XL. Cadix Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band (1833) von Joseph Meyer
XLI. Dieppe
XLII. Die grosse Brücke über den Schuylkill und Fair-Mount-Water-Works bei Philadelphia
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DIEPPE

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XLI. Dieppe.




Die französische Nordküste ist sehr reich an pittoresken Ansichten: St. Malo, Calais, Abbeville, Eu, Treport, Honfleur, Mont St. Michel sind reizende, berühmte Punkte; aber malerischer als die Lage von Dieppe, von der Seeseite her betrachtet, ist keine auf der ganzen Küste.

Man denke sich ein Gestade auf eine Strecke von mehren Stunden eingefaßt mit seltsamen Felsgestalten aus weißem Sandstein, die sich, umtost von der schäumenden Brandung, oft mehre hundert Fuß über dieselbe erheben. Aus diesem Felsenkranze treten 2 Colosse hervor, der eine mit kahlem Haupte, der andere mit hohen Mauern und Thürmen gekrönt, von deren höchsten Warte in der Nacht eine weit über die Wogen hin leuchtende Flamme, führend und warnend zugleich, lodert. Beide Felsen trennt, als wären sie von der Hand der Allmacht gespalten, eine tiefe Schlucht. Pfahlwerke und niedrige Wälle sperren diese gegen das Meer hin; nur am Fuße des Schloßfelsens erscheint eine Pforte, durch welche ein Flüßchen, die Arques, seine klaren Gewässer dem Ocean zuführt. In jener Schlucht, durch Nebel und Rauch, erblicken wir die Kirchen und Häuser von Dieppe, aus deren undeutlichem Gewühle der Thurm der herrlichen Cathedrale hoch hervorsieht. – Der vortreffliche Stich, der diese Beschreibung begleitet, verbildlicht sie treu, jedoch nicht vollständig; denn der dem Schlosse links gegenüber liegende Felsen ist nicht sichtbar in dem beschränkten Raume. –

Dieppe ist uralt und seiner Größe nach dicht bevölkert. Es zählt über 21,000 Einwohner. Die Straßen sind schmal, winklich und schmutzig und von den hohen, düstern Häusern verfinstert. Der Hafen ist klein; aber sehr sicher und zur Aufnahme von ein paar hundert Fischerfahrzeugen, die ihn stets beleben, geschickt. – Dieppe nährt sich hauptsächlich vom Fischfang, und fast alle seine Einwohner sind direkt oder indirekt bei diesem Gewerbe betheiligt. Es unterhält nahe an 200 Fahrzeuge, und deren Führer gelten seit uralter Zeit als die furchtlosesten und kühnsten Seeleute Frankreichs. Jede Jahreszeit bietet den Fischern ihre besondere Gattung von Bewohnern der Tiefe zum Fang. Im Juli segelt die ganze Flotte der Diepper an die englische Küste bei Yarmouth zum Häringsfang. Im September bis in die Mitte Oktober beschäftigt sie derselbe an der Küste von Flandern und an der Mündung der Seine. Der Winter gehört dem häuslichen Leben an und der kleinen Fischerei an ihrer eigenen Küste. [98] Im Februar ist auf dem Gestade von Kent ihr Sammelplatz, und gegen Ostern geben ihnen die Makreelenzüge an der Mündung der Themse und der Küste von Sussex die reichste Beute, mit der sie den Londoner Markt versorgen.

Das unabhängige freie Fischerleben unter Gefahren, Sturm und Wogen hat den Dieppern einen eigenthümlichen Charakter aufgedrückt, der sich schon dem Fremden in ihrem Aeußern, in Miene und Haltung auffallend kund gibt. Das Wesen der Männer ist frei, derb, ungenirt im Umgange, und die dunkel gebräunten, magern Gesichter zeugen von ihrem steten Kampf mit den Elementen, ungeschützt vor Sonne, Regen und Winden. Auch der weibliche Theil der Fischerfamilien trägt das Gepräge thätigen Antheils an ihrem Gewerbe. Es sind hohe, schlanke, rüstige Gestalten, und es ist eine überraschende Erscheinung für den Fremden, sieht er zur Ebbzeit Mädchen und Weiber in langen Reihen, hochaufgeschürzt, mit Körben an der Seite, die zurückweichenden Wellen verfolgend und Schellfische und Schaalthiere auf dem von Fluthen verlassenen Meerboden sammelnd; oder an langen Seilen die Fahrzeuge ihrer Männer und Väter aus dem Hafen in’s Meer ziehend, klagende Fischerweisen singend.

Dieppe ist in neuester Zeit auch als Seebad berühmt geworden, und wird jetzt, in dem Glauben, daß das an den Felsen dieser Gestade gebrochene und zerschlagene Meerwasser eine besondere Kraft habe, mehr aber wohl wegen seiner herrlichen und bequemen Lage, sehr häufig, namentlich von Engländern, besucht. Dieses Herbeiströmen von Lust und Vergnügen suchenden, verschwenderischen Fremden wirkt zwar auf die Verschönerung der alten Fischerstadt hin; – großartig erheben sich neben den Badeanstalten jetzt prächtige Hotels, und neue Straßen steigen empor; – aber das eigenthümliche Gepräge des Volkes geht nothwendig zugleich verloren, und so die Einfalt und die Reinheit der Sitten. Schon jetzt, nach wenigen Jahren der Aufnahme Dieppe’s als Bad, soll der Vergleich mit sonst, in dieser Beziehung, ein trauriges Resultat abgeben, eine Erscheinung, die leider an allen Badeorten dieselbe ist. –