Die verwünschte Jungfrau
Auf dem Fichtelberge in Franken, auf der südlichen Seite des Schneeberges, ist der Nußhardtfelsen der abgelegenste, der wildeste und schaudervollste Bezirk. Hier herrscht die ödeste und traurigste Einsamkeit, die nur dann und wann durch die Viehheerden aus dem nächsten Dorfe Vordorf unterbrochen wird.
Auf diesem Bezirk haftet folgende Volkssage:
In Vordorf hat einmal ein Hirte gelebt – seine Nachkommen sind noch vorhanden – der trieb seine Heerde oft in diese Gegend, wo er, wegen ihrer weiten Entfernung vom Dorfe, immer erst um Mittag beim Nußhardtfelsen anlangte. So oft er dahin kam, so oft erblickte er auch zwischen eilf und zwölf Uhr Mittags eine köstlich ausgeschmückte Jungfrau, die jedes Mal sehr eifrig beschäftigt war, mit einem Rechen Flachsknoten umzuwenden. Oft hatte er seine Gedanken darüber, warum die schöne Jungfrau den ganzen Sommer hindurch dieß Geschäft triebe, und nie damit fertig werden könne. Mit dem Schlage zwölf Uhr war sie aber immer verschwunden, und anstatt der Flachsknoten fand der Hirt auf der Stelle Roßkoth, und mitunter ein Goldstück. Einige Male war er willens, die holde Dirne anzureden; aber nie hatte er das Herz dazu.
So vergingen mehrere Sommer. Sie sahen beide einander täglich, sie wurden einander gewohnt; aber keines sprach ein Wort mit dem andern, denn sie sahen sich immer nur von ferne.
Was geschah? Einst näherte sich dem Hirten die jungfräuliche Gestalt, schön und herrlich, wie es keine Schönheit weiter in der Welt giebt. Sie redete ihn mit stolzer und majestätischer, aber doch mit liebreicher und freundlicher Miene an:
„Du kannst mein Retter werden!“ sprach sie. „Viele Jahre bist du schon Zeuge meines Thuns und Wirkens in dieser furchtbaren Einöde. Nie that ich dir etwas zu Leide, und werde es auch nie thun. Wisse, ich bin eine verwünschte, edle Jungfrau, die schon Jahrtausende hier nach Erlösung schmachtet. Du kannst mich retten, nur Du! Höre meine Weisung. Mir steht ein merkwürdiger Tag bevor; – sie nannte den Tag – vergiß ihn nicht. Auf diesen Tag gehe in die große Höhle des Felsens, die du kennst. Hier findest du mich. Gehe dreist auf mich zu, und gieb mir drei Küsse auf die Stirn. Thust du das, dann – dann bin ich erlöst! – Aber merke es dir wohl: in dem Zustande, wie du mich jetzt siehst, bin ich dann nicht. An jenem Tage habe ich einen schweren, großen Kampf zu kämpfen. Aus meinem Halse spricht Feuer, mein Haupthaar ist ein Geflechte von Schlangen, und ich liege in Krämpfen und Zuckungen. Dieser Anblick muß dich aber nicht schrecken. Gehe nur getrost auf mich los, und gieb mir drei Küsse. Deine Entschlossenheit rettet mich, und wird dir wohl, wird dir reichlich belohnt werden. Nimm auch, wenn du dich fürchten solltest, deinen Beichtvater oder sonst einen treuen Freund mit dir.“
Sprach’s, und verschwand. Der Hirte stand da, und wußte nicht, ob er gewacht oder geträumt hatte. Er trieb seine Heerde heim, konnte nicht schlafen, ging gedankenvoll herum, und wußte nicht was er thun sollte. Das furchtbare Gemälde, das die schöne Jungfrau von sich selbst ihm gemacht, hatte eine unüberwindliche Furcht in ihm erzeugt, die von der ihm zugleich eröffneten Aussicht auf eine gute Belohnung nicht überwunden werden konnte. Keinem Menschen offenbarte er das Geschehene, auch seinem Beichtvater nicht. Er trug es mit sich herum, quälte sich Tag und Nacht, vermied in der Zeit den Nußhardtfelsen, und – der bestimmte Tag verstrich.
Als er vorüber war, war’s ihm, als sey ein Stein von seinem Herzen gefallen. Nun trieb er die Heerde wieder zum Nußhardtfelsen. Voll Erwartung nahte er sich ihm und der Stelle, von wo er die schöne Jungfrau immer gesehen hatte.
Sie erschien. Sie näherte sich ihm in ihrem ganzen jungfräulichen Glanze. Mit starkem Herzklopfen sah er sie kommen. Da sprach sie sanft und rührend:
„Du hast an mir nicht wohl gehandelt. Du hättest mich retten können, und thatest es nicht. Höre, was ich dir sage, und was dir wohl selbst nicht bekannt war. Deine Lebensereignisse greifen in die meinigen wunderbar ein. Du bist getauft aus einer Bademulde, die aus einem Birkenbaume gemacht war, der an einem bestimmten Tage nicht nur gepflanzt, sondern auch gefällt wurde. An das Zusammentreffen aller dieser Umstände ist meine Erlösung aus einer schrecklichen Verbannung geknüpft. Du – Du hättest mich erlösen können, und hast es nicht gethan!“
Sie drehte sich um, eine Thräne fiel aus ihrem blauen Auge, und ihr schönes Gebilde zerfloß wie ein lichter Nebel vor den Augen des Hirten.
Auf seinen Stab gestützt, sah dieser starr vor sich hin. Er war gerührt und betrübt. Nun hätte er das Wagstück gern bestanden; aber nie sah er die schöne Jungfrau wieder, so oft er auch den Nußhardtfelsen behütete.
Das Zögern der Furcht und Unentschlossenheit, die sich für klug hält, und eben damit die Versäumung des Augenblicks zur Rettung Anderer und zur eigenen Befriedigung, kann nicht sanfter und zugleich eindringender dargestellt werden, als es in dieser Sage geschieht, die mir aus jenen Gegenden mitgetheilt wurde.