das meine will!“

Sie hatte sich, während er sprach, gesammelt und wagte jetzt zum ersten Male die Augen gegen ihn aufzuschlagen; sie sah die seinigen auf sich gerichtet, diese ernsten Augen, die jetzt einen wunderbar warmen und weichen Ausdruck hatten, und es war ihr, als ginge in diesem Moment ihr Herz auf und in demselben ein neues, nie gekanntes Gefühl. – Warum sollte sie diesen Mann, der besser und edler war als alle Menschen, die sie kannte, seit ihr Vater gestorben war, nicht auch mehr lieben können als alle anderen Menschen, fast wie sie den Vater selbst geliebt hatte? Auch ein flüchtiger Gedanke an die Worte des Sterbenden zog wieder durch ihre Seele: war jetzt nicht der Augenblick gekommen, wo sie beweisen durfte, daß ihr sein Wille heilig sei?

„Reden Sie, Eva, besitzt ein anderer Mann Ihre Neigung?“ fragte des Doctors tiefe Stimme auf’s Neue.

„Nein,“ entgegnete sie, immer noch in halber Verwirrung, „sie ist mein freies Eigenthum, und –“ sie stockte.

„Nun?“ fragte er gespannt.

Statt der Antwort legte sie ihre Hand in die seinige.

„Sie wollen sich mir geben, Eva?“

„Ja!“ sagte sie leise.

Er machte eine Bewegung, als ob er sie in seine Arme ziehen wollte, aber er bezwang sich und sagte nur mit einer Stimme, die vor innerer Bewegung fast zitterte: „Nein, Eva, Sie sollen, Sie dürfen sich nicht übereilen mit Ihrer Entscheidung! Es wäre unrecht, sie in dieser Stunde, die Sie, wie ich mir sagen muß, überrascht hat, von Ihnen zu fordern. Ich gebe Ihnen so viel Zeit zur ruhigen Prüfung Ihres Herzens, wie Sie verlangen, und werde keinen Versuch machen, Sie zu gewinnen, wenn Sie mir sagen, daß Sie mich nicht lieben können; dagegen fordere ich Ihre ganze, ungetheilte Liebe, wenn Sie einmal das bindende Wort gesprochen haben; ich darf sie fordern für die Hingabe meines eigenen ganzen Lebens. Vor allen Dingen seien Sie daher aufrichtig gegen mich wie gegen sich selbst, ob nicht vielleicht das Bild eines anderen Mannes in Ihrem Herzen Platz gefunden hat, das sich von dem meinigen nicht verdrängen ließe!“

Sie lächelte und erröthete zugleich. „Die Versicherung kann ich Ihnen geben – denn daß ich als vierzehnjähriges Mädchen einmal in kindischer Weise für meinen Vetter Adalbert geschwärmt habe, werden Sie mir nicht anrechnen wollen!“

„Für Ihren Vetter?“ fragte er, sichtlich unangenehm betroffen, „und er?“

„Ach, das war’s ja eben!“ sagte sie halb lachend; „er sah mich gar nicht an, hatte keine Ahnung davon, wie seine kleine Cousine ihn bewunderte, und nur Augen für erwachsene Damen, bei denen der schöne junge Marine-Lieutenant denn auch Glück genug machte!“

„Aber wie ward es, seit auch Sie eine erwachsene Dame geworden sind, Eva?“

„Nun, seit der Zeit habe ich längst verlernt, an ihn zu denken,“ sagte sie leichthin; „wir haben uns auch gar nicht wiedergesehen, denn als er – es war kurz vor dem Tode meines guten Vaters – wieder hier zum Besuch bei seiner Mutter war, befand ich mich, wie Sie wissen, bei der Freundin.“

„Und ist es wahr, daß er auch jetzt hier erwartet wird?“ fragte er hastig.

„Sein letzter Brief meldete seine bevorstehende Rückkehr von der Expedition nach den asiatischen Gewässern, welche er mitgemacht hat. Ich kann aber kaum sagen, daß ich mich auf seine Ankunft freue, denn was ich von ihm hörte, konnte mich nicht sehr für ihn einnehmen; seine Wildheit und sein Uebermuth sollen keine Grenzen gekannt haben – und mir ist, als wäre das Leben nur schön, wenn man es ruhig und im vollen Vertrauen auf einen sicheren, starken Schutz genießen kann.“

„Den sollen Sie bei mir finden, Eva!“ konnte er sich nicht enthalten, mit aller Wärme des Gefühls auszurufen, unterdrückte dann aber augenscheinlich andere Worte, die sich ihm noch auf die Lippe drängen wollten. Nur in seinen Augen mochte man lesen: „möchte ich Dich bald in diesem Schutz bergen können!“ Dann reichte er ihr zum Abschied die Hand und sagte:

„Ich widerrufe nicht, Eva, daß Sie ruhig prüfen und überlegen sollen; aber wenn Sie in sich zur Entscheidung gekommen sind, so zögern Sie nicht, dieselbe auszusprechen!“

Sie blickte ihn klar und freundlich an, wie sie denn ihre Ruhe längst wiedergefunden hatte. Eigentlich begriff sie kaum noch, weshalb sie jetzt das Wort der Entscheidung nicht aussprechen sollte, da sie ja innerlich bereits fest entschlossen war; aber er wollte es so, und da sie überhaupt gewöhnt war, sich seinem Rathe, seiner Meinung unterzuordnen, wollte sie sich auch nun seinem Willen fügen.

Sie sah ihm nach, als er über den Kiesweg dahinschritt, und freute sich über die stattliche Erscheinung, den männlich festen [3] Gang; sie dachte auch an die allgemeine Achtung, ja Verehrung, in welcher der Doctor vor der Welt stand, und fragte sich, was diese Welt wohl sagen würde, wenn sie von der Verlobung erführe; sie hörte schon die Stimmen, welche sie glücklich priesen, und fühlte sich stolz und demüthig zugleich in dem Gedanken, daß dieser bedeutende Mann gerade sie erwählt hatte, daß sie sich als seine Braut ansehen durfte. Braut?! – sie lächelte unwillkürlich bei dem Worte und dachte an ihre frühere Vorstellung, als müsse damit ein Zustand voll märchenhafter Ekstase, gewissermaßen ein ganz verändertes Dasein verbunden sein. Nun war sie selbst Braut geworden, ohne selbst recht zu wissen, wie, aber die Welt ihr darum geblieben, was sie vordem gewesen, wenn auch alles so schön und gut war, daß sie fast nicht mehr begriff, warum sie nicht längst geahnt und gewußt hatte, daß alles so kommen müsse. „Er ist so gut und liebt mich so sehr!“ wiederholte sie sich mit einer Rührung, die ihr die Thränen in die Augen trieb. Ihr Herz sehnte sich nach Mittheilung, aber zu Hause, das fühlte sie, durfte sie noch nicht von der Sache reden, um so viel weniger, als der Zustand der Tante, welche kaum von einer bedeutenden Krankheit genesen war, jede Aufregung verbot. „Zum Vater!“ sagte sie leise, ergriff das Hütchen, welches neben ihr lag, und entschlüpfte unbemerkt durch ein Seitenpförtchen des Gartens, um zu dem nicht fernen Ruheort zu gelangen, wo das Herz unter dem grünen Rasen schlummerte, das ihr einst das theuerste auf der Welt gewesen war.

Fast eine Stunde später kehrte sie in das Haus ihrer Tante zurück, wo sie von einer Dienerin mit der Bemerkung empfangen wurde, daß schon viel von der Frau Räthin nach dem Fräulein gefragt worden sei und Eva gebeten würde, gleich in deren Zimmer zu kommen. „Es ist Besuch da!“ fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu, „aber ich darf nicht verrathen, wer es ist!“

Als Eva nicht ohne eine gewisse Spannung in das Zimmer der Tante trat, erhob sich von deren Seite aus dem Sopha ein junger Mann in der blitzenden Uniform der königlichen Seeofficiere und trat ihr mit raschen Schritten entgegen, indem er ihr, ohne ein Wort zu sprechen, die Hand bot.

„Vetter Adalbert!“ rief sie überrascht und sah in ein Paar dunkle Augen, die in unverkennbarer Rührung auf sie gerichtet waren, während die schönen Züge des jungen Mannes vor innerer Bewegung zuckten.

„Ich freue mich, daß Sie mich willkommen heißen, Eva, freue mich, Sie hier zu sehen im Hause meiner Mutter!“ sagte er, und dann war es, als erinnere er sich einer schmerzlichen Beziehung, die in seinen Worten liegen konnte, denn er bückte sich rasch und mit den Worten: „Verzeihen Sie mir!“ auf ihre Hand nieder und küßte sie.

Daß er auf diese Weise ihres Verlustes gedachte, that ihr wohl und sie erwiderte: „Ich selbst erkenne es als ein Glück an, daß ich nicht ganz verwaist zurückblieb, als mein guter Vater starb, daß es noch Herzen gab, die Sorge und Liebe für mich hatten!“

„Die giebt es, und sie sollen Ihnen nie fehlen, Eva! Ich kenne nichts, was mir so heilig und so theuer wäre, als Ihr Glück!“

Etwas überrascht sah sie zu dem jungen Manne auf, der mit auffallender Wärme, fast einer gewissen Heftigkeit des Gefühls gesprochen hatte, die sie ihm nach ihren eigenen Erinnerungen wie nach dem, was ihr später erzählt worden war, kaum zugetraut hätte; doch schnitt die Anrede der Tante, welche lächelnd und gerührt der Begrüßung zugeschaut hatte, ihre Entgegnung ab.

„Das nenne ich eine Ueberraschung, Eva,“ sagte sie heiter, „welche uns Adalbert bereitet hat. Ich erwartete ihn erst in Wochen, und plötzlich steht er vor mir, ohne seine Ankunft mit einem Worte gemeldet zu haben!“

„Ich bekam unerwartet schnell Urlaub, als wir von unserer Expedition zurückkehrten,“ versetzte er, „und da trieb es mich natürlich, auf der Stelle abzureisen, um so schnell als möglich Dich und Eva wiederzusehen und –“ er vollendete nicht und ging nur ein paarmal hastig durch’s Zimmer.

Es lag überhaupt etwas seltsam Unruhiges in seinem Wesen, eine kurz abgebrochene Hast in seinen fernen Fragen und Antworten, so daß die Mutter ein paarmal verwundert den Kopf schütteln mußte und selbst die Bemerkung nicht zurückhalten konnte: „So warst Du sonst nicht, Adalbert! Welche Veränderung nur mit Dir vorgegangen ist?“

Er lachte gezwungen: „Nun ja, es verändert sich Manches in der Welt und in den Menschen selbst, und ich habe ein ganzes Jahr – und noch dazu auf der öden See – Zeit gehabt, diese Erfahrung auch an mir zu machen; aber man lernt dann auch, was noch zu thun bleibt, nachdem man etwa so und so viel von seinem Schicksale in die Schanze geschlagen hat!“

Die Mutter begriff ihn nicht und bemerkte nur, daß er einen Augenblick düster vor sich hinblickte. Auch Eva entging der Ausdruck in seinen Zügen nicht; es war ihr peinlich in seiner Nähe, und sie benutzte einen Vorwand, um sich aus dem Zimmer zu entfernen. Er folgte ihr mit den Augen, und als seine Mutter, die ängstlich an ihnen hing, wahrnahm, daß sie wieder milder blickten, sagte sie: „Wie gefällt Dir meine Eva, Adalbert?“

„Sie ist sehr schön – und, wie mir scheint, eben so liebenswürdig!“ entgegnete er.

Sie lächelte befriedigt und fast triumphirend: „Nun, dann ist in Deinem Geschmack doch wenigstens eine gute Veränderung vorgegangen; denn weißt Du, daß Du noch vor einem Jahre behauptetest, solche blonde Schönheiten könnten Dein Herz nie fesseln, und wenn die Eva noch zehnmal schöner wäre, als wir sie Dir schilderten, würde sie in Deinen Augen der schwarzlockigen Emilie Waldow, welcher Du damals huldigtest und die allerdings in Allem das gerade Gegentheil von Eva ist, nicht das Wasser reichen können?“

Eine jähe Röthe überflog das Gesicht des jungen Mannes und er rief aus: „Ich bitte Dich, Mama, schweig davon – das ist ja Alles längst vorüber und muß vergessen bleiben! Erzähle mir lieber von dem, was unsere Unterhaltung ausmachte, als Eva hereintrat, von den Umständen, unter denen sie in dieses Haus kam, von dem traurigen Ereigniß, das sie zur Waise machte!“

„Nun ja, Adalbert! – Daß ihr Vater in Folge eines Schlaganfalls starb, der ihn um Tage nach Deiner Abreise traf, schrieb ich Dir, meine ich, schon damals.“

„Ich weiß – ich weiß!“ entgegnete er hastig – „ich erhielt die Nachricht am Tage unserer Einschiffung und konnte erst von England aus antworten. Doch fehlten in Deinen Briefen noch manche Details – so zum Beispiel sagtest Du nicht, ob man jenen Schlaganfall des Onkels einem besonderen Ereigniß – etwa einer heftigen Gemüthsbewegung zuschreibe.“

„Deine Frage bringt mich auf die eigenen Gedanken zurück, welche damals durch eine Aeußerung angeregt wurden, die ich zufällig vernahm. Als ich nämlich am Abend jenes unglücklichen Tages zu meinem Schwager in’s Zimmer trat, hörte ich, daß dieser zu dem Doctor Reinhard, der ihn seit dem Anfalle nicht wieder verlassen hatte, sagte: ‚So bürgen Sie mir dafür, Doctor, daß unser Verdacht, die ganze Sache verschwiegen bleibt?‘ worauf dieser erwiderte: ‚Mit meinem Ehrenwort!‘ Ich habe nachher oft an diese Worte denken müssen und später auch gewagt, den Doctor Reinhard um die Bedeutung derselben zu fragen, da ich sie unwillkürlich in Verbindung mit irgend einer Gemüthserschütterung brachte, die meinen Schwager betroffen haben konnte; aber er wich mir aus und versicherte nur, sie hätten rein persönlichen Angelegenheiten gegolten, die zwischen ihm und dem Verstorbenen bestanden, wie er denn ja auch diesem sein Wort gegeben habe, darüber zu schweigen. So habe ich es aufgegeben, nach einer besonderen Veranlassung seiner Erkrankung zu forschen.“

Adalbert hatte schweigend den Mittheilungen seiner Mutter zugehört, und es war fast, als führe er aus einer Art Zerstreuung auf, als er jetzt die Frage hinwarf: „Was ist dieser Doctor Reinhard eigentlich für ein Mensch?“

„Er ist als ein ausgezeichneter Arzt anerkannt und als ein vortrefflicher Mensch allgemein verehrt!“ entgegnete die Mutter warm. „Ich selbst habe ihn seit des Onkels Tode zu meinem Hausarzt angenommen, weil ich durch die aufopfernde Pflege, welche er meinem armen Schwager widmete, mich ganz für ihn eingenommen fühlte, und in meiner eigenen Krankheit habe ich alle Ursache gehabt, mich meiner Wahl zu freuen, die anfänglich auch halb unserer Eva zu Liebe geschah, die an ihm einen treuem väterlichen Freund hat.“

„Eva!“ rief der junge Mann, und es schien der Mutter, als habe er Eile, auf diesen Gegenstand zurückzukommen. „Wie ertrug sie den Tod des Vaters?“

„Das arme Kind! Sie war gänzlich niedergebeugt und hätte wie verloren in der großen weiten Welt dagestanden, wenn der [4] Doctor und ich uns ihrer nicht mit Rath und That angenommen hätten. Mich bekümmerte dabei auch, daß die Aussichten für ihr äußeres Schicksal sich so traurig gestalteten; denn wie ich Dir schon in meinem späteren Briefe schrieb, stellte sich nach meines Schwagers Tode heraus, daß er keineswegs so vermögend gewesen war, wie alle Welt – und ich kaum ausgenommen – ihn gehalten hatte. So blieb eigentlich der Ruhm, daß er ein pflichttreuer, gewissenhafter Beamter gewesen war – an den städtischen Cassen, die er verwaltete, fehlte, wie ich Dir schon damals schrieb, keines Hellers Werth – das einzige Erbtheil seiner Tochter. Von der ganzen Hinterlassenschaft wäre nichts für sie übrig gewesen, wenn Du nicht großmüthig ihr das ganze Vermögen von dreitausend Thalern, das Dein Onkel als Dein Vormund für Dich verwaltete, zugewiesen hättest.“

Der junge Mann hatte, während sie sprach, sein Gesicht abgewandt, kehrte sich jetzt aber plötzlich zu ihr um und sagte mit einer gewissen Rauhheit: „Laß das, Mama, davon darf kein Wort gesprochen werden! Für mich war das Opfer nicht groß, denn Du weißt, daß die Erbschaft des Vetters, die mir gerade um die Zeit so unerwartet zufiel, mich sechsfach so reich machte. Ueberdies hätte dem Rechte nach Eva zu gleichen Theilen von ihm erben müssen, denn er war ihr so nahe verwandt wie mir, und sein Testament also im Grunde eine Ungerechtigkeit. Es ist aber doch Alles nach meinem Willen gegangen, daß Eva nichts von der ihr gewordenen Schenkung erfahren hat?“

„Sie weiß nichts davon,“ sagte die Mutter, „und hält das kleine ihr gebliebene Vermögen einfach für das Erbtheil ihres Vaters. Der Vormund ging gern auf die Clausel ein, wenn sie ihm auch auffallend war, und eben so wenig fand das Gericht Grund, sie zu beanstanden, während es leicht war, die Sache vor Eva selbst geheim zu halten, da ihr ja jede Geschäftskunde, wie jeder Einblick in die Angelegenheiten ihres Vaters fehlt. So hat Niemand außer dem Doctor davon erfahren.“

„Der Doctor und immer wieder der Doctor!“ rief Adalbert ungeduldig und es schien fast, als wolle er noch eine weitere Bemerkung hinzufügen, die er aber unterdrückte, als Eva in diesem Moment wieder in’s Zimmer trat. Bei ihrem Anblick leuchtete in seinen Augen wieder etwas von der Rührung des ersten Wiedersehens auf und seine Stimme ward weich, als er mit ihr sprach.

Unwillkürlich dachte sie dabei an eine andere Stimme, deren weicher Ton sie heute auch so überrascht hatte, und das Bild des Freundes trat lebhaft vor ihre Seele. Sie verglich es mit der glänzenden Erscheinung des Vetters und fragte sich, weshalb der Eindruck, den ihr dieselbe machte, kein eigentlich wohlthuender war, wenn sie sich auch gestehen mußte, daß seine körperlichen Vorzüge das schlichte Aeußere des Doctors tief in den Schatten stellten. Selbst seine Augen, so schön sie waren und so theilnehmend sie auf ihr ruhten, beängstigten sie fast durch das Feuer, welches in ihnen glühte und das sie nahezu unheimlich fand. Auch seine Unterhaltung vermochte sie nur stellenweise anzuziehen. Wenn er von seinen Reisen erzählte, wenn er in interessanter Weise von fremden Ländern und Völkern, die er kennen gelernt hatte, sprach, wenn er mit großer Lebendigkeit die Schrecknisse jenes entsetzlichen Orcans schilderte, der seinem Schiffe fast den Untergang gebracht hatte, hörte sie mit beinahe athemloser Theilnahme zu, und ihr Blick hing dann wie gebannt an seinem Munde. Sobald er dann aber in seiner seltsamen Weise wieder absprang und eine jener Aeußerungen that, die auf einen tiefen Zwiespalt seines Innern schließen und fast glauben ließen, daß er sich mit Welt und Leben zerfallen fühle, fand sie sich förmlich abgestoßen und es überkam sie eine Art Schüchternheit, selbst Bangigkeit vor ihm. „Gottlob, daß Reinhard nicht ist wie Adalbert!“ klang es in ihrem Innern. „Wie fern ist sein ruhig klares Wesen dieser leidenschaftlichen, zerfahrenen Natur!“ Dann wieder fragte sie sich, wie die beiden Männer sich gegen einander verhalten würden, ob je auf Freundschaft und Harmonie zwischen ihnen zu hoffen sei, und weil ihr inniger Wunsch sich auf dies Ziel richtete, sah sie mit großer Spannung einer Begegnung Beider entgegen.

Schon der nächste Tag sollte dieselbe herbeiführen. Der Doctor hatte der Räthin, als seiner Patientin, den gewöhnlichen Morgenbesuch zu machen, und ohne etwas von der Anwesenheit ihres Sohnes zu wissen, trat er in’s Zimmer.

„Herr Doctor Reinhard – mein Sohn Adalbert!“ stellte die Räthin die beiden Herren einander vor und Eva, die beim Eintritt Reinhard’s unwillkürlich erröthet war, blickte erwartungsvoll von Einem zum Andern, fühlte sich aber betroffen durch die auffallende Kälte, welche Beide in die hergebrachte Begrüßung legten.

[17] „Ich erinnere mich, den Herrn Lieutenant von Wallberg bei seinem Onkel gesehen zu haben – am Tage vor seiner Erkrankung; Sie verließen ihn, als ich kam,“ entgegnete der Doctor.

Die Worte waren allerdings kühl gesprochen, mußten aber doch völlig unverfänglich erscheinen und rechtfertigten in Eva’s Augen durchaus nicht den herben Ausdruck – sie hätte ihn fast feindlich nennen mögen – den sie auf Adalbert’s Gesicht hervorriefen.

„Ich bewundere Ihr Gedächtniß, Herr Doctor,“ sagte er, „während ich mich anklagen muß, daß derartige Zufälligkeiten und Daten meiner Erinnerung leicht entschwinden!“

„Die Ursache liegt wohl in Ihrer besonderen Lebensweise – auf bewegten Meeren; während wir, die wir an der Scholle haften, zugleich an allen darauf bezüglichen Erinnerungen willkürlich oder unwillkürlich festhalten,“ sagte der Doctor ruhig und wandte sich nach einigen mehr gleichgültigen und der gewöhnlichen Höflichkeit geltenden Fragen und Antworten zu der Räthin, um dem Zwecke seines Besuchs, ärztlicher Visite, zu genügen. Nach einigen Minuten verabschiedete er sich dann, ohne daß auch Eva etwas Anderes als einen flüchtigen Gruß von ihm erhalten hätte. Nur eine Secunde lang ruhte sein Blick mit einem besonderen Ausdruck auf ihr, den sie im Herzen empfand gleich einer Mahnung, nicht zu wanken und nicht zu zögern mit ihrer Entscheidung.

„Ist mir irgend ein Mensch in der Welt unangenehm, so ist es dieser Doctor Reinhard!“ rief Adalbert heftig, als sich die Thür hinter dem Genannten geschlossen hatte.

Erstaunt und verletzt blickte Eva auf und kämpfte noch mit sich, ob sie nach dem Grunde dieser ihr unerklärlichen Aeußerung fragen dürfe, als ihr die Tante mit der unwilligen Entgegnung zuvorkam:

„Das ist eine seltsame Abneigung, Adalbert, die ich im höchsten Grade ungerecht finden muß, denn sicher gab er Dir durch sein Benehmen keine Veranlassung dazu. Du solltest bedenken –“

„Ach nein, Mama, laß mich nicht bedenken!“ fiel er halb lachend ein, „dazu tauge ich nicht. Das Bedenken verwirrt mir allemal Kopf und Herz ... ich kann einfach nur fühlen, sei ’s sympathisch, sei ’s antipathisch, und hernach muß ich etwas thun ... mag’s nun gut, mag’s schlimm sein! Ich wette, Cousine Eva stimmt mit mir überein,“ wandte er sich an diese, den Scherz, der aber etwas gezwungen klang, fortsetzend, „daß wir das Nachdenken, von dem junge Mädchen ohnehin selten Freunde sind, bei Seite lassen und uns nur darum bekümmern wollen, wie wir fühlen!“

Eva antwortete nur mit einigen ausweichenden Worten, denn Adalbert’s Wesen war ihr wieder einmal unverständlich und außerdem zürnte sie ihm. Er bemerkte ihre Verstimmung sofort, wenn er auch nicht die eigentliche Ursache errieth, und änderte auf der Stelle den Ton wie die ganze Unterhaltung, indem er sich auf’s Neue von seiner liebenswürdigsten Seite zeigte und namentlich unerschöpflich in Aufmerksamkeiten gegen das junge Mädchen war, so daß Eva allmählich ihren Groll fahren ließ und jene gegen den Freund gerichtete Aeußerung zu vergessen oder sich doch mindestens einzureden suchte, daß sie nur in einer vorübergehenden Laune von Adalbert gethan sei. Auch hatte sie in den nächsten Tagen keine Veranlassung, ähnliche Kundgebungen einer solchen wahrzunehmen, denn wenn der Doctor auch noch einige Male in’s Haus kam, so war Adalbert – ob nun zufällig oder nicht – entweder gar nicht anwesend, oder es blieb bei einer flüchtigen Begegnung.

Adalbert’s eigentliches Wesen, den Grund seiner verschiedenen Stimmungen, vermochte sie nicht zu erkennen, so viel sie sich auch innerlich damit beschäftigte, und seltsam genug war es, daß sie sich immer und immer wieder die Frage vorlegen mußte, woher die leidenschaftlichen Wallungen seines Gemüths stammen möchten. Sie hätte kein Mädchen sein müssen, wenn sie dabei nicht auch an eine Regung seines Herzens gedacht hätte, und unwillkürlich brachte sie dieselbe mit Emilie Waldow, der er, wie sie wußte, vor einem Jahre so eifrig gehuldigt hatte, in Verbindung.

Es fügte sich, daß sie in den nächsten Tagen Zeuge des ersten Wiedersehens der Beiden war, da sie mit Adalbert und seiner Mutter zu einer kleinen Abendgesellschaft in einer befreundeten Familie geladen war, wo sie auch die erwähnte junge Dame trafen. – Mit gespannter Aufmerksamkeit achtete sie darauf, wie Adalbert derselben begegnen würde – und bis in die Seele that es dem schönen Mädchen weh, als sie die geflissentliche Nichtachtung bemerkte, mit der er Emilien aus dem Wege ging, die er jetzt kaum noch zu kennen schien, während diese selbst ersichtlich nur mit Mühe ihre Fassung über sein Benehmen zu behaupten vermochte. Sie selbst kannte nun schon den finsteren Zug zwischen seinen Augenbrauen, der auch heute darauf gelagert blieb, obgleich er sich zwischendurch einer ausgelassenen, fast wilden Fröhlichkeit hingab, und wieder mußte sie sich im Stillen fragen: ‚was mag es sein, das diese sein ganzes Wesen vernichtende Bitterkeit in sein Herz gelegt, so ertödtend auch auf seine Liebe gewirkt hat?‘

Das Grübeln über Adalbert’s Seelenzustand wirkte verwirrend und beklemmend auf ihren eigenen zurück, und in manchen [18] Stunden sehnte sie sich nach einer Unterredung mit dem Freunde, denn sie sagte sich, daß er sie von der seltsamen Unruhe, die sie mehr und mehr peinigte, befreien würde. Sie hätte dann viel darum gegeben, wenn sie auf der Stelle das bindende Ja hätte aussprechen können, welches sie völlig mit ihm verband, und zürnte ihm fast, daß er sie nicht um dasselbe drängte. Und in anderen Momenten, wenn sie seine ernsten Augen wie mit einer stummen Mahnung und Frage auf sich gerichtet glaubte, konnte es sie innerlich unwillig machen, daß er ihr nicht vollkommene Freiheit zu ihrer Entscheidung ließ, während sie selbst sich wiederum Vorwürfe darüber machte, daß sie ihm dieselbe immer noch vorenthielt, da sie doch ja längst getroffen war; – und entschlossen griff sie endlich zur Feder, um ihm in wenigen Worten zu sagen, daß sie seine Hand annähme und Gott bäte, den Schritt für ihn wie für sich selbst zu einem gesegneten werden zu lassen. Es war ihr auch, als empfände sie schon in diesem Augenblick etwas von dem erwarteten Glück, wenigstens fühlte sie sich freier und ruhiger, als der Brief abgeschickt war.

Der Doctor sei nicht daheim gewesen, lautete der Bescheid der zurückkehrenden Dienerin, doch würde er in wenigen Stunden wieder in seiner Wohnung sein, und der Brief ihm dann übergeben werden. – Eva malte sich den Moment aus, wo er ihn empfangen und lesen würde, sie berechnete die Zeit, wann er bei ihr sein könne, um sie als seine Verlobte zu begrüßen, und fühlte sich glücklich in dem Gedanken an den treuen, sicheren Schutz, dem sie sich übergeben hatte.

Während sie noch diesen Vorstellungen hingegeben war, öffnete sich plötzlich die Thür und Adalbert trat zu ihr in’s Zimmer. Sein Gesicht zeugte von mehr als gewöhnlicher Aufregung, und in seinen dunklen Augen leuchtete ein seltsames Feuer.

„Sind Sie allein, Cousine Eva?“ fragte er.

„Allein mit meinen Gedanken!“ versetzte sie mit dem Versuch, ihn unbefangen anzublicken, obgleich sie innerlich unruhig ward vor seinen Blicken.

„Und ich – ich möchte diese Gedanken kennen lernen, Eva!“ sagte er, indem er vor sie hintrat und sie forschend anblickte, „möchte wissen – – Eva, bin ich verwegen, wenn ich Sie frage: habe ich einen Theil an Ihren Gedanken?“

Die Worte, mehr noch sein Ton, verletzten sie und trieben ihr zugleich das Blut in die Wangen.

„Ich glaube nicht, Ihnen Rechenschaft schuldig zu sein von dem, was in meinem Herzen vorgeht, Adalbert!“

„O, ich wußte wohl, daß es sich doch um Ihr Herz handelte, Eva,“ rief er erregt aus, „denn bei den Frauen sind Gedanken immer nur Gefühle, und auch nur darum wagte ich jene Frage und wage sie jetzt wieder, denn ich muß wissen, Eva, ob ich hoffen darf, daß Ihr Herz dem meinen antwortet!“

„Adalbert!“ rief sie und starrte ihn fast entsetzt an.

Er faßte ihre beiden Hände und rief in leidenschaftlichem Tone: „Es ist nicht anders, Eva! Das Wort sucht mit Gewalt seinen Weg über die Lippe; sagen Sie mir, daß Sie mein sind, mein werden wollen!“

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, als suche sie einen Traum zu verscheuchen, und blickte ihn bang und verwirrt an.

„Reden Sie, Eva, reden Sie!“ drängte er. „Ich ertrage die Ungeduld nicht länger!“

„Adalbert – der Doctor Reinhard hat mein Wort – ich nenne mich seine Verlobte!“ sagte sie endlich mit zitternder Stimme.

Mit einem wilden Schrei fuhr er auf und preßte die geballten Hände vor die Stirn. „Reinhard? Es ist nicht möglich, nicht möglich, Eva, sage ich Ihnen! Gestehen Sie mir, daß Sie mich täuschen, daß Sie Ihr Spiel mit mir treiben, um mich zu strafen, zu peinigen! Er darf, er soll Sie nicht besitzen, er nicht, Eva!“

„Um Gotteswillen, was geht mit Ihnen vor, Adalbert?“ fragte sie tief erschrocken.

Er war in wilder Heftigkeit die Stube einigemale auf- und abgerannt; jetzt blieb er plötzlich vor ihr stehen, sah ihr durchdringend in’s Gesicht und sagte: „Eva, lieben Sie den Doctor Reinhard? Antworten Sie mir wahr und wahrhaftig, als hänge das Glück, die Ruhe eines Menschenlebens von Ihren Worten ab!“

„Er ist der beste, der edelste der Menschen, Adalbert!“

Er stampfte mit dem Fuße: „Ich will das nicht hören, nur ob Sie ihn lieben, Eva!“

Sie blickte in fast stehender Angst zu ihm auf. „Hätte ich ihm sonst meine Hand geschenkt, Adalbert?“

„O, die Hand kann man auch ohne Liebe verschenken!“ sagte er mit einem kurzen, bittern Auflachen, fuhr dann aber gleich in seinem früheren dringenden Ton fort: „Mir sagt’s das Herz, Eva, daß Sie diesen Mann nicht lieben, daß Sie ihn achten, ehren – was weiß ich! – aber nicht lieben, und daß Sie lieben müssen, um glücklich zu sein! Nein, sagen, betheuern Sie jetzt nichts: Sie kennen Ihr eignes Herz nicht, Eva! Gehört jeder Athemzug, jeder Schlag Ihres Herzens dem Manne, welchem Sie sich zu eigen geben wollen – haben Sie noch irgend eine Vorstellung von Glück, von Seligkeit, die nicht mit ihm zusammenhängt, vermögen Sie sich ein Leben auch nur zu denken, das er Ihnen nicht verschafft? Antworten Sie mir auf alles das, wenn Sie wollen, daß ich an Ihre Liebe glauben soll!“

„O Adalbert, was fragen Sie mich, was machen Sie aus mir?“ rief sie, in Thränen ausbrechend.

„Sie können nicht antworten, weil Sie sich selbst getäuscht, betrogen haben,“ sagte er mit einer Art Frohlocken, „weil Sie Reinhard nicht lieben! Und hier zu Ihren Füßen flehe ich zu Ihnen: werden Sie mein – mein Weib, Eva! Ich fordere mein Leben, meine Seligkeit von Ihnen, und schwöre Ihnen, daß ich untergehen muß, wenn Sie mich von sich weisen!“

„Ich kann nicht, o mein Gott – ich kann nicht!“ sagte sie händeringend.

„Sie können es, Eva, wenn Sie es wollen! Um Gottes Barmherzigkeit willen, üben auch Sie Barmherzigkeit! Meine Seele ist in einem Bann, aus dem nur Sie mich erlösen können, und Ihre Liebe gilt mir als eine Vergebung meiner Sünden. Werden Sie meine Erlöserin, mein Schutzgeist, Eva!“

„Sie fordern das Unmögliche von mir, Adalbert, was seit einer Stunde zu einer Unmöglichkeit geworden ist! Diesen Morgen sandte ich Reinhard meine schriftliche Einwilligung.“

Wieder entrang sich ein kurzer, wilder Schrei seiner Brust, aber er faßte sich gewaltsam und fragte hastig: „Und er? warum ist er nicht hier, nicht bei Ihnen?“

Sie gab ihm in kurzen Worten Aufklärung, und als er sie vernahm, überflog ein hellerer Schein seine düsteren Züge.

„Wenn Sie ihm Ihre Botschaft noch nicht gesandt, ihm Ihr Wort nicht gegeben hätten – welche Antwort würden Sie dann für mich haben? Ich kann, ich muß verlangen, daß Sie mir das sagen!“

„Dann, Adalbert – –“ die Erschütterung überwältigte sie – sie stockte.

„Dann Eva, dann? –“ drängte er.

„Martern Sie mich nicht, Adalbert – ich kann, ich darf Ihnen darauf nicht antworten!“ sagte sie und brach in Thränen aus.

„Eva, Du bist – Du wirst mein, mögen die Dinge kommen und gehen, wie sie wollen!“ jubelte er aus, riß sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit an sich, um sie eben so schnell wieder aus seinen Armen zu lassen, und war in der nächsten Secunde verschwunden.

Der Doctor Reinhard war heute früher als gewöhnlich mit seinen ärztlichen Visiten fertig geworden und in seine Wohnung zurückgekehrt, wo er auf seinem Schreibtisch unter anderen eingelaufenen Briefen Eva’s Schreiben vorfand, das sich ihm sofort durch seine zierlichen Züge verrieth. Er erbrach es hastig und ein heller Freudenschein breitete sich beim Lesen über seine ernsten Züge. „Gottlob,“ murmelte er, „Gottlob, daß meine Sorge keinen Grund hatte! Armes, kleines Herz – welches Vertrauen sie in mich setzt! Helfe mir Gott, daß sie sich nimmer getäuscht fühle! Gelte es das Opfer meines Herzbluts: ich will sie glücklich sehen!“

Er stützte den Kopf auf die Hand und blickte sinnend vor sich hin, während sein Gesicht einen immer heiterern Ausdruck gewann, denn vor ihm stiegen die Bilder einer freundlichen Zukunft auf und nahmen ihn so gefangen, daß er eine Weile fast die Gegenwart darüber vergaß. Endlich aber sprang er auf und rief „Thor, der ich bin, daß ich über dem Träumen von Glück das wirkliche Glück zu ergreifen zögere! zu ihr!“ Schnell griff er nach seinem Hut und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als sich noch ein Besucher meldete und auf Reinhard’s „Herein!“ Adalbert über die Schwelle trat.

Mit einem raschen Blick überflog dieser die Gestalt des Doctors, und als er den freudig-glücklichen Ausdruck seiner Züge wahrnahm, den selbst die etwas unangenehme Ueberraschung über den Eintritt [19] des jungen Officiers nicht ganz hatte verwischen können, biß er unwillkürlich die Lippen zusammen.

„Sie haben einen Brief von meiner Cousine Eva erhalten und – gelesen, Herr Doctor?“ fragte er nach der ersten stummen Verbeugung.

Reinhard sah ihn befremdet an, sagte aber dann ruhig: „Ich will Ihrer etwas seltsamen Frage die Antwort nicht weigern – ja, ich habe einen Brief von Fräulein Eva empfangen.“

„Ich weiß, was er enthält, rief Adalbert in kaum noch beherrschter Aufregung. „und komme, um Ihnen zu sagen – –“

„Nun?“ fragte der Doctor, dessen Gestalt sich höher vor dem jungen Manne aufrichtete.

„Daß Sie dennoch keine Rechte auf Eva’s Hand darauf gründen dürfen! Ich – ich selbst werde mit Ihnen darum ringen – wenn es sein muß, bis aufs Aeußerste. Eva muß – hören Sie: sie muß mein werden – und sollte ich mit Himmel und Hölle um sie kämpfen!“

Der Doctor betrachtete seinen Gegner mit einem ruhig kalten Blick.

„Ich will nicht untersuchen, ob Fieber oder Wahnsinn in diesem Augenblick aus Ihnen spricht, Herr Lieutenant, bin aber glücklich, daß ich Eva frei von Ihrem Einfluß weiß, und es ist darum unnütz, weiter auf Ihre Forderung einzugehen.“

„O, Sie kennen Eva’s Herz wenig,“ rief Adalbert in steigender Heftigkeit, „sonst würde Ihnen diese stolze Zuversicht fehlen. Wissen Sie, daß ich jetzt, in dieser Stunde mit ihr geredet habe und daß ich nicht sicherer von Gottes Barmherzigkeit überzeugt bin als davon, daß Eva’s Herz mir gehört?“

Des Doctors Wangen waren unwillkürlich etwas bleich geworden, dennoch aber sagte er mit vollkommener Festigkeit: „Ich habe ihr Wort in Händen; – ein Mädchen wie Eva lügt nicht.“

„Nein, aber sie kann sich täuschen – blind gegen sich selbst sein, bis ihr die Binde von den Augen fiel!“

„Sagen Sie dann lieber“ – fiel der Doctor mit Bitterkeit ein – „bis sie ihr mit frevelnder Hand von den Augen gerissen wurde, um sie mit Trug und Arglist zu blenden!“

„Herr Doctor!“ fuhr Adalbert mit wilder Heftigkeit auf, bezwang sich aber sofort und setzte in ruhigerem Tone hinzu: „Ich bin bereit, Ihnen jede Genugthuung zu geben, erbötig, daß wir mit den Waffen in der Hand unsere Ansprüche an Eva’s Hand ausgleichen. Bestimmen Sie – –“

Reinhard maß ihn mit einem finster verächtlichen Blick und sagte kalt: „Zu einem Thoren- und Narrenstreiche verleiten Sie mich nicht, mein Herr Lieutenant ebenso wenig, wie Sie bis jetzt den Glauben an Eva in mir zu erschüttern vermochten. Was hinter meinem Rücken vorgegangen ist, will ich nicht beurtheilen und nicht richten, bis ich es aus ihrem Munde erfahren habe – und bis dahin mag auch alles Weitere aufgeschoben bleiben!“

„Wohl es sei so!“ entgegnete Adalbert. „Sprechen Sie mit Eva; auch ich habe die Ueberzeugung, daß sich dann alles Andere von selbst fügen wird, und verlasse Sie jetzt, um einer raschen Entscheidung nicht im Wege zu stehen.“

„Ich bitte Sie noch um einen Augenblick,“ sagte Reinhard. „Wie auch Eva’s Erklärung ausfallen mag: wir Beide – das fühle und hoffe ich! – werden jetzt die letzte Unterredung mit einander gehabt haben, und da bleibt mir noch eins übrig – Ihnen einen Theil Ihres Eigenthums zurückzugeben, das vor einem Jahre zufällig“ – er betonte das Wort in eigenthümlicher Weise – „in meine Hände gerathen ist und das ich aufbewahrt habe, um es Ihnen dereinst so oder so wieder zuzustellen.“

Er ging nach seinem Schreibtisch, drückte auf die Feder eines verborgenen Fachs und nahm einen kleinen, in Papier gewickelten Gegenstand heraus, der sich beim Zurückschlagen der Umhüllung als ein weißer Herrenhandschuh erwies, wie ihn die Seeofficiere zu tragen pflegen. Er reichte ihn Adalbert[2] hin, indem er dabei leicht auf den umgeschlagenen Rand deutete, der mit einem Anker und den gestempelten Buchstaben A. v. W. gezeichnet war, und bemerkte: „Ich fand ihn in dem Geschäftszimmer Ihres Onkels, als ich wegen seiner Erkrankung zu ihm geeilt war, und nahm ihn an mich, um ihn vor unberufenen Blicken und Händen zu bewahren.“

Durch Adalbert’s Züge zuckte es wie ein Krampf und unter seinen zusammengezogenen Brauen weg schoß ein Blick auf den Doctor, wie ihn ein Tiger für die Beute haben mag, auf die er sich im nächsten Augenblick stürzen will. Mit Blitzesschnelle ging aber alles dies vorüber und sein Gesicht war so ruhig wie seine Stimme, als er antwortete: „Ich danke Ihnen für die gewissenhafte Aufbewahrung dieser unbedeutenden Kleinigkeit, und wenn ich auch kein Gewicht auf die Wiedererlangung lege, weiß ich doch Ihre gute Absicht zu schätzen!“

Dann verbeugte er sich mit der vollkommenen Haltung eines Weltmanns und verließ das Zimmer. Der Doctor sah ihm mit finsteren Blicken nach und murmelte mit einer Art bitteren Humors: „Auch dies Mittel, ihn zu bannen, ist fehlgeschlagen – er hat den Handschuh aufgenommen – wohl, so sei der Kampf gewagt!“ Dann ging er zu Eva.

Das junge Mädchen war in der peinvollsten Gemüthsstimmung zurückgeblieben, als Adalbert von ihr fortgestürzt war. Was konnte, was sollte aus alle dem werden, was war aus ihr selbst, aus dem kaum empfundenen Frieden in dieser einen Stunde geworden? Wie ein wirrer, wüster Traum war Alles über sie gekommen, hatte sich mit Felsenlast auf ihr Herz gewälzt; und doch – so seltsam es war – sehnte sie sich kaum nach Befreiung, denn durch allen Schmerz, alle Sorge drang immer wieder ein Gefühl von Seligkeit: die Gewißheit, daß Adalbert sie liebte. Ob sie selbst ihn liebte, war ihr nicht klar – sie wagte auch nicht, ihr Herz darum zu fragen, denn die Neigung desselben für den Doctor erschien ihr immer noch als eine heilige Pflicht, der sie treu bleiben mußte und wollte. Dennoch aber erbarmte es sie unsäglich, daß Adalbert unglücklich war, daß er es ihrethalben war, und sie hätte ihr Leben hingeben mögen, um ihm die Ruhe zurückzuerkaufen. – Und in dieser Stimmung sollte sie nun Reinhard wiedersehen, der ja kommen mußte, um sie als seine Braut zu begrüßen. Mit zitternder Angst wartete sie auf sein Erscheinen und bebte zusammen, als sie endlich seinen Schritt auf der Treppe hörte. Die Thür ging auf und seine hohe Gestalt erschien auf der Schwelle. Statt aber auf sie zuzueilen, sie in die erste bräutliche Umarmung zu ziehen, ließ er erst einige Secunden lang seine Blicke prüfend auf ihr ruhen; dann trat er näher, ergriff ihre Hand und sagte:

„Eva, ich habe Ihren Brief empfangen, aber auch Ihren Vetter Adalbert gesprochen; sagen Sie mir, daß alles das nicht wahr ist, was er mir gesagt hat, daß Sie sich selbst treu geblieben sind, mich nicht betrogen haben mit dem Worte, das Sie mir gaben!“

Seine Stimme, die anfangs fest gewesen war, bebte bei den letzten Worten in tiefer Bewegung, und jeder Ton derselben drang ihr in’s Herz.

„O Reinhard, ich wußte es ja nicht, als ich Ihnen schrieb!“ sagte sie, indem sie bange ihre Hände faltete.

„Was wußten Sie nicht, Eva?“ fragte er mild.

„Daß Adalbert mich liebte, daß er ohne mich verzweifeln müsse, wie er mir nun gesagt hat!“

„Und Sie, Eva – was haben Sie ihm darauf erwidert? Antworten Sie mir, als ob Sie in diesem Augenblicke vor Gott ständen –: haben auch Sie ihm Ihre Liebe gestanden?“

Sie fuhr wie in jähem Schrecken mit der Hand nach dem Herzen und rief: „Nein, o nein, Reinhard. Ich war nur namenlos traurig, keine Hülfe für ihn zu wissen!“

Er athmete wie erleichtert hoch auf und sagte dann weich: „Gott hat Ihnen beigestanden, Eva, daß Ihr Herz fest geblieben ist bei der Stimme des Versuchers! Er helfe auch mir, daß ich Ihnen lohnen darf durch die treue Liebe meines Herzens, die Sie durch’s Leben leiten soll! Der Kummer, den Sie jetzt empfinden, wird vergehen, und mit ihm werden Sie bald vergessen, an Ihren Vetter selbst zu denken!“

Fast erstaunt blickte sie zu ihm auf und sagte fest: „Vergessen? Adalbert vergessen? Das ist nicht möglich, Reinhard! Von jener Stunde an nicht mehr: das weiß, das fühle ich!“

„Und wie werden Sie an ihn denken?“ fragte er in athemloser Spannung.

„Mit viel tausend Thränen, Reinhard,“ sagte sie, „und mit heißen Gebeten, daß Gott ihn bewahren und behüten möge, und forderte er dafür auch mein Glück und mein Leben!“

„Eva, Sie lieben ihn!“ stieß der Doctor verzweiflungsvoll heraus.

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und sagte tonlos: „Ja, ich glaube, daß das Liebe ist. Möge Gott, mögen auch Sie mir vergeben, Reinhard!“

[20] „Unglückliche; Sie kennen den Mann nicht, den Sie lieben!“ rief der Doctor im furchtbarsten Seelenschmerz.

„Doch, Reinhard!“ sagte sie einfach und legte die Hand auf’s Herz.

„Denken Sie an Ihren Vater,“ beschwor er sie, „und fragen Sie sich, ob er Ihre Wahl segnen würde! Ich, als der jüngere, aber vertraute Freund Ihres Vaters, glaube zu wissen, daß er Ihrem Vetter die Hand seiner Tochter nimmer gewährt haben würde!“

„O, er!“ sagte Eva, und ein verklärter Ausdruck durchleuchtete ihre Züge, „wenn ich nicht gewußt hätte, daß er Adalbert als seinen eigenen Sohn betrachtete, so würde mir die tiefe Trauer, mit der dieser von dem Gestorbenen spricht, gesagt haben, daß auch er seinen Vater in ihm verloren hat.“

„Vielleicht war das Verhältniß früher so – aber später, Eva, bei Adalbert’s letztem Hiersein waren Sie abwesend, und Sie haben mir selbst gesagt, daß Ihnen keine günstige Meinung von ihm beigebracht ist; müssen Sie sich nicht fragen, ob nicht auch Ihr Vater ihm damals abgeneigt wurde?“

Sie lächelte fast im Gefühl ihrer Sicherheit, als sie erwiderte: „Mein Vater hatte ihm eine Zuneigung bewahrt, von der er selbst sagte, daß sie bis zur Schwäche ginge. O, ich habe den Brief noch und habe ihn in dieser Zeit oft wieder gelesen;“ fuhr sie erröthend fort, „in welchem er mir von dem Vetter erzählt, seine Geradheit und sein edles, warmes Herz preist, das sich bei allen tollen Streichen nicht verleugne und ihm Bürgschaft sei, daß das Leben noch einen ganzen Mann aus ihm machen werde. O, der Vater hat ihn besser gekannt als alle Anderen, die ihn nachher verlästerten und denen ich anfangs mehr glaubte als der Meinung des Todten!“

„Wie wissen Sie aber, daß er selbst seine Meinung nicht nachher noch geändert hat?“ fragte Reinhard erregt.

„Der Brief war am Tage vor seiner Erkrankung geschrieben,“ sagte Eva, als wenn sie damit jeden weiteren Einwurf abschneiden müsse.

„Aber es lagen Stunden, es lag ein ganzer Tag dazwischen,“ sagte er finster; „ein Augenblick zeigt oft das Wesen und den Charakter eines Menschen in seinem wahren Lichte, den wir jahrelang verkannt haben!“

Eine dunkle Röthe übergoß in diesem Augenblicke Eva’s Gesicht, und sie blickte den Doctor fest und zürnend an. „Reinhard,“ sagte sie, „Sie wissen nicht, wie wehe Sie mir thun, denn Sie zeigen sich von einer Seite, die ich bisher nicht an Ihnen kannte. Ich habe Sie für edler und großmüthiger gehalten!“

Er hatte sich in heftigster Bewegung abgewandt und kämpfte augenscheinlich mit sich; dann trat er zu ihr, ergriff ihre beiden Hände und sagte traurig: „Eva, auf Ihren Besitz muß ich verzichten, ich fühle es; aber gönnen Sie mir den Trost, daß Sie sich keinem Unwürdigen zuwenden. Ich kann, ich darf nicht mehr sagen – aber ich beschwöre Sie, nur das eine Mal noch: schenken Sie mir Vertrauen!“

„Reinhard,“ sagte sie fast stolz, „ich verzeihe Ihnen, was Sie in diesem Augenblicke sprechen, um des Leides willen, was auch ich Ihnen zufügen muß; und auch deshalb,“ fuhr sie mit einer wunderbaren Freudigkeit fort, „weil ich durch Sie erst inne geworden bin, wie tief und heiß ich Adalbert liebe. Was mir selbst vor einer Stunde noch dunkel und unklar war, ist nun in ein helles, goldenes Licht getreten, und darum sage ich Ihnen: wäre Adalbert auch mit einer schweren Schuld beladen, wäre er von der ganzen Welt angefeindet und verleumdet – dennoch würde ich mich an seine Seite stellen, würde mein Herz mir sagen: das ist der Mann, dem Du eigen bist und sein mußt, er und kein anderer!“

„Eva,“ rief er außer sich, „der Augenblick bethört Sie, reißt Sie hin – es kann nicht so sein!“

„Es ist so und bleibt so,“ entgegnete sie fest, indem sie die Hand auf’s Herz legte, „so wahr mir Gott helfe!“

„Nun, dann scheiden sich unsere Wege!“ sagte er düster. „Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Eva!“

„Ich Ihnen aber noch ein Wort,“ sagte sie und die frühere Weichheit, welche einem gänzlich veränderten Wesen Platz gemacht hatte, das sie plötzlich um Jahre hinaus älter und reifer hatte erscheinen lassen, kehrte zurück. „Bleiben Sie mir, was Sie waren, Reinhard – mein Freund!“

Sie hatte ihm bittend die Hand hingereicht, er aber wandte sich ab und sagte, während sich ein Zug eigenthümlicher Härte über sein Gesicht legte: „Ich bin keines halben Gefühls fähig, Eva, vermag auch nicht, es von Anderen anzunehmen, darum ist es besser, wir lösen jetzt jedes bestehende Band und gewöhnen uns, als Fremde an einander zu denken.“

„Sie zürnen mir!“ sagte sie traurig.

Er schwieg einige Augenblicke und sagte dann: „Ich zürne vielmehr mir selbst, Eva, daß ich glauben konnte, ein Wesen wie Sie, jung, schön, mit vollem Anspruch an das Leben, könne sich in ruhiger Neigung glücklich fühlen. Nun, ich habe den Irrthum gebüßt und will zu vergessen suchen!“

Sie griff weinend nach seiner Hand, die er ihr nicht entzog; doch erwiderte er den Druck der ihrigen nicht und sie fühlte nur, daß dieselbe eiskalt zwischen ihren glühenden Fingern lag. In der nächsten Minute sah Eva sich allein und nun machte sich ihr Gefühl durch heiße Thränen Luft, die in diesem Augenblicke mehr dem Schmerz um den verlorenen Freund als der Seligkeit des vor ihr auftauchenden Glückes galten. Erst Adalbert’s Eintritt, der den Doctor hatte fortgehen sehen, rief dieselbe auf’s Neue in ihrem Herzen wach, und als er in fast athemloser Spannung fragte: „Nun, Eva, ist mein Loos entschieden?“ da warf sie sich in seine Arme und rief:

„Ja, Adalbert, ich habe Allem, Allem entsagt, um nur Dir anzugehören!“

Aus seinen Augen drangen Thränen, als er sie fest an seine Brust drückte und mit vor tiefer Rührung zitternder Stimme erwiderte: „Möge Gott mich nicht selig werden lassen, wenn ich Dich nicht auf meinen Händen durch’s Leben trage!“


Das junge Paar war nach seiner rasch auf die Verlobung folgenden Hochzeit von dem früheren Wohnort nach einer größeren Hafenstadt gezogen, wohin Adalbert durch seinen Dienst berufen war. Eva hatte gern die alte Heimath verlassen, weil sie damit peinigenden Erinnerungen, die immer noch wie Vorwürfe auf ihrem Gewissen lasteten, zu entgehen hoffte, und mehr noch hatte Adalbert geeilt, aus dem „verwünschten Nest“ – wie er es nannte – und all’ seiner „philisterhaften Misère“ fortzukommen. Seine Mutter hatte sich von ihrem Sohne, durch dessen Verheirathung mit Eva sie den höchsten Wunsch ihres Lebens erfüllt sah, nicht zu trennen vermocht und war ihm nach dem neuen Wohnorte gefolgt, hatte sich dort aber nur kurze Zeit in dem jungen Hausstande wohl fühlen können, denn ein rascher Tod raffte sie nach kurzer Krankheit unerwartet hinweg. Sie schied in dem festen Glauben an das ungetrübte Glück ihrer Kinder; denn auch von dem, was früher zwischen Eva und dem Doctor vorgegangen, war sie ohne Ahnung geblieben.

Ob Adalbert während des Jahres, das Eva nun als Gattin an seiner Seite gelebt hatte, stets des Schwurs jener Minute eingedenk gewesen war – wer mochte es entscheiden? Sah man die leidenschaftliche Zärtlichkeit, die er ihr zwischendurch bewies, war man Zeuge der weichen Hingebung, mit welcher er ihr sein ganzes Wesen und Leben gewissermaßen zu Füßen breiten konnte, so durfte Einem kaum ein Zweifel kommen, daß seine Gefühle noch ganz so waren wie in der Stunde, als er so verzweiflungsvoll um ihre Hand gefleht hatte. Und doch wieder wagte man nicht recht all das Glück dieser Ehe zu glauben, wenn man die etwas bleiche junge Frau ansah, in deren Zügen die frühere kindliche Heiterkeit längst einem ernsten Ausdruck, der nicht selten geradezu kummervoll war, Platz gemacht hatte. Zwar verrieth ihr Mund nie den Zustand ihres Herzens, ließ keine Klage über den Gatten laut werden, aber zu leugnen blieb nicht, und Eva selbst konnte es sich am wenigsten verhehlen, daß es ihr nicht gelungen war, seine leidenschaftliche Natur zu besänftigen, ihn zur Harmonie mit sich und der Welt zurückzuführen. Hatte sie einst in dem Vertrauen auf seine und ihre Liebe gehofft, den finstern Geist, welcher ihn zu Zeiten beherrschte, bannen zu dürfen, hatte sie sich begeistert und hingerissen gefühlt durch den Gedanken, daß sie berufen sei, sein Schutz- und Friedensengel zu werden – wie er selbst ihr gesagt –: so hatte sie längst mit heißem und tiefem Schmerz einsehen müssen, daß sie zu schwach war, den Dämon in seiner Brust zu besiegen, daß es ihr versagt blieb, einen dauernden Einfluß auf sein zerfahrenes Gemüth zu gewinnen. Nur langsam, nur allmählich war sie von all’ jenen Hoffnungen geschieden und immer wieder hatte [21] sie sich in den Momenten, wo ihr sein ganzes Sein zu gehören schien, zu neuer Geduld, zu neuen Bestrebungen gekräftigt gefühlt. Endlich aber war sie müde geworden und immer mehr und mehr verlor sie die Waffen aus den Händen, mit denen sie Adalbert’s ungleiche Stimmungen zu bekämpfen gesucht hatte.

Aber nur dem tiefer dringenden Blick verrieth sich alles das; vor der Welt erschien Adalbert als der glückliche Gatte einer schönen, angebeteten jungen Frau, und Eva wiederum ward fast beneidet um seinen Besitz, denn überall wußte Adalbert durch seinen sprudelnden Geist, seine persönliche Liebenswürdigkeit, die durch sein schönes Aeußere gehoben ward, die Menschen zu fesseln und hinzureißen, während ihm daneben – hauptsächlich von seinen Cameraden – der Ruhm eines biederherzigen, streng ehrenhaften Charakters zuerkannt wurde. Ueberall geliebt und ausgezeichnet, wurde das junge Paar vielfach in die geselligen Kreise der Stadt gezogen, und obgleich Eva von vornherein ein stilles Daheimleben gewünscht und gewählt haben würde, mußte sie doch um ihres Gatten willen, der die Zerstreuungen nicht selten mit einer gewissen Hast suchte, nachgeben und häufiger, als ihr lieb war, an den Vergnügungen des Orts theilnehmen.

[44] Ein glänzendes Casino, an dem vorzugsweise die Officiere der Marine mit ihren Familien theilnahmen, zählte auch heute Adalbert und Eva zu ihren Gästen und der fröhliche Ton, welcher in der Gesellschaft herrschte, schien diesmal einen besonderen Einfluß auf Ersteren zu üben, denn die junge Frau, welche ihn nach ihrer Gewohnheit aus der Ferne sorgsam, wenn auch unbemerkt, beobachtete, nahm zu ihrer Freude wahr, daß er sich ungezwungener und heiterer der Unterhaltung hingab, als er sonst zu thun pflegte. Er stand jetzt nicht weit von ihr in einer Gruppe von Officieren, mit denen er sprach, und ihr Ohr erquickte sich an seinem herzlichen Lachen, das von Zeit zu Zeit zu ihr herüberscholl.

In diesem Augenblick trat ein anderer Marineofficier, den sie bisher in der Gesellschaft noch nicht gesehen hatte, an die Herren heran und wandte sich mit den Worten: „Sag’ mir ein Wort des Willkommens, Wallberg!“ an Adalbert, dem er zur Begrüßung die Hand hinhielt.

Wie mit einem Zauberschlag war alle Heiterkeit von Adalbert’s Gesicht verschwunden und Eva sah seine Wangen bleich werden; doch faßte er sich auf der Stelle und sie hörte ihn fragen, indem er die gebotene Hand faßte und schüttelte:

„Soll ich an Geister glauben, Rosen? woher kommst Du?“

„Direct von Japan!“ entgegnete der Andere, bei dem sich ein gewisses aufgeregtes Wesen verrieth, und fuhr, nachdem er auch die übrigen Herren begrüßt hatte, fort: „Ich habe Urlaub gefordert und erhalten, weil Familienverhältnisse meine Rückkehr nöthig machten, während die ‚Arethusa‘ noch auf Jahre hinaus dort stationirt bleiben wird, und bin mit dem Transportschiff ‚Diomed‘ heute im hiesigen Hafen eingelaufen.“

Die Unterhaltung war eine Weile allgemein und schien sich auf die erwähnte Expedition zu beziehen; dann aber bemerkte Eva, daß Rosen sich wieder speciell an Adalbert wandte und, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte, zu ihm sagte: „Ich höre, daß Du verheirathet bist, alter Junge, und daß Deine Frau sich hier in der Gesellschaft befindet; so bitte ich, stelle mich ihr vor!“

Es war Eva, als ob Adalbert der Aufforderung nur ungern Folge leistete, und auf seinem Gesicht lag jener finstere Zug, der ihr schon so manchen Kummer bereitet hatte, als er in der nächsten Minute mit dem Neuangekommenen vor sie hintrat und ihr denselben mit kurzen Worten als seinen Freund, den Capitainlieutenant Rosen, vorstellte. Letzterer schien aber in keiner Weise die Stimmung Adalbert’s zu theilen, vielmehr nahm er unbefangen an ihrer Seite Platz, nachdem er sie zuvor in der verbindlichsten Weise begrüßt hatte, und begann sofort eine eifrige Unterhaltung anzuknüpfen, in deren Verlauf Adalbert die ihm augenscheinlich höchst unangenehme Wahrnehmung machte, daß dem Cameraden schon von vielen Seiten ein Willkommstrank credenzt sein mußte, denn nur der Wirkung des Weins konnte er dessen allzu ungebundene Weise zuschreiben. [45] Er suchte nach Mitteln, um ihn auf unverfängliche Art aus Eva’s Nähe zu entfernen, aber Rosen fing an, sich auf seinem Platze sehr behaglich zu fühlen und daneben über Adalbert’s unzufriedene Miene zu spotten.

„Sehen Sie nur, gnädige Frau,“ sagte er zu Eva, „welch’ bitterernstes Gesicht er zu machen versteht, und doch sage ich Ihnen, er war der lustigste Vogel von uns allen, als wir noch ein paar Jahre jünger waren! An tollen, verwegenen Streichen hat’s denn auch nicht gefehlt, haha! wenn sie uns auch bisweilen arg in die Patsche gebracht haben! Denkst Du noch an die lustigen Nächte bei Karte und Würfelspiel, Wallberg? Haha! Du brauchst mich nicht so finster anzublicken, denn es sind ja nur vergangene und vergebene Sünden, die ich aufdecke! Ich habe schon gehört, daß Du tugendhaft geworden bist und seit der Zeit weder Karte noch Würfel mehr anrührst – aber dazumal, parbleu, wie haben wir dem gestrengen Admiral ein Schnippchen geschlagen und es selbst auf die Cassation, die uns drohte, ankommen lassen!“

„Rosen, Du vergißt, daß eine Dame, meine Frau, uns hört!“ sagte Adalbert, kaum noch im Stande, seinen Zorn niederzuhalten.

„Pah! Deine schöne Frau sieht nicht aus, als ob sie stark im Gardinenpredigen wäre! Ich wette, sie verzieht Dich wie alle Damen, denen Du es mit Deinen schwarzen Augen anzuthun verstandest, und verwünscht mit uns den schuftigen Juden, der uns nicht einmal auf unser Ehrenwort leihen wollte, als wir in der bösen Klemme steckten!“

In Adalbert’s Brust kochte es. „Rosen, laß die Erinnerungen bis zur gelegenen Stunde, bis wir allein sind!“ rief er.

„Warum, Wallberg, da sie mir gerade jetzt kommen? Warum [46] soll ich Dir jetzt nicht sagen und Dir dafür danken, daß Deine Großmuth uns Beiden damals geholfen hat? Ja, solch ein reicher Oheim, der überdies Vormund ist, ist zu gebrauchen, wenn man seine Sachen nur schlau und dreist zugleich anzufangen weiß! Haha! hast ihm aber die Daumschrauben wohl gehörig ansetzen müssen, he, alter Junge?“

Adalbert war kreideweiß geworden; seine Züge verzerrten sich wie in furchtbarem Grimm, während seine Augen Blitze zu sprühen schienen.

„Rosen,“ keuchte er mehr als er sprach, „ich verbiete Dir, länger von diesen Dingen zu reden, hörst Du? – ich verbiete es Dir!“

Als hätte dies eine Wort dem Genannten plötzlich alle Haltung wiedergegeben, ihn vollkommen nüchtern gemacht, sprang er rasch von seinem Sitze auf und indem er einen Blick über Eva gleiten ließ, die todesbleich und vor Entsetzen über die Heftigkeit ihres Mannes stumm zurückgesunken war, flüsterte er:

„Ich schweige jetzt aus Rücksicht für Deine Frau, aber später treffen wir uns!“ und war gleich darauf durch die Thür eines Seitenzimmers verschwunden.

Glücklicherweise hatte die Scene keine weiteren Zeugen gehabt, da schon beim Beginn der Unterhaltung der im anstoßenden Salon anfangende Tanz die anderen Gäste angelockt und aus der Nähe der Sprechenden entfernt hatte. Nachher bemerkte man nur, daß Adalbert sich besorgt über seine Frau beugte und diese gleich darauf an seinem Arm aus dem Zimmer führte, wobei er einigen nähertretenden Bekannten die kurze Erklärung gab, daß Eva – wahrscheinlich durch die Hitze des Zimmers – unwohl geworden sei und sich in der Ruhe des Hauses erholen müsse.

In der That hatte der Schreck so auf die junge Frau gewirkt, daß sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte und erst Erleichterung fand, als sie zu Hause in ein heftiges Weinen ausbrach. Adalbert war auf’s Zärtlichste und Sorgsamste um sie bemüht, indem er ihr wieder die ganze Weichheit und Liebenswürdigkeit zeigte, deren seine Natur fähig war. „Armes Vöglein,“ sagte er, indem er ihr das Haupt an seine Brust drückte, „hat Dich die Rauhheit der Männer erschreckt? Laß mich Dein Köpfchen hier betten, daß es Ruhe finde!“ – Ach, aber wie sollte sie Ruhe finden an dem Herzen, das selbst so stürmisch und unruhvoll klopfte?!

„Was war es, was bedeutete das Alles, Adalbert?“ vermochte sie nur bang und ängstlich zu fragen.

„Eine unerhörte Tactlosigkeit Rosen’s,“ sagte er, die Stirn runzelnd, „der alte Sünden und Thorheiten wieder anregte und mich dadurch erbitterte; denn nicht wahr, Eva, fuhr er weicher fort, „alle sind begraben in Deiner Liebe?“

„Alle, Adalbert,“ sagte sie, indem sie den Arm um seinen Nacken schlang, „und wären ihrer weit mehr und größer, als die er Dir schuld gab!“

Er küßte sie zärtlich, gab ihr tausend Schmeichelnamen und brachte es wirklich durch seine Bemühungen dahin, daß sie ruhiger wurde und zuletzt fast die Ursache ihrer Aufregung vergaß. Nur ihr erschöpfter Körper erinnerte sie noch daran und so gab sie Adalbert’s Bitten nach, sich zum Schlaf niederzulegen, damit rasch die letzte Spur des unangenehmen Vorfalls getilgt werde. Er begleitete sie noch bis zur Thür ihres Schlafzimmers, zog sie dann, als er ihr gute Nacht wünschte, noch einmal an seine Brust und küßte sie auf ihr schönes Haar, auf ihre Augen mit einer Rührung, die sie lange nicht mehr an ihm wahrgenommen. Als sie sich darauf zur Ruhe gelegt hatte, verließ er noch einmal das Haus; auf Eva aber senkte sich schnell der Schlummer nieder und hielt sie fest in seinen Armen, daß ihr die Wirklichkeit mit Allem, was dieselbe vielleicht über sie verhängen mochte, entschwand.

Ihr Schlaf dehnte sich am andern Morgen über die gewöhnliche Dauer aus, und selbst als sie mit halbwachen Sinnen unruhiges Geräusch und verworrene Stimmen im Hause vernahm, verschwammen dieselben mit ihren Träumen. Erst als ihr Mädchen zu ihr ins Zimmer stürzte und sie mit entsetzten Worten anrief, erwachte sie zu klarem Bewußtsein.

„Gnädige Frau, stehen Sie auf!“ klangen dieselben, „es steht nicht gut im Hause!“

„Um Gotteswillen, ist ein Unglück geschehen? Wo ist mein Mann?“ fragte Eva.

„Der Herr ist krank – verwundet glaube ich!“ stammelte das Mädchen.

Eva stieß einen Schrei aus und eine Fluth von Fragen wollte sich über ihre Lippen drängen, aber es kamen nur halbgebrochene Worte heraus, auf die das weinende, zitternde Mädchen nicht zu antworten wußte.

„Ich komme!“ stöhnte Eva endlich, warf sich in Hast einige Kleidungsstücke über und war im Begriff, ihr Zimmer zu verlassen, als ihr der Besuch des Doctors H., ihres Hausarztes, gemeldet ward.

„Was ist geschehen?“ riefen ihm ihre bebenden Lippen, fast deutlicher noch die stumme Sprache ihrer Augen entgegen.

Der Arzt schloß die Thür hinter sich, trat dann auf sie zu und sagte, indem er ihre Hand ergriff, mit bewegter Stimme: „Fassen Sie sich, gnädige Frau, um ertragen zu können, was ich Ihnen sagen muß!“

„Adalbert – mein Mann?!“ stammelte sie.

„Es hat eine Begegnung mit einem Cameraden stattgefunden und Ihr Herr Gemahl ist durch einen Pistolenschuß in die Seite verwundet worden.“

Sie zuckte noch zusammen, aber sie stieß keinen Schrei mehr aus. „Ist Gefahr da?“ fragte sie.

„Leider ja, gnädige Frau!“

„Auch Hoffnung?“

Der Arzt zuckte die Schultern. „Bei Gott ist kein Ding unmöglich, gnädige Frau!“

Sie wankte, daß er sie mit seinen Armen halten mußte, dann aber raffte sie sich gewaltsam auf und bat leise: „Führen Sie mich zu ihm!“ –

Als sie die Gestalt ihres Gatten bleich, regungslos, in weiße Tücher gewickelt, vor sich sah, sank sie mit einem Laut unsäglichen Wehs an seinem Lager nieder. Er lächelte matt, als er sie sah, legte dann die Hand auf ihr Haupt und sagte leise: „Armes Kind – nun sterbe ich!“

Den Ausbruch ihres leidenschaftlichen Schmerzes dämpfte der Arzt, der herzutrat und sie beschwor, jede Aufregung des Kranken zu vermeiden. Dieser schüttelte nur fast merklich das Haupt, als wollte er damit die Nutzlosigkeit jeder Sorge andeuten, und faßte nach Evas Hand, die er fest in der seinen hielt.

„Verlaß mich nicht – keinen Augenblick!“ bat er sie flüsternd.

Sie konnte nicht antworten, aber sie beugte sich über ihn und küßte seine Stirn, seinen Mund, seine Hände. Endlich erhob sie sich und fragte den Arzt:

„Kann etwas geschehen? Darf ich etwas für ihn thun?“

„Nichts!“ entgegnete dieser. „Nur ruhig – ruhig sein!“

Und ruhig blieb sie bei ihm, Stunden, lange, bange Stunden hindurch, in denen auch er sich nicht regte und zu schlafen schien; aber es war schwer zu sagen, ob er, ob sie bleicher und todtenähnlicher aussah. Endlich ward er unruhig, seine Züge zuckten wie in schmerzlichem Krampf, und in seinen Wangen stieg Fieberhitze auf. Er öffnete die Augen, sah Eva mit einem langen Blick an und flüsterte:

„Laß uns allein sein, Eva, ganz allein, hörst Du?“

Sie winkte dem anwesenden Wärter, das Zimmer zu verlassen – der Arzt hatte sich früher schon mit der geflüsterten Bemerkung entfernt, daß seine Hülfe für den Augenblick überflüssig sei und er später wiederkommen würde – und neigte sich mit den liebevollen Worten über ihn:

„Hast Du mir etwas zu sagen, Adalbert?“

„Zu beichten, ja, Eva!“ erwiderte der Kranke hastig. „Dem Sterben muß die Beichte vorhergehn – und sie ist schwer, die Beichte!“ fügte er mit einem stöhnenden Seufzer hinzu.

„So vertrau’ sie Gott, Deinem Herrn, allein an, der sie ohne Worte verstehn wird!“ bat sie erschüttert.

„Nein, Eva, nein, Du mußt es wissen! Rosen kann sich mit der Hälfte begnügen, die er weiß und Dir sagte, aber Du mußt Alles hören! Er hat nur den Funken gesehen, ich aber habe den Brand gefühlt immer und immer – hier im Herzen, Eva!“

„Laß, o laß, Adalbert!“ rief sie flehend, „Du sollst, Du mußt Dich schonen!“

„Schonen?“ rief er mit einer Art kurzen, wilden Lachens; „glaubst Du, die Flamme brennt minder heiß, wenn Andere sie nicht sehen?! Nein, laß mich, das allein giebt mir Lust und Linderung! – – Du hast es gehört, daß wir gejubelt und getollt und gespielt haben, und zuletzt war Alles verspielt und uns erwartete Cassation, denn wir hatten unsere Ehre um zweitausend [47] Thaler verpfändet, und der Schurke, an den wir sie verloren, drohte mit der Anzeige. Rosen kam mir nach, als ich zum Besuch bei der Mutter war, und war der Verzweiflung nahe – da schwor ich, uns Beiden zu helfen. Der Tag meiner Mündigkeit war nahe und dann mußte mir mein Erbtheil von dreitausend Thalern zufallen, das der Onkel für mich verwaltete. Ich bat ihn um die Herausgabe – er verweigerte sie; ich forderte sie – immer dringender – er blieb unerschüttert. Vielleicht glaubte er nicht, daß meine Noth so groß sei, vielleicht konnte er mir wirklich nicht helfen; ich aber hielt ihn für reich und wußte auch, daß er gerade zweitausend Thaler als städtischer Beamte eingenommen hatte und mich mit der Summe retten konnte. Aber mein Ansinnen empörte ihn; er nannte es eine Unredlichkeit und behauptete auch, er müsse noch am folgenden Tage Rechnung darüber ablegen, könne mir seine Ehre nicht opfern. Ich war wild und außer mir, Eva, und es kam zu heftigen Reden – hernach aber faßte ich einen verzweifelten Entschluß, meine Ordre war gekommen, die mich zum andern Tage an Bord rief, und in der Nacht – – aber gieb mir Wasser, Eva, die Worten die ich spreche, versengen mir die Lippen!“

Mit zitternder Hand reichte sie ihm den kühlenden Trank, während sie mit Grauen daran dachte, was er weiter noch sagen würde.

„In der Nacht,“ fuhr er, als er sich einigermaßen von seiner Erschöpfung erholt hatte, fort, „kehrte ich noch einmal zurück; ich wußte wohl, wo der Schrank stand, in dem das Geld lag, und da bedurfte es nur eines Drucks, um das Schloß zu sprengen.“

„Adalbert, um Gotteswillen, das hast Du nicht gethan!“ rief Eva entsetzt.

„O, ich that noch mehr, Eva, ich nahm das Geld, hörst Du! ich nahm es und gab es hernach Rosen, und mit ihm kauften wir Beide dann unsere Ehre zurück, haha! die verlorene Ehre, die noch zu kaufen war. Was siehst Du mich so starr an, Eva? Hast Du noch nie einen Menschen gesehen, der ein Dieb geworden ist? – o, es kommt noch besser, merk nur auf! – nun geht’s rasch, immer weiter dem Ende zu! Meinst Du, ich wisse nicht, daß den alten Mann darum der Schlag getroffen hat, weil er sich bestohlen fand und wußte, wer das Geld genommen hatte? Auch der Doctor wußte es, und ich habe ihn darum gehaßt bis auf’s Blut, bis auf den Tod, den ich jetzt leide! Den Onkel aber habe ich lieb gehabt, wenn er auch durch mich gestorben ist, so lieb, wie nur immer ein schlechter Sohn seinen Vater haben kann! Ich wollte ihm schriftlich Alles gestehen, ihn um Vergebung bitten, daß ich nur mein Erbtheil vorweggenommen, aber früher noch erhielt ich die Nachricht seines Todes. O, ich könnte noch jetzt um ihn weinen wie Du, wenn die Thränen in meinen Augen nicht ausgetrocknet wären, seit ich zum Schurken ward! Glaubst Du, daß ich noch einmal wieder weinen werde, Eva?“

„O gewiß, Adalbert,“ rief Eva, die kaum noch im Stande war, sich aufrecht zu erhalten, „Gott im Himmel wird Dir verzeihen und die Schuld von Dir nehmen!“

„Meinst Du?“ sagte er. „Sieh, ich habe zuweilen auch auf Erlösung gehofft und mir gesagt, daß sie mir durch Dich kommen müsse, Eva, und darum mußtest Du, Du mußtest mein werden – ich hätte Dich der ganzen Welt abgetrotzt. Deinen Vater hatte ich getödtet, mich selbst zu Grunde gerichtet; aber Du – Du solltest glücklich werden, und Niemand durfte über Dein Glück wachen, als ich allein! – Einst, als Du noch ein Kind warst, hatte ich gelacht, daß Du mich so lieb hattest und weintest, wenn ich mir nichts aus Dir machte – und nun fiel mir das Alles wieder bei und ich schwor mir zu, daß Du mein Weib werden solltest!“

„Also darum!“ schrie es in Eva’s Herzen auf; „darum sein Werben und darum Dein eigener Treubruch gegen Reinhard?!“ laut aber rang sich der Ruf aus ihrem Munde: „O, so sprach keine Liebe in Deinem Herzen, Adalbert?“

Der Kranke schwieg einige Augenblicke; die Fieberhitze auf seinen Wangen brannte stärker und seine Gedanken schienen sich zu verwirren.

„Liebe?“ flüsterte er endlich „o, wohl habe ich sie geliebt! – sie war so schön mit ihren dunklen Locken und den blitzenden Augen – fast schöner noch als Du, Eva, aber was durfte Emilie Waldow mich kümmern, was ging mein eigenes Herz mich an, wenn ich Dich nur gewann!“

„O mein Gott, mein Gott, stehe mir bei!“ murmelte die unglückliche Frau.

„Es ist nun Alles aus,“ fuhr er fort, indem er unruhig mit den Händen auf der Bettdecke hin- und herfuhr, „und Eva ist auch fort – aber wenn sie wiederkommt, sagt ihr, daß sie – mein guter Engel gewesen ist – meine Seele gerettet hat – vor Verzweiflung!“

„Adalbert, Adalbert, noch einmal dieses Wort, es rettet auch mich vor Verzweiflung!“ rief sie an seinem Lager niederstürzend.

Er schlug noch einmal die Augen auf und blickte sie mit einem matten, aber doch liebevollen Lächeln an.

„Vergieb mir, Eva, und bete für mich!“ hauchte er.

„Vater im Himmel, erbarme Dich über ihn und über mich!“ drang es aus ihrem brechenden Herzen.

Als der Arzt nach einer Weile zurückkehrte, um nach seinem Kranken zu sehen, fand er Eva ohnmächtig an der Leiche ihres Gatten zusammengesunken. –

In der Stadt erregte das unselige Ereigniß und der noch unseligere Ausgang desselben die allgemeinste Theilnahme, und mit tiefem Mitleiden sprach man von der unglücklichen jungen Frau, die durch den Verlust des heißgeliebten Gatten selbst an den Rand des Grabes gebracht worden war. Der Schmerz hatte sie auf das Krankenlager geworfen, wo sie wochenlang zwischen Tod und Leben schwebte, und als sie sich endlich wieder von demselben erhob, waren Monate seit dem Tode Adalbert’s vergangen. Sie war bleich, still und gefaßt, als sie in die Welt der Gesunden zurückkehrte, vermochte aber mit kaum irgend Jemandem von der traurigen Vergangenheit zu reden, und zeigte nur ein großes Verlangen, von dem Schauplatz derselben fortzukommen, so daß sie fast ungeduldig ward, als ihr der Arzt der vorgerückten rauhen Jahreszeit wegen anfänglich immer noch das Reisen verbot. Endlich erklärte sie geradezu, daß sie sich nicht länger halten lassen könne und am nächsten Tage die Stadt verlassen würde. Auf sein Befragen nannte sie ihm ihre Vaterstadt als vorläufiges Ziel ihrer Reise.

Doctor Reinhard saß in seinem Arbeitszimmer zwischen Büchern und Papieren, als ihm die Meldung gebracht wurde, daß eine Dame ihn zu sprechen wünsche. Er nahm sie ohne Ueberraschung auf, denn es war nichts Seltenes daß auch Frauen aus den höheren Ständen den vielbeschäftigten Arzt in seiner eigenen Wohnung aufsuchten, um desto schneller und sicherer seines Raths theilhaftig zu werden, und so glaubte er auch jetzt, es handle sich um eine ärztliche Consultation. Als aber die Dame, welche ganz in Schwarz gekleidet war, ins Zimmer trat und den Schleier, der ihre Züge bedeckt hatte, von ihrem Gesicht entfernte, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück und die Farbe wich aus seinen Wangen, als er sie erkannte.

„Eva – Frau von Wallberg!“ rief er halblaut.

Ihre großen Augen, die in dem blassen Gesicht jetzt noch größer erschienen als früher, blickten ihn wehmüthig an, und sie sagte bittend:

„Reinhard, seien Sie gut gegen mich – ich habe eine schwere Aufgabe zu erfüllen, wenn ich jetzt zu Ihnen komme!“

Er hatte sich wieder gefaßt. „Ich habe von Ihrem Verlust gehört,“ sagte er ruhig und theilnehmend.

Ueber ihr Gesicht zuckte es. „Ich hatte viel zu tragen und darf mich vielleicht im Leben nicht wieder frei fühlen von der Last des Kummers. Wenn Sie noch etwas wie Theilnahme für mich haben, so erlassen Sie mir, ausführlich von Dem zu sprechen, was Sie verstehen werden, wenn ich es nur andeute.“

„Aber warum überhaupt von etwas reden, was Ihnen Schmerz bereitet?“ fragte er sie. „Sollte es sich auf die Vergangenheit beziehen, so nehmen Sie mein Wort, daß ich diese als gänzlich todt betrachte, wenn dies Sie beruhigen kann!“

Sie schüttelte das Haupt. „Ruhig kann ich nur wieder werden, Reinhard, wenn ein dunkler Fleck, der auf ihr haftet, getilgt ist – und darum gerade kam ich zu Ihnen. – Sie kennen ein unseliges Geheimniß,“ fuhr sie fort und ihre bebende Stimme rang nach Festigkeit – „Reinhard, ich habe als Erbtheil eine Schuld auf mich genommen und muß mich davon lösen!“

„Eva, jetzt verstehe ich Sie wirklich nicht!“ entgegnete der Doctor, im höchsten Grade erregt.

Sie schwieg einige Augenblicke und sagte dann: „Habe ich Ihnen nicht einst gesagt, daß ich lange über die letzten Worte meines Vaters nachgesonnen hätte wie über ein schweres Räthsel? Sie verweigerten mir damals die Lösung, hernach aber habe ich sie gefunden und weiß nun, was es bedeutete, daß der Sterbende [48] Sie den Retter seiner Ehre nannte, weiß, daß dieselbe durch – den Verlust anvertrauter Gelder bedroht war.“

„Niemand kann Ihnen das gesagt haben, Eva!“ rief er erschüttert. „Kein lebender Mund –“

„O still, Reinhard!“ unterbrach sie ihn; „zwingen Sie mich nicht, Ihnen zu wiederholen, wie ich zu meiner traurigen Kenntniß gelangt bin! Ich sage Ihnen nur: lassen wir die lieben Todten ruhen! – – Der Kummer hat mein Herz gelähmt, aber mein Blick, mein Geist ist dadurch schärfer geworden und auf meinem einsamen Krankenlager in der langen, trüben Zeit habe ich mir Alles, was noch an dem Zusammenhange fehlte, zurecht gedacht. – Als ich dann die hinterlassenen Bücher und Papiere meines Vaters studirte – ich habe das auch jetzt erst gelernt, Reinhard,“ unterbrach sie sich mit einem schwachen Lächeln – „fand, ich, daß er aus eigenen Mitteln die fehlenden Gelder nicht hätte ersetzen können – und da wußte ich auch, wessen Hülfe sie ihm verschafft, seinen Namen unbefleckt erhalten hatte. Wenn ich Ihnen jetzt das geliehene Geld wiederbringe,“ fuhr sie fort, indem sie ein Päckchen mit Banknoten auf den Tisch legte, „so ist es mit heißem Dank – –“

„Unmöglich, Eva, ich kann das Geld nicht nehmen!“ unterbrach er sie heftig.

„Sie dürfen sich nicht weigern, Reinhard! Ich bitte, ich flehe Sie darum an, als die Tochter meines Vaters und – als das Weib Adalbert’s!“ fügte sie leise und, wie es schien, mit unsäglicher Anstrengung hinzu.

Eine Secunde schwieg er ergriffen, dann aber sagte er: „Wohlan, so hören Sie meinen Vorschlag, Eva! Annehmen kann ich das Geld nicht – ablehnen darf ich es nicht; aber hier in der Stadt ist eine Stiftung zur Unterstützung von Familien, denen der Versorger geraubt ist und denen ihre Stellung nicht erlaubt, sich öffentlich um die Wohlthätigkeit ihrer Mitmenschen zu bewerben; sie hat schon viel Segen gespendet – wollen Sie, daß ich ihr das von Ihnen empfangene Geld als ein Vermächtniß Ihres Vaters übergebe?“

Eva nickte nur zum Zeichen ihrer Einwilligung – sprechen konnte sie nicht. Beide bedurften einiger Augenblicke, um sich zu sammeln; dann sagte Eva: „Meine Mission ist nun erfüllt!“ und neigte abschiednehmend ihr Haupt.

Schon hatte Beider Mund das Lebewohl ausgesprochen, als er plötzlich ihre Hand ergriff und zu ihr sagte:

„Eva, Sie forderten einst von mir, ihr Freund zu bleiben. Damals konnte ich nicht anders: ich mußte mich von Ihnen losreißen! Jetzt aber bitte ich Sie selbst: lassen Sie mich Ihren Freund sein wie ehedem!“

„Wie ehedem!“ wiederholte sie und sah trübe lächelnd zu ihm auf „Wohl, Reinhard, ich danke Ihnen!“

[57] Anderthalb Jahre waren bereits seit Adalbert’s Tode hingegangen, und noch immer hatte die Zeit die Spuren der erlittenen Erschütterungen nicht bei Eva zu tilgen vermocht. Ihr Gemüth konnte sich nicht wieder von dem Schlage erholen, und gleichzeitig kränkelte auch ihr Körper, so daß von der früheren frischen Heiterkeit ihrer Mädchenjahre kaum noch etwas übrig geblieben war und Niemand die einst so blühende Eva in der bleichen jungen Frau mit den schwermüthigen Augen wiedererkannt haben würde. Schön war sie aber immer noch, vielleicht schöner als je, und Niemand konnte den Blick ohne Theilnahme der rührenden Gestalt zuwenden, auf der ein so schweres Schicksal lastete. Zwar hatte ihre jetzige Umgebung jene traurigen Ereignisse nicht mit ihr durchgelebt, denn Eva war nicht mehr nach der Hafenstadt zurückgekehrt, sondern nach einem ziemlich entfernten Orte gezogen, in dessen Nähe weitläufige Verwandte von ihr lebten; aber der Ruf hatte jene Vorfälle dorthin getragen, und man wußte allgemein, daß die Trauer, welche die junge Frau kaum abgelegt hatte und die sich noch mehr in ihrem ganzen Wesen verrieth, dem auf entsetzliche Weise herbeigeführten Tode eines geliebten Gatten galt, der sie allein und schutzlos in der Welt zurückgelassen hatte.

Mit den oben erwähten Verwandten war Eva früher wenig bekannt gewesen; doch hatte es sie in ihrer Verlassenheit getrieben, sich ihnen anzuschließen, da sie aller näheren Verwandten beraubt war und sich ihr armes, krankes Herz unsäglich nach Liebe und Theilnahme sehnte. In der That hatte sie auch eine überaus herzliche Theilnahme gefunden, und bald war es ihr ein gar wohlthätiges Gefühl, daß sie mit ihrem Leben nicht mehr allein auf sich selbst angewiesen war. Der Gedanke, es den Wünschen, ja dem Willen Anderer unterordnen zu dürfen, war ihr in mancher trüben Stünde ein Trost und ein Schutz gegen die sich ihr oft zu ihrer Qual aufdrängende Frage: „Wozu überhaupt noch leben?“ Sie zeigte sich darum auch freundlich – nachgiebig bei Allem, was ihre Freunde von ihr verlangten, namentlich bei dem, was sich auf die Stärkung ihrer Gesundheit, die diesen ernstliche Sorge machte, bezog. In diesem Jahre war es die allgemeine Forderung gewesen, der sich auch die des Hausarztes W. anschloß, daß Eva ein Bad besuchen sollte, und es war ihr ein nicht weit entlegenes vorgeschlagen worden. Freilich hatte sie anfangs mit einem halb wehmüthigen Lächeln gesagt: „Wozu denn das Alles? Ich fühle kein körperliches Leid, und für Das, was mir etwa fehlt, giebt’s wohl keinen Gesundbrunnen!“ Aber gefügt hatte sie sich doch, und so war sie jetzt mit dem Beginne des Sommers nach P., jenem gedachten Badeorte, gereist.

Es war am Morgen nach ihrer Ankunft, und sie erwartete in ihrem Zimmer den Besuch des Badearztes, den ihr Doctor W. als einen vorzüglichen Collegen gerühmt hatte, unter der Bemerkung, daß er selbst an ihn schreiben und ihm Eva zu besonders sorgfältiger Behandlung empfehlen wollte. Den Namen hatte dieser ihr zufällig nicht genannt, und auch, als ihr jetzt sein Eintreffen gemeldet ward, hatte sie denselben nicht vernommen; darum fuhr sie erschreckt und verwirrt empor, als er in’s Zimmer trat.

„Reinhard, Sie hier?“ stammelte sie.

Er trat freundlich und unbefangen auf sie zu und sagte: „Ich freue mich des Wiedersehens, Eva; aber Sie, Eva, wußten Sie nicht, daß Sie mich hier als Brunnenarzt finden würden?“

„Nein, ich wußte es nicht!“ sagte sie leise.

Er betrachtete sie einige Augenblicke schweigend, wie sie mit gesenkten Blicken vor ihm stand, und sagte dann:

„Doctor W. hat mir geschrieben – wollen Sie sich meiner Behandlung anvertrauen, Eva?“

Sie schlug die Augen fast lächelnd zu ihm auf, und er vermißte nicht das Wort, das ihn ihres unbegrenzten Vertrauens versichert hätte.

„Aber ich bin nicht krank – nur müde!“ sagte sie.

Wieder sah er sie einige Secunden lang prüfend an und sagte dann ernst:

„Wenn wir gesund sind, Eva, erlaubt uns das Leben auch nicht, müde zu werden! Nehmen Sie darum immerhin ärztlichen Rath an,“ fuhr er in freundlicherem und heitrerem Tone fort, „und der geht vor allen Dingen dahin, daß Sie sich ein wenig mehr in die Strömung des Lebens wagen, damit auch die eigenen Pulse wieder rascher klopfen lernen. Haben Sie Freunde und Bekannte neben sich oder überhaupt am hiesigen Orte?“

Eva schüttelte den Kopf. „Ich bin ganz allein!“ sagte sie.

„Nun, dann erlauben Sie mir, daß ich selbst sofort eine Bekanntschaft vermittle, die nicht ohne Interesse für Sie sein dürfte, und die vielleicht nur erneuert zu werden braucht; denn die Dame, von der ich spreche, stammt aus Ihrem Geburtsorte. Kennen Sie die Generalin Kerstein?“

Eva zuckte unwillkürlich zusammen: sie wußte, daß der Name von der ehemaligen Emilie Waldow geführt wurde.

„Nur wenig!“ sagte sie gepreßt. „Sie ist einige Jahre älter als ich und zählte bereits zu den Erwachsenen, als ich noch ein Kind war. Später haben wir uns ganz aus den Augen verloren und ich weiß nur, daß sie schwere Schicksale gehabt hat.“

„So haben Sie also auch von jener unglücklichen Ehe gehört, in der sie jahrelang geschmachtet hat? Dieselbe sollte gelöst werden, als der Tod dazwischen trat und sie zur Wittwe machte. Was sie überhaupt bewogen hat, dem alten und als tyrannisch bekannten General ihre Hand zu reichen, weiß ich nicht; jedenfalls aber hat sie den Irrthum schwer gebüßt und wäre eines besseren Schicksals werth gewesen; die Ueberzeugung habe ich gewonnen, seit ich näher mit ihr bekannt geworden bin.“

[58] Eva vermochte nicht zu antworten – die Erinnerungen lasteten zu schwer auf ihr.

Glücklicher Weise fiel aber dem Doctor ihr Schweigen nicht auf, denn er besann sich, daß ihn diese Stunde eigentlich schon am Brunnen unter seinen Badegästen hätte treffen sollen, und nahm rasch Abschied, aber nicht ohne der jungen Frau das Versprechen abgenommen zu haben, daß auch sie sich in kurzer Frist auf der Promenade einfinden wollte.

Als er sie verlassen hatte, sank Eva auf ihren Sessel zurück und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen, während ihr ganzer Körper vor Erregung zitterte. Das Wiedersehen Reinhard’s hatte sie mehr erschüttert, als sie selbst für möglich gehalten hatte – und nun sollte sie sich auch noch auf eine andere Begegnung gefaßt halten, wovor ihr ganzes Innere zurückbebte, wenn es sie auch wieder mit einer geheimnißvollen Gewalt zu jener schönen Emilie Waldow hinzog, die Adalbert geliebt hatte, deren Name noch auf seinen sterbenden Lippen gewesen war. Jedes Wort, welches Reinhard über sie geäußert hatte, war ihr wie ein Pfeil in’s Herz gedrungen. Sie, sie wußte es, was Emilie vermocht hatte, einem ungeliebten Manne ihre Hand zu reichen: es war die Verzweiflung ihres Herzens gewesen! – und wieder drückte es sie wie eine schwere Schuld, daß um ihrer selbst willen diese Verzweiflung auf sie gewälzt worden war. – Jenes bessere Schicksal, dessen Reinhard die Generalin für würdig erklärt hatte – würde sie es an Adalbert’s Seite gefunden haben, wenn sie nicht gewesen wäre, sie und Adalbert’s Schuld? Ihre Gedanken verwirrten sich bei dem Nachgrübeln und auf’s Neue fühlte sie sich verantwortlich für die That ihres Gatten, verpflichtet, sie zu sühnen – „Zu ihr!“ flüsterte sie und griff nach Hut und Mantel, um sich zum Ausgehen zu rüsten. Als sie schon an der Thür war, fühlte sie sich noch einmal von Scheu und Bangigkeit erfaßt und war im Begriff, umzukehren und die ganze peinliche Begegnung zu vermeiden; aber in der nächsten Secunde lächelte sie sich selbst Muth zu und flüsterte: „Reinhard hat Recht: das Leben erlaubt uns nicht, müde zu werden!“

Reinhard erwartete sie schon an der bezeichneten Stelle auf der Promenade und führte sie dann sofort einer hohen, stolz aussehenden Dame zu, der er sie als Frau von Wallberg vorstellte.

Eva sah sie vor sich, diese blitzenden Augen und schwarzen Locken, von denen Adalbert gesprochen hatte, zugleich aber zog ein eisiges Frösteln über ihr Herz vor dem kalten, fast feindseligen Blick, mit dem die schöne Frau sie ansah.

„Ich kenne von früher her die Frau von Wallberg besser, als Sie meinen, Herr Doctor, besser als sie selbst vielleicht ahnt,“ sagte die Generalin, „und eine Vorstellung wäre deshalb in meinem Sinne kaum nöthig gewesen.“

„Wenn Sie denn,“ entgegnete Eva sanft, „das halbreife, unerfahrene Mädchen – und als solches haben Sie mich ja nur gesehen – Ihrer Beachtung werth fanden, Frau Generalin, so darf vielleicht die Frau eine gewisse Hoffnung auf ein freundliches Entgegenkommen setzen, nachdem auch sie durch die Schule des Lebens gegangen ist!“

Unwillkürlich blickten die Augen der Generalin etwas milder und in ihrer Stimme lag eine gewisse Weichheit, als sie erwiderte:

„Allerdings habe ich nicht ohne Theilnahme gehört, daß auch Sie erfahren haben, wie leben leiden bedeutet! Aber wer von uns wüßte das nicht?“ fügte sie in herberem Tone hinzu.

Reinhard, dem die Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, sichtlich unangenehm war, legte sich jetzt in’s Mittel und suchte es in heitere Bahnen zu lenken, was ihm auch namentlich bei der Generalin gelang, die ihm gegenüber bald ihre volle, freie Haltung wieder gewann und unbefangen und lebhaft mit ihm sprach, während Eva meistens schweigend der Unterhaltung zuhörte und nur dann und wann ein Wort hinein warf, das ihren freundlichen Antheil verrieth. Ihre Weise mußte aber doch einen günstigen Eindruck auf die Generalin gemacht haben, denn es lag weniger Kälte in den Abschiedsworten, welche sie später an Eva richtete, als in ihrer ersten Anrede; ja, sie sprach sogar die Hoffnung eines baldigen Wiedersehens aus.

Mochte Eva diese Hoffnung nun auch im Herzen kaum theilen, mochte ihr die Persönlichkeit der Generalin noch so wenig sympathisch sein, so wagte sie dennoch nicht, sich einer nähern Bekanntschaft zu entziehen, vielmehr gebot ihr das Herz, dieselbe als eine doppelte Pflicht zu suchen, nachdem sie inne geworden war, daß ein offenbares großes Interesse den Doctor an die schöne Frau fesselte, die ihm ihrerseits ein sehr freundliches Entgegenkommen bewies. Eva ward Zeuge ihres lebhaften täglichen Verkehrs, sie sah oft, wie sein Auge aufleuchtete, wenn er mit ihr sprach, wie auch ihre Züge mehr und mehr den kalten, strengen Ausdruck verloren und sanft und weich werden konnten in der Unterhaltung mit ihm – und Gedanken eigener Art stiegen dabei in ihrer Seele auf. Wohl hatte sie Momente, wo ihr Herz hoch und freudig aufwallen konnte bei der Vorstellung, daß dem edeln Manne noch ein schönes Glück beschieden sei, und dann wieder vermochte sie es sich nicht zu denken, daß es ihm die Hand der Generalin sollte gewähren können. „Aber ich will mich zwingen, sie zu lieben, um Reinhard’s willen!“ sagte sie zu sich selbst.

Einmal, als zwischen den beiden jungen Frauen die Rede auf den Doctor kam und Eva unwillkürlich verrieth, wie hoch sie ihn stellte, sagte die Generalin: „Ja, er ist, wie ein Mann sein muß und wie ich es liebe: fest und gerecht, aber auch unnachsichtlich streng gegen sich und gegen Andere. Ich traue ihm zu, daß er ein Unrecht, das ihm geschähe, nie vergeben würde.“

Eva senkte bei diesen Worten schmerzlich getroffen ihr Haupt, senkte es demüthig vor der Frau, die so in dem stolzen Bewußtsein sprechen konnte, daß sie dem Freunde keinerlei Unrecht abzubitten hatte! –

Die von Eva’s Freunden gehoffte wohlthätige Wirkung des Bades wollte immer noch nicht bei ihr hervortreten, wenigstens nicht in Bezug auf ihr Gemüth, das sich von seiner gedrückten Stimmung nicht recht zu erheben vermochte. Reinhard sah täglich nach ihr und für Momente erfrischte sie sich dann wohl an der Heiterkeit, die immer heller aus seinen Zügen strahlte, aber es ward ihr schwer, seiner ärztlichen Verordnung, die sie geselligen Unterhaltungen zuwies, nachzukommen.

Heute hatte er ihr das Versprechen abgenöthigt, am Nachmittage die Eremitage, einen beliebten, auf einer waldigen Anhöhe in der Nähe des Bades gelegenen Vergnügungsort, zu besuchen, wo auch er sich mit der Gesellschaft zum Genuß der schönen Natur und einer heiteren Unterhaltung vereinigen wollte. Sie hatte schon ihre Zusage ertheilt, als er hinzusetzte: „Sie werden auch die Generalin dort treffen, welche sich auf das Zusammensein mit Ihnen freut, wie ich denn zu meiner Befriedigung die wachsende Freundschaft zwischen Ihnen wahrnehme.“

„Ich strebe danach, ihr näher zu kommen!“ sagte Eva schüchtern.

„Und glauben Sie mir, daß sie dies verdient!“ entgegnete der Doctor warm. „Unter anscheinender Kälte verbirgt sich ein edles, großer und tiefer Empfindungen fähiges Herz, und ich hoffe daß auch Sie dies immer mehr erkennen werden. Ich sprach sie heute Morgen einen Augenblick am Brunnen,“ fuhr er heiter fort, „und täuscht mich nicht Alles, so darf ich glauben, daß wir einem Ereigniß nahe sind, durch welches sich mir ein langgehegter, theurer Wunsch erfüllen würde. Doch davon später!“ –

Es war das erste Mal, daß der Doctor so offen auf seine Neigung für die schöne Frau hingedeutet hatte; – Eva sagte sich das, als sie allein war, und suchte sich einzureden, daß sie sich über diesen Beweis seines freundschaftlichen Vertrauens herzlich freue, während sie selbst nicht auf die Thränen achtete, die unaufhaltsam und heiß aus ihren Augen drangen.

Als sie am Nachmittage auf die Eremitage kam, fand sie bereits eine zahlreiche Gesellschaft vor, die sich offenbar in einer gewissen Aufregung befand und mit einem gemeinsamen Thema beschäftigt war.

„Haben Sie denn auch schon die große Neuigkeit des Tages gehört, welche alle Gemüther in Bewegung setzt?“ wurde sie von einer bekannten Dame angeredet, „die Verlobung der Generalin Kerstein?“

Eva zuckte, wenn auch unmerklich, zusammen – so rasch hatte sie die Nachricht nicht erwartet!

„Nun, Sie sind nicht überrascht?“ fuhr die Dame fort; „so sind Sie vielleicht schon in die Sache eingeweiht und können uns den Bräutigam nennen, über den hier die verschiedensten Vermuthungen laut werden!“

„Es ist ein polnischer Graf!“ „Nein, ein russischer Staatsmann!“ tönte es von mehreren Seiten dazwischen.

Ehe Eva sich von ihrem Erstaunen, ihrer Verwirrung erholen konnte, öffnete sich der Kreis, um ein paar Gestalten Platz zu machen, die in der allgemeinen Aufregung unbemerkt herangekommen [59] waren, auf die sich jetzt aber Aller Augen richteten. Es waren die Generalin selbst und ein stattlicher, vornehm aussehender Herr, der sie führte und den sie jetzt der Gesellschaft als den Präsidenten von Hollbach, ihren Verlobten, vorstellte.

Eva war wie betäubt; sie vermochte nicht, gleich den Uebrigen, glückwünschend vor die Generalin heranzutreten, sie hatte nur den einen Gedanken an Reinhard, an den tödtlichen Schlag, der seinem Herzen drohte, und dessen volles Gewicht sie aufhalten mußte, wenn auch nur um eine Minute, damit seine Wunde nicht hier, nicht vor dieser gaffenden Menge offenbar würde; sie wußte, sein stolzer Sinn hätte das nicht ertragen! Unbemerkt entglitt sie aus der Gesellschaft und eilte auf den Weg hinaus, den er kommen mußte.

In wenigen Augenblicken schon kam ihr der Wanderer entgegen, der überrascht war, als Eva’s Gestalt plötzlich vor ihm auftauchte, dann aber besorgt in ihre bleichen Züge blickte, deren Ausdruck ihm nichts Gutes verkündete.

„Ist Ihnen ein Leid widerfahren, Eva?“ fragte er unruhig.

„Mich drückt nur der Kummer um Sie, Reinhard, wenn auch tief und schwer!“ entgegnete sie, indem sie nur mühsam athmete. „Ich gäbe mein Herzblut hin, wenn es Sie von dem Weh retten könnte, das Ihrer wartet!“

Wie in Verzweiflung blickte sie zu ihm auf, so daß er erschrocken ausrief: „Um Gotteswillen, was ist geschehen, Eva?“

Ehe sie antworten konnte, war ein Theil der Gesellschaft lärmend und sprechend herangekommen; der Doctor ward umringt und ihm von allen Seiten die interessante Neuigkeit von der Verlobung mitgetheilt.

Ueber Reinhard’s Züge glitt ein helles, freudiges Lächeln. „Gottlob!“ rief er aus, „daß meine Hoffnung zur Wahrheit geworden ist!“ Dann trat er zu dem in glücklicher Heiterkeit strahlenden Brautpaar.

Es war Eva unmöglich, in die Gesellschaft zurückzukehren, den Blicken Reinhard’s zu begegnen. War ihr auch durch jenen einzigen Ausruf aus seinem Munde die Gewißheit geworden, daß sie sich getäuscht hatte, daß er die Generalin nicht liebte und seinem Herzen somit ein schwerer Schlag erspart blieb, so peinigte sie doch jetzt das Bewußtsein, ihm zu offen gezeigt zu haben, welchen Antheil sie an dem Leben desselben nahm, und sie fürchtete ihn damit verletzt zu haben, daß sie gewagt hatte, seine Gefühle zu deuten. Es war ihr Bedürfniß, die Einsamkeit zu suchen, um ihr bewegtes Herz zur Ruhe zu bringen, und es war ihr lieb, daß sie in der Nähe ein liebliches, aber wenig bekanntes Plätzchen wußte, das sie seiner Abgeschiedenheit wegen schon häufig aufgesucht hatte, und dorthin lenkte sie auch jetzt ihre Schritte.

Sie sollte aber heute ihres Alleinseins nicht länger genießen, denn schon nach wenigen Minuten hörte sie Schritte in ihrer Nähe und als sie aufsah, stand Reinhard vor ihr. Schnell senkten sich ihre Blicke vor den seinigen, und sie vermochte nur halblaut zu stammeln: „Vergeben Sie mir, Reinhard?“

„Was soll ich Ihnen vergeben, Eva?“ versetzte er fast heiter, „daß Sie mich einen Augenblick – und, ich gestehe es, fast tödtlich – erschreckt haben, um mir hernach eine desto schönere Ueberraschung zu bereiten? Ihnen wiederhole ich es, daß ich an der Verlobung den gleichen herzlichen Antheil nehme wie an dem Paare selbst und daß sie lange von mir gewünscht war, da ich die Neigung meines Freundes Hollbach für die Generalin kannte. Er ist heute Mittag hier eingetroffen, sich ihr Jawort zu holen, und war schon in meiner Wohnung, um mir sein Glück zu verkünden; da ich aber auf mehrere Stunden hinaus entfernt war, habe ich die Nachricht erst hier erhalten.“

Eva athmete hoch auf, sagte aber kein Wort. Er nahm an ihrer Seite Platz, faßte ihre Hand und sagte, indem er ihr lächelnd in’s Gesicht schaute: „Verstehen Sie wirklich so wenig in den Herzen zu lesen, Eva, daß Sie glauben konnten, das meinige sei von einer Neigung für die Generalin erfüllt?“

„O Reinhard,“ entgegnete sie in schmerzlicher Verwirrung, „mich leitete ja nur der eine Gedanke, das brennende Verlangen, Sie glücklich zu wissen!“

„Ich weiß es!“ sagte er ernst, „ich habe es in einem einzigen Moment erkannt; dennoch aber hat jenes Verlangen Sie irre geleitet, denn Sie suchten mein Glück auf Wegen, wo es nimmer zu finden gewesen wäre. Soll ich Ihnen sagen, von wannen es mir kommen muß?“

Der Ton, in welchem er sprach, machte, daß sie erbebte und ihre Hand aus der seinigen zu ziehen suchte.

„Ich habe einmal vor Jahren geträumt, daß ich ein holdes, junges Geschöpf mein nennen dürfte,“ fuhr er fort, „und hernach mit bitterm Weh erkennen müssen, daß es ein Irrthum war. Damals zog ich mich schwer verletzt zurück und gelobte mir, nie wieder die Hand nach einem solchen Glück auszustrecken, nie mehr an Treue und Beständigkeit eines weiblichen Herzens zu glauben. Dem Gelöbniß bin ich treu geblieben. Eva, treu, als ich Sie später wiedersah, treu bis zu dieser Stunde, obgleich mir bisweilen freundlich schmeichelnde Stimmen zuflüsterten, ich dürfe jetzt wagen, auf’s Neue um Ihre Liebe zu werben. ‚Zu werben vielleicht, nicht aber – an sie zu glauben!‘ sagte ich zu mir selbst, und ich beschloß, zu bleiben, was ich war, nicht mehr, nicht weniger: Ihr Freund! Nun aber ist’s anders geworden, Eva: ein einziger Augenblick hat mir eine Offenbarung gebracht, die ausreichen wird für die ganze Zeit meines Lebens, und so frage ich Sie jetzt zum zweiten Male: Wollen Sie mein, mein Weib sein, Eva?“

Seine Stimme bebte, als er die letztem Worte sprach, noch mehr aber bebte die ihrige, als sie außer sich rief: „So ist’s wahr, es ist möglich, Reinhard, daß Sie mich lieben trotz meines Irrthums, trotz der Sünde, die ich an Ihrem Herzen beging?“

„Ich liebe Sie, Eva, wie ich Sie liebte, als ich vor Jahren um Ihre Hand warb, wie ich Sie liebte durch all’ diese traurigen Jahre hindurch – nur noch tiefer, noch inniger!“

Sie lag an seinem Herzen, von seinen Armen umfaßt. „Gott, mein Gott, kann es denn sein? nach soviel Elend soviel Seligkeit!“ weinte und jubelte sie zugleich. Er aber drückte sie fester an seine Brust und sagte: „Ich vermag jetzt, Gott selbst für jenes Elend zu danken, Eva, allein um dieser Minute willen!“

F. L. Reimar.


  1. Die weite Entfernung und Erkrankung der geehrten Verfasserin des angekündigten Romans: „Aus eigener Kraft“ verhinderte das rechtzeitige Eintreffen der Druck-Revisionen und zwingt uns die genannte Erzählung erst mit Nr. 3 beginnen zu lassen. Wir freuen uns dagegen durch diesen Zwischenfall die vielfach ausgesprochenen Wünsche der Monatsheft-Abnehmer nach geschlossenen Erzählungen für dieses Mal erfüllen zu können und zwar durch die reizend durchgeführte Novelle einer unsern Lesern wohlbekannten Feder.   D. Redaction.
  2. Vorlage: „Aldalbert“