Die südfranzösischen Cholerastätten
Die südfranzosischen Cholerastätten.
Die Namen Toulon und Marseille haben für die Ohren der Zeitungsleser augenblicklich einen unheimlichen Klang; man hört sie nur in Verbindung mit Ziffern aussprechen, welche Choleratodesfälle bedeuten und täglich größer werden. Dem Fachmann, der die Geschichte der großen Volkskrankheiten und ihrer verheerenden Wanderungen durch unsern Welttheil kennt, ist der Zusammenhang zwischen jenen südfranzösischen Hafenstädten und den Epidemieen längst bekannt. Keine Seuche, die jemals das westliche Europa heimgesucht, hat Marseille und Toulon verschont, und für die Cholera und Pest war speciell Toulon wiederholt die Einbruchspforte, durch welche sie, aus dem fernen Osten heranziehend, in die civilisirtesten Länder Europas drangen. Diese Vorliebe der Epidemieen für Frankreichs Mittelmeerhäfen ist natürlich kein Zufall; sie hat ihren Grund in Verhältnissen, welche schon eine flüchtige Wanderung durch diese Städte erkennen läßt.
Von den hohen Bergen im Norden der Stadt, etwa dem Faron oder Coudon, gesehen, stellt sich Toulon malerisch genug dar. Eine dicht zusammengedrängte Masse meist alter, hochgiebeliger Häuser ist von einem Gewirre enger, abenteuerlich geschlängelter Gäßchen durchflochten; in die gleichförmigen Schatten der für ihre Einwohnerzahl (78,000) verhältnißmäßig wenig umfänglichen Stadt trägt nur ein einziger großer Platz, der „Neue Paradeplatz“, einen sonnigen Fleck, und nur drei oder vier moderne breite Straßen, der Boulevard de Strasbourg, die beiden „Avenuen“ des Bahnhofs u. s. w., durchschneiden dieselben gradlinig und zerlegen sie in unregelmäßige Theile. Um die Stadt ziehen sich eine alte Ringmauer und ein neuerer, etwas ernsthafterer Befestigungsgürtel, den einige Forts verstärken, welche die fast bis an’s Meer tretenden Vorberge krönen. Vor der Stadt blitzt unter den Sonnenstrahlen der Spiegel einer tief in’s Land schneidenden Meeresbucht auf, die sich in drei Hafenbassins gliedert und canalartige Ausläufer bis in die Mitte der Stadt sendet.
Verlassen wir unseren Uebersichtspunkt außerhalb der Stadt und betreten diese durch eines ihrer finsteren, alterthümlichen Thore, so ist es zunächst unser Geruchssinn, der von ihr starke Eindrücke empfängt. Jeder Seehafen hat seinen eigenthümlichen Duft, der den Sohn des Binnenlandes immer fremdartig, meist auch unangenehm berührt; die Luft ist mit den salzigen Ausdünstungen des Meeres geschwängert, in welche sich der stockige Geruch des Brackwassers und allerlei thierischer und pflanzlicher Abfälle mischt, welche von den Gezeiten, der Ebbe und Fluth, auf den abwechselnd trocken liegenden und überschwemmten Strecken des Ufergeländes umhergewälzt werden. In Toulon aber handelt es sich noch um etwas ganz anderes; es ist nicht der „alterthümliche, fischartige Duft“ („that ancient, fishlike smell“), von dem Shakespeare spricht, welcher uns überfällt, sondern der abscheuliche Gestank, der um die Behausungen dicht siedelnder, in Schmutz brütender Menschen schweelt und für die ärmeren Viertel der meisten orientalischen Städte charakteristisch ist. Was seine Reinlichkeitsverhältnisse anbetrifft, ist Toulon aber auch eine durchaus orientalische Stadt. Es hat nur in den neuen Hauptstraßen unterirdische Abzugscanäle; die übrigen Gassen sind gar nicht canalisirt; die Abwässer laufen in offenen Gossen, welche sich an den Häusern entlang ziehen und von dort in den Hafen, dessen Fluthen unbeweglich sind, da das mittelländische Meer in dieser Bucht keine wahrnehmbaren Gezeiten hat. Die Bevölkerung, welche von den Sorgen moderner Hygieiniker völlig unberührt ist, wirft all’ das, wessen sie sich [545] entledigen will, in die Gossen und kümmert sich weiter nicht darum. Die Städte des Ostens haben wenigstens verwilderte Hunde und Aasgeier, welche das Straßenreinigungsgeschäft besorgen. In Toulon fehlen auch diese freiwilligen Abräumer und der unsagbarste Unrath kann ruhig so lange in den Gossen und auf dem Straßendamm gähren, bis es einem Platzregen gefällt, ihn wegzuspülen. Allerdings auch dann nicht weit, nur bis in den Hafen, der sich bald bis an den Rand mit Schlamm und Müll füllt, so daß man ihn in sehr kurzen Zeitabständen mit Baggerschiffen reinigen muß. Dabei entsteigen den aufgewühlten Kothmassen Gerüche, welche die Stadt zeitweilig nahezu unbewohnbar machen.
Ich will jedoch den Leser mit den göttlich unverschämten Lebensgewohnheiten der Südländer und insbesondere der Mittelmeervölker[1] nicht zu ausführlich vertraut machen. Es genügt nur zu sagen, daß nicht allein in Toulon, sondern selbst in Marseille, einer Großstadt mit 320,000 Einwohnern, einem Knotenpunkt des Weltverkehrs und dem Wohnort einer Bevölkerung, welche großen Luxus treibt und Millionäre in ihrer Mitte nach Hunderten zählt – der Anstandsort so gut wie unbekannt ist.
Solche Sitten und Gewohnheiten erklären es, daß die Cholera in Toulon und Marseille und überhaupt in allen Mittelmeerhäfen, wenn sie da einmal eingeschleppt ist, eine unvergleichliche Brutstätte findet. Wir wissen, dank den Untersuchungen Dr. Koch’s, welche Rolle die menschlichen Auswurfsstoffe in der Verbreitung der Cholera-Mikro-Organismen spielen. Mit diesen Stoffen ist aber Toulon buchstäblich bedeckt. Und noch andere Umstände treten hinzu, um die Epidemien da besonders fürchterlich zu machen.
Die französischen Mittelmeerhäfen beherbergen ein Proletariat, von dessen leiblichen und geistigen Zuständen man sich in der Ferne kaum einen Begriff macht. Der jetzt im Aussterben begriffene Lazzarone von Neapel, der Facchino von Genua stellen noch aristokratische Typen dar im Vergleiche mit dem Quaibummler oder Hafenarbeiter von Marseille oder Toulon. Dieses Proletariat bildet ein Völkergemisch, in welchem alle um das mittelländische Meeresbecken wohnenden Stämme ungefähr gleichmäßig vertreten sind. Der Provençale, der Spanier, der ligurische Italiener, der Grieche, der Malteser, der nordafrikanische Berber und Maure wimmeln da durch einander, selbst von einem geübten Auge kaum von einander unterscheidbar. Alle haben dieselben dunkeln Augen, aus denen uns Mißtrauen, List und Grausamkeit entgegenblitzen und in welchen man vergebens den still-freundlichen treuherzigen Blick des Nordländers suchen würde, alle zeigen dieselben scharf geschnittenen, ewig aufgeregten und leidenschaftlichen Gesichter, dieselben dichten wirren Bärte, dasselbe krause Haupthaar, und wenn die Lippen bald dünn, bald wulstig aufgeworfen, die Nasen bald jäh gebogen, bald geradlinig sind, so verwischt der gleichmäßig über sie gegossene bronzene Teint, das [546] Werk der flammenden provençalischen Sonne, diese physiognomischen Unterschiede. In malerische Lumpen gehüllt, baarfuß und oft auch baarhaupt, sitzt oder liegt das auf den warmen Steinen des Hafenquais, einer leichten und vorübergehenden Arbeit harrend, welche den geringen Tagesbedarf decken und dann womöglich noch einiges Faullenzen gestatten soll. Wenn diese Leute nicht gerade ihre behagliche Siesta halten, so vollführen sie ein endloses Geschwätz und Gezänke, wobei die Augen rollen, die Zähne blitzen, die Fäuste beunruhigend vor den Nasen herumfahren und gewaltige Gesticulation jeden Muskel und Knochen im Leibe in zappelnder Bewegung halten. Gesang, Gelächter, Geschrei tönt betäubend aus den Gruppen, und der überlaute Wortwechsel, der den Plappernden Gelegenheit giebt, sich an der dröhnenden Kraft der eigenen Stimme zu erfreuen, wird mit bedenklicher Leichtigkeit ungemüthlich; die Laune schlägt in wildem Aufbrausen urplötzlich um, und im Nu blitzt eine Messerklinge durch die Luft.
Die Lebensweise dieser Leute ist die denkbar ursprünglichste. Den ganzen Tag und in der warmen Jahreszeit auch den größten Theil der Nacht verbringen sie haufenweise im Freien und das begreift sich, da die sonnigen Straßen, Plätze und Quais für sie unvergleichlich stärkere Anziehung haben müssen als ihre schmutzigen, finsteren, übelriechenden und dürftig ausgestatteten Wohnungen in den pestilenzialischen Gäßchen. Reinlichkeit des Körpers ist ihnen eine unbekannte Tugend und durch Waschen der Hände und des Gesichts mit verdächtigem Wasser werden sie kaum jemals zum Cholerabacillus gelangen, das kann man ruhig sagen. Ihre Nahrung besteht aus Seemuscheln, Fischen etc. und aus den Obstarten, welche die Provence in solcher Fülle hervorbringt. Um einige Sous können sie sich eine Mahlzeit verschaffen, in welcher das Pflanzen- und Weichthier-Element vorherrscht und die im Freiem mit schmutzigen Händen und in der allerunappetitlichsten Umgebung eingenommen wird. Ist es da noch zu verwundern, daß der Cholerabacillus, wenn er einmal in die Stadt Eingang gefunden hat, sozusagen nach eigenem Belieben schalten und sich seine Opfer holen kann, wie es ihm gefällt?
Der geistige Zustand des geschilderten Proletariats entspricht seinem leiblichen. Der Reisende hat einige Mühe, sich zu überreden, daß er da Angehörige der Nation vor sich hat, die sich rühmt, an der Spitze der Civilisation einherzuschreiten, und dieses Selbstlob zwei Jahrhunderte lang thatsächlich verdient hat. Das gemeine Volk in Toulon und Marseille steht auf einer beschämend niedrigen Bildungsstufe. Die Kunst des Lesens ist Wenigen geläufig, und daß auch die des Schreibens nicht verbreiteter ist, beweist die große Anzahl von „öffentlichen Schreibern“ (écrivains publics), die in Winkelläden oder hölzernen Buden einer reichlichen Kundschaft um einige bescheidene Bronzemünzen die geschäftliche und sentimentale Correspondenz besorgen. Der schwärzeste Aberglaube nachtet in diesen armen, unwissenden Geistern, in welchen alle Legenden und Märchen sich mit derselben Ueppigkeit züchten und vervielfältigen, wie alle organischen Krankheitserreger auf und in ihren verwahrlosten Leibern. Wie die Spanier und Süditaliener verbinden sie absoluten Atheismus mit ebenso absoluter Bigotterie. Gott kennen sie nicht, wohl aber haben sie Angst vor dem Teufel. In die Kirche gehen sie nicht, aber an einem Kreuze kommen sie nicht vorbei, ohne eine Reverenz zu machen. Ueber den Geistlichen machen sie sich lustig, seine Fürbitte bei einem mächtigen Ortsheiligen schlagen sie aber hoch an. Keiner unternimmt etwas, ohne sich mit einem Amulet zu bewaffnen; in gefährlichen Lagen wird die heilige Jungfrau de la Garde angerufen, die Schutzpatronin der Provence, eine christliche Vermummung der alten Heidengöttin Venus, welche einst in diesen Gegenden und von den Ahnen dieser Bevölkerung verehrt wurde, und man macht ihr Versprechungen, welche nicht gerade oft gehalten werden, wenn die Gefahr vorüber ist. Der erste Gedanke bei einer öffentlichen Noth ist die Veranstaltung großer Processionen; der zweite dürfte freilich in der Regel der sein, die Heiligenbilder zu zerbrechen und die Schutzengel zu schmähen, wenn sie das Unheil nicht abgewandt haben, wie man es von ihnen erwartet und verlangt hat.
Ueber den Charakter der Südfranzosen im Allgemeinen ist in den letzten Jahren viel gesagt und geschrieben worden, darunter von den allerberufensten Federn. Alfons Daudet, selbst ein Sohn der Provence, dazu ein scharfer Beobachter und darum muthmaßlich ein genauer Kenner seiner engeren Landsleute, hat von ihnen in mehreren Romanen, besonders in „Tartarin de Tarascon“ und in „Numa Roumestan“, ein ergötzliches, allerdings auch wenig schmeichelhaftes Bild entworfen. Er schildert sie als unzuverlässig in ihren Versprechungen, wankelmüthig in ihren Vorsätzen, als kalte, rücksichtslose Egoisten, als Prahler und Großsprecher und besonders als unheilbare Lügner. Es ist selbstverständlich, daß diese schlimmen Eigenschaften, von denen sich sogar die Gebildeten des Volksstammes nicht befreien können, bei den niederen Classen, welche weder Selbstzucht noch Geistesdisciplin, weder erhebende Ideale noch erziehlich wirkende Beispiele kennen, noch viel stärker hervortreten. Pflichtgefühl und Solidarität sind unbekannt; Jeder sorgt nur für sich und kümmert sich nicht um den Nachbar. Epidemischer Schreck und sinnlose Wuth finden den günstigsten Boden und veranlassen die schrecklichen socialen Erscheinungen, die man bei allen Seuchen und Revolutionen in diesen Städten beobachtet hat. Ihre Bewohner sind große Kinder, und um ihr Seelenleben zu verstehen, muß man sich die Psychologie des Kindesalters gegenwärtig halten. Sie sind vollständig ohne innern Halt und darum die widerstandslose Beute jedes äußern Eindrucks. Sie glauben im Augenblicke, wo sie es hören, jedes Wort, das man ihnen sagt, und einen Moment darauf ein durchaus entgegengesetztes. In ihrer regen Einbildungskraft erfahren alle Vorstellungen eine ungeheuerliche Multiplication, und es fehlt ihnen jedes Instrument der Kritik, der nüchternen Beurtheilung, um diese monströsen Uebertreibungen auf ihre wahren Größenverhältnisse zurückzuführen.
Dieses Vorherrschen einer zügellosen Phantasie erklärt die Verlogenheit dieser Bevölkerung und namentlich ihren Hang zur Selbstbelügung. Was hat die gegenwärtige Epidemie nicht wieder für unheimliche Gasconaden zu Tage gefördert! Kaum waren in Toulon die ersten Choleratodesfälle bekannt geworden, als die Bevölkerung auch schon die unerhörtesten Geschichten herumerzählte. Ganze Straßen sollten in wenigen Stunden ausgestorben sein, die Behörden während der Nacht im Geheimen Leichenzüge von Hunderten nicht verzeichneter Opfer veranstalten, die Kranken wie vom Blitze getroffen in den Straßen zusammenbrechen etc. Wer solche Schauermären hörte, der fühlte sich verpflichtet, sie mit einigen Zuthaten und Ausschmückungen dem Nachbar weiterzugeben, und wenn sie eine halbe Stunde später in weiterer Vergrößerung zu ihm zurückgelangten, so war er der Erste, an ihre buchstäbliche Wahrheit zu glauben.
So bemächtigte sich der Bevölkerung jenes Entsetzen, welches sie antrieb, in wilder Flucht ihre Wohnstätten zu verlassen und sich gleich einer vom Wolfe gejagten Heerde über das offene Land zu zerstreuen, ein Entsetzen, über das die Pariser Zeitungen mit tiefer Beschämung berichten und von dem kein Zuspruch der Behörden, keine Mahnung der wenigen kaltblütig gebliebenen Gebildeten sie bis jetzt heilen konnte. Toulon soll zur Stunde 15,000, nach einigen, wahrscheinlich übertriebenen, Schätzungen sogar blos 6000 Einwohner zählen, aus Marseille sind 120,000 Menschen ausgerissen und an manchen Tagen lieferte man sich in den Abfahrtshallen der Eisenbahn förmliche Schlachten, um einen Sitz in einem Waggon zu erobern; in Arles, das 25,000 Einwohner zählt, stürmten beim Bekanntwerden der ersten Cholerafälle über 20,000 Menschen wie wahnsinnig aus der Stadt, und diese beherbergt nach amtlichen Berichten nicht mehr 5000 Individuen. Man ließ Kranke allein in ihren Stuben leiden und sterben; man weigerte sich, Leichen wegzuschaffen, Beamte und Stadtverordnete verließen feig ihren Posten und waren durch keine Drohung zur Rückkehr zu bestimmen; man dachte in vielen Fällen nicht einmal daran, sein Eigenthum zu schützen, sondern rannte wie besessen davon, ohne die Schränke und die Wohnungen zu verschließen. Das Zusammenwirken all dieser materiellen und moralischen Umstände allein erklärt es, daß eine Epidemie, die sich ursprünglich sehr mild anließ und auch jetzt noch geringe Bösartigkeit zeigt, solche örtliche Verheerungen anrichten und eine so tief demoralisirende Wirkung um sich her verbreiten konnte. Wo immer man der Cholera körperliche Reinlichkeit und moralische Festigkeit entgegensetzen wird, da wird sie sicherlich nicht mehr, eher weniger Schrecknisse haben als etwa Unterleibstyphus oder häutige Bräune, diese ständigen Gäste aller Großstädte.
- ↑ Vergl. die Schilderung von Marseille in meinem Buche „Vom Kreml zur Alhambra“.