Die parlamentarische Regierung

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Autor: Julius Hatschek
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Titel: Die parlamentarische Regierung
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Sechstes Hauptstück: Der Parlamentarismus, Abschnitt 29, S. 416−424
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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29. Abschnitt.


a) Die parlamentarische Regierung.
Von
Dr. J. Hatschek,
Professor an der Universität Göttingen.


Literatur:

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Gneist, englisches Verwaltungsrecht passim. –
Derselbe, Selbstverwaltung und Rechtsweg passim. –
Seydel, in seinen staatsr. und polit. Abhandlungen 1893 S. 121 ff. –
Derselbe, Vorträge aus dem allg. Staatsrecht G. Hirth’s Annalen 1898 S. 746 ff. –
Mohl, Geschichte und Literatur des allg. konst. Staatsrecht (in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften I 288 ff. – )
Derselbe: Politik I. S. 392 ff. –
Meyer-Anschütz, D. Staatsrecht. 6. Aufl. 1905 S. 301 f. –
Jellinek, Recht des mod. Staats. 3. Aufl. S. 700 ff. –
Derselbe, Ausgew. Schriften u. Reden 1911 II. 180 ff. –
Piloty, Autorität und Staatsgewalt in Jahrb. der int. Vereinigung für vergl. R.W. u. Volkswirtschaftslehre VI, VII S. 551 ff. –
Dicey, in Harvard Law Review XIII 67–79. –
Hatschek, Allg. Staatsrecht (1909) I. S. 29 ff., 38 ff. II S. 1 9 ff. und engl. StR. I 581 ff. –
Rehm, Allg. Staatslehre (in Marquardsen, H. d. ö. R.) S. 354 ff. –
Fahlbeck, Sveriges författning och den moderna Parlamentarismen Lund 1904.

I. Die Dogmengeschichte.

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Sie ist bestimmt durch die Art und Weise, wie die Theorie des Kontinents das Musterland der parlamentarischen Regierung England in seinem verfassungsmässigen Wirken beobachtet und erfasst hat. Immer eilt, wie das folgende dartun soll, der Kontinent in der theoretischen Formulierung des Problems der parlamentarischen Regierung selbst den Engländern voran, belehrt sie darüber, was das Schätzenswerte an ihrem Parlamentarismus sei, und veranlasst sie selbst zu theoretischen Betrachtungen über ihr Staatswesen, die aber inzwischen von den Tatsachen der Staatspraxis ihres Vaterlandes längst überholt sind.

Zu einer Zeit, da England eben jenen Kraftaufwand vornahm, um im Kampfe Edmund Burke’s gegen die Autokratie Georgs III. den Grundstein zur parlamentarischen Regierung der Gegenwart zu legen (siehe meine englische Verfassungsgeschichte, München 1913 S. 644 ff.), teilt der Genfer De Lolme in seinem „Constitution de l’Angleterre“ (insbesondere Bd. II der Ausgabe von 1787 Ch. X) dem staunenden Kontinent als Vorzug der englischen Verfassung mit, dass in ihr die Volksvertreter „keinen Anteil an der exekutiven Gewalt“ besässen, was um die Zeit, da der Satz geschrieben wird, jedenfalls unrichtig ist. Aber die ganze De Lolme’sche Theorie, welche an diesem wesentlichen Punkte das Bestehen einer parlamentarischen Regierung in England verneint, ist über den Leisten der Montesquieu’schen Dreiteilungslehre der Staatsgewalt geschlagen, einer Lehre die auch der berühmte Kommentator des engl. Rechts Blacktone zur Grundlage seiner Schilderung der englischen Verfassung übernimmt. Auch De Lolme wird dann von Blackstone als klassischer Zeuge dafür berufen, dass Englands Ruhm als Verfassungsstaat in der Mischung der drei Staatsformen (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) bestände, die namentlich im Parlament verwirklicht sei, das sich aus König, Oberhaus und Unterhaus zusammensetze, und dass die glückliche Mischung der drei Staatsformen in England ihren Höhepunkt deshalb erreiche, weil sich diese drei Teile des Parlaments gegenseitig die Wagschale hielten (Theorie der Balancen). Diese Theorie war so sehr dem Leben und der damaligen Staatspraxis abgewendet, dass sie das Wirken des damals bereits allmächtigen Ministerkabinetts ganz übersah.

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Während die Engländer noch bis in das Ende der 50er Jahre des 19. Jahrh. ihre eigene Verfassung bloss unter dem Gesichtswinkel der Montesquieu, De Lolme, Blackstone betrachteten und anbeteten, (als Beispiel hierfür mag die Schrift des Lord Brougham „The British Constitution“ London 1861 2. Ausgabe Kap. I und Kap. XVII gelten), war der Kontinent schon längst an der Arbeit, eine neue Theorie über den Kern des englischen Verfassungsstaats auszubauen und zu verbreiten. Auf dem Kontinent entdeckte man nunmehr die sogenannte „parlamentarische Regierung“ Englands und pries sie als Vorbild zur Nachahmung.

Auch diesmal waren es die Franzosen, welche uns hierüber belehrten. Im Januar 1830 führte Adolf Thiers in dem neu gegründeten Oppositionsblatt „Les National“ das englische Vorbild mit dem charakteristischen Satz vor alle Augen : „Le roi règne, les ministres gouvernent, les chambres jugent“ und „les chambres offrent leur majorité comme liste des candidats.“ (zitiert bei Jellinek Ausgewählten Schriften und Reden II S. 134.)

Aus dieser Anschauungsweise entwickelte sich alsbald eine geschlossene Theorie, die an Stelle der bisherigen Dreiteilung der Staatsgewalt eine Vierteilung der Staatsgewalt setzte. Neben der Gesetzgebung, der Exkutive und der richterlichen Gewalt müsse es in einem parlamentarisch regierten Staat noch eine vierte Gewalt geben und diese müsse der König darstellen als „Pouvoir neutre“, denn der König herrsche aber er regiere nicht. Im parlamentarisch regierten Staat ruhe der Schwerpunkt in den Kammern. Sie seien die bestimmenden Leiter der Verwaltung, sie hätten die Entlassung der Minister zu entscheiden. Die vierte Gewalt, der König könne zwar durch Kammerauflösung seine Minister zu halten versuchen: beweise aber das souveräne Volk durch Wiederwahl seiner früheren Repräsentanten, dass es an seinem Willen festhalte, dann müsse sich der König (das sogen, pouvoir neutre, oder pouvoir moderateur) damit zufrieden geben und die Minister auch wirklich entlassen. Vor einem Misstrauensvotum der Kammern haben die Minister zu weichen. Diese Theorie auf englisches Vorbild gestützt verkündet Benjamin Constant in seinem „Cours de politique constitutionelle“. Bruxelles 1836 I p. 428 ff. (die beste Analyse dieser Lehre bei Seydel „bayerisches Staatsrecht 2. Aufl. I. Bd. S. 510 f.). So wird die Entdeckung von Ad. Thiers, „dass die Kammern ihre Majorität als eine Liste der Ministerkandidaten dem Könige zu präsentieren hätten“, näher ausgeführt und zum Kernpunkt des parlamentarischen Regierungssystems wie es in England damals bestanden haben sollte, gemacht. Seit dieser Zeit erblickte auch die konstitutionelle Staatstheorie nicht bloss in Frankreich, sondern auch in Deutschland das Wesen der parlamentarischen Regierung in der Notwendigkeit die Minister der jeweiligen Parlamentsmajorität zu entnehmen.

Wieder waren es die Engländer, welche diese neue Theorie des englischen Verfassungsgeheimnisses von den Franzosen bereitwillig übernahmen und ihrem Vaterland zu verbreiten suchten. Im Vordergrund aller dieser Darstellungen steht das Buch von Bagehot, das etwa um 1867 verfasst worden war.[1] Man habe zu Unrecht bisher das Wesen der englischen Verfassung in der Gewaltenteilung und der Balancentheorie gesucht. Gerade das Gegenteil davon sei wahr. Der Vorzug der englischen Verfassung würde nicht in einer Gewaltentrennung sondern in einer intimen Vereinheitlichung, ja beinahe in einer kompletten Fusion der exekutiven und legislativen Gewalt bestehen (Chapter I p. 10 ff. zit. nach der Ausgabe von 1872: „The efficient secret of English Constitution may be described as the close union, the nearly complete fusion, of the executive and legislative powers. No doubt by the traditional theory as it exists in all the books, the goodness of our Constitution consists in the entire separation of the legislative and executive authorities but in truth its merit consists in their singular approximation.“)

Das Kabinett sei bloss ein Ausschuss des Parlaments gleich den anderen Parlamentsausschüssen, nur mit der besonderen Aufgabe betraut, die Gesamtverwaltung zu kontrollieren. Parlamentarische Regierung sei also Verwaltungskontrolle durch einen Parlamentsausschuss [418] nämlich das vom Parlament gewählte Ministerkabinett, das so als board of control zu fungieren habe. Auch diese Theorie entsprach damals schon lange nicht mehr den Tatsachen der englischen Staatspraxis. Das Parlament übte damals schon längst nicht mehr blosse kontrollierende Tätigkeit aus, sondern in immer steigender Weise richtige Verwaltungstätigkeit und diese nicht etwa bloss durch das Ministerkabinett als board of control, sondern zum Teil durch parlamentarische Komitees, zum Teil durch das Private Billverfahren. u. a. m.

Der kontinentalen Staatstheorie ist bis auf den heutigen Tag diese Bagehot’sche Auffassung der parlamentarischen Regierung unanfechtbares Dogma geblieben, während man in England in der Zwischenzeit doch die Theorie den neuen Verhältnissen anzupassen verstanden hat. Die Engländer sehen heute das Wesen ihrer parlamentarischen Regierung in der Verwaltungstätigkeit des Parlaments durch parlamentarische Komitees an (Siehe z. B. G. Bradford in Harvard Law Review III. p. 261).

Aber weder dieses noch die Bagehot’sche Lehre ist richtig.

Wahl der Minister aus der Majorität des Parlaments, Ausübung der Verwaltungstätigkeit durch parlamentarische Komitees resp. durch das Parlament, all dies sind nur Einzelerscheinungen einer einzigen bedeutsamen Tatsache, die von der bisherigen Staatstheorie so gut wie gar nicht gewürdigt worden ist: Es ist nämlich die lex Parliamenti, die parlamentarische Praxis (nicht bloss die Geschäftsordnungspraxis, sondern die auch in der Gesetzgebung und in der Budgetfeststellung betätigten Parlamentspraxis), welche immer solange nämlich ein Parlament und eine Exekutive bestehen, Verfassungsumbildungen schafft, ohne die für die Verfassungsänderungen notwendigen, formal-rechtlich bestehenden Schranken zu berücksichtigen. –

Diese parlamentarische Praxis hat neben anderen Umständen in England und in Frankreich die parlamentarische Regierung gezeitigt, sie ist eben daran auch Schweden zu einem parlamentarisch regierten Staat zu machen. Dies soll gleich im folgenden gezeigt, hier aber schon festgestellt werden : parlamentarische Regierung ist Staatsherrschaft der Volksvertretung durch Bestimmung der Richtlinien für die Verwaltung und durch Umbildung der Verfassung – kraft der parlamentarischen Praxis.

II. Die lex Parliamenti und die parlamentarische Regierung.

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In allen Staaten, welche eine echte parlamentarische Regierung besitzen, nicht bloss einen Scheinparlamentarismus wie z. B. die Balkanstaaten und Spanien, ist die parlamentarische Regierung ein Produkt der Parlamentspraxis neuerer Zeit. Dies zeigt zunächst die Entwicklung Englands. Hier ist allerdings das Ministerkabinett ein Produkt sozialer Triebkräfte: der Parteibildung (Siehe meine englische Verfassungsgeschichte 1913 § 33 und § 45). Die Herausbildung der parlamentarischen Exekutive aber ist allein auf dem Wege der parlamentarischen Praxis entstanden, dadurch nämlich, dass durch ein Gesetz der Königin Anna von 1707 das Unterhaus die Möglichkeit der Auswahl unter den vorhandenen Beamten vornehmen konnte, um die ihm genehmen Kategorien derselben zum Unterhause wahlfähig zu machen und andere Kategorien davon auszuschliessen. Das geschah auf doppelte Weise. Zunächst wurden durch sogenannte place acts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Aemter, die überflüssig und bedeutungslos erschienen, aus dem Parlament entfernt. Aber noch wirksamer war die Inklusion von Beamten ins Unterhaus. Zunächst war schon durch das Gesetz von 1707 ausdrücklich ausgesprochen, dass der Staatssekretär, der Finanzminister u. a. m. im Unterhaus Platz nehmen könnten. Seit 1742 wurden die Unterstaatssekretäre ins Unterhaus eingeführt (15 Geo. II Cap. 22 § 3). Aber noch wichtiger als all diese ausdrücklichen Gesetzesbestimmungen war die dem Unterhaus durch jene Akte von 1707 gegebene Befugnis, durch einfache Resolution zu erklären, welches Amt es für ein altes, d. h. nach dem Gesetze von 1707 zugelassenes, und welches es für ein neues Amt, also im Sinne des Gesetzes von 1707 vom Unterhaus ausgeschlossenes betrachtet wissen wolle. Das Unterhaus entwickelte hierbei in seiner Praxis eine grosse Willkür (siehe darüber mein englisches Staatsrecht I 553 f.)

[419] Im 19. Jahrhundert seit 1832 etwa, als das Unterhaus die Finanzverwaltung schärfer zu kontrollieren begann und sich der Grundsatz der Parlamentspraxis entwickelte, dass die geldspendenden Zentralstellen im Unterhaus vertreten sein müssten, bewirkt sogar die Parlamentspraxis eine Konsolidation und Umgestaltung von Aemtern, die Etablierung der Hierarchie unter den Zentralstellen und wandelte die bis dahin kollegialen Zentralstellen in solche mit bürokratischer Spitze um (siehe mein englisches Staatsrecht II, S. 132 ff.). Um an einem Beispiel die grosse Bedeutung der Parlamentspraxis darzustellen: dass die Landessteuerdirektion die Zolldirektion, die königliche Münze, die Staatsdruckerei, die Zentralstelle für Domänen und Forsten, das Generalpostamt u. a. m. dem Schatzamt untergeordnet sind, ist nirgends gesetzlich sanktioniert, sondern durch Parlamentspraxis gefordert und von der Regierung anerkannt.

Die Parlamentspraxis hat aber in England auch im 19. Jahrhundert wichtige Verfassungsumbildungen besorgt.

Durch Parlamentspraxis allein ist die Gesetzesinitiative heute ausschliesslich in Händen der Regierung. Durch Parlamentspraxis (Resolutionen von 1860, siehe mein engl. Staatsrecht S. 248) wurde die Zustimmung der Lords zu Finanzgesetzen beinahe vollständig ausgeschaltet. Durch Parlamentspraxis wurde die Budgetbewilligung einfach zu einem Stück der Finanzverwaltung des Reichs, ausgeübt durch das Unterhaus (siehe mein engl. Staatsrecht I S. 460 ff.). Einfach auf dem Wege einer standing order von 1852 des Unterhauses erfolgte die wichtige Verfassungsumbildung, dass keine Geldbill anders als auf Initiative der Regierung eingebracht werden darf. Durch parlamentarische Resolution von 1761 ist der Verfassungsgrundsatz aufgestellt, dass die bewilligten Geldausgaben nur innerhalb des Finanzjahres gemacht werden dürften, (siehe mein engl. Staatsrecht I S. 544). Die wichtigste Verfassungsumbildung ist einerseits die Einschnürung der königlichen Prerogative durch die lex Parliamenti, da seit 1707 noch kein englischer König einem vom Parlament beschlossenen Gesetzentwurf die Zustimmung verweigert hat und somit das Veto der Krone im Plenum als obsolet zu betrachten ist, andererseits die sogenannte Verfassungsreform von 1911 1 and 2 Geo 5 Cap. 13, welche den Widerstand des Oberhauses gegen Finanzreformen überhaupt ausschaltete und in anderen Fragen auf ein suspensives Veto hinabdrückte. Man wende nicht ein, dass diese Verfassungsumbildung doch durch Gesetz also auf legalem Wege erfolgte, während wir in vorhergehenden die blosse Parlamentspraxis als verfassungsbildende Kraft bezeichneten: Denn zunächst war dies schon vorher Parlamentspraxis und ist nur noch vom Gesetzgeber von 1911 ausdrücklich legalisiert worden, aber auch die in dem Gesetze liegende Verschärfung gegenüber der früheren Praxis ist materiell bloss durch den Willensschluss des Unterhauses zustande gekommen, auf Grund von Resolutionen, deren wichtigste am 24. Juni 1907 im Unterhaus gefasst[2] wurde und die Richtschnur für die Verfassungsreform bildete. Dem Oberhaus, das gegen die Verfassungsreform Widerspruch erhoben hatte, wurde mit einem Peerschub gedroht, und der König kam mit seiner Einlegung des Vetos überhaupt nicht in Frage. Die Vorherrschaft des Unterhauses und seiner Parlamentspraxis über das Oberhaus ist sonach durch die Verfassungsreform von 1911 nunmehr zu einer dauernden geworden.

Wenn ein Gesetzentwurf (also jede künftige Verfassungsreform) das Unterhaus in drei aufeinanderfolgenden Lesungen passiert hat und im Oberhause jedesmal verworfen oder nur mit Amendements, denen das Unterhaus nicht zustimmen will, angenommen worden ist, so wird der Gesetzentwurf dem König ohne Rücksicht auf das Oberhaus zur Sanktion vorgelegt und gilt, wenn er dieselbe erhalten hat, als Gesetz. Der Sprecher hat bei der Vorlage des Gesetzentwurfs zur Sanktion zu attestieren, dass die gesetzlichen Vorschriften für das Zustandekommen des Gesetzes, wie sie die Verfassungsreform von 1911 vorschreibt, beobachtet worden sind. Noch weniger Umstände werden mit dem Oberhaus bei einem Gesetzentwurf, der die Finanzen und das Budget betrifft, [420] gemacht, wenn das Oberhaus widerspenstig ist. Hat ein solcher Gesetzentwurf das Unterhaus passiert und ist vom Oberhaus, nachdem er hier spätestens 1 Monat vor Schluss der Session eingelangt war, überhaupt nicht oder nur mit Amendements angenommen worden, so wird der Entwurf ohne Rücksicht auf die etwaigen Amendements des Oberhauses dem Monarchen zur Sanktion vorgelegt und gilt, wenn diese erteilt worden ist, als Gesetz, trotzdem er die Zustimmung des Oberhauses nicht erhalten hat. Der Sprecher hat bei der Vorlage des Entwurfs zur Sanktion auf der Rückseite derselben zu attestieren, dass der Entwurf eine Money bill im Sinne des Gesetzes sei.

So ist die Vorherrschaft des Unterhauses und seiner Macht durch Unterhausbeschlüsse allein die Verfassung umzubilden, dauernd gesichert.

Auch in Frankreich ist die parlamentarische Regierung auf dem Wege der Parlamentspraxis entstanden.[3]

Nichts wunderbarer als dieser Prozess! Ein mit allen Vorurteilen der absoluten Monarchie ausgerüsteter König kommt zur Regierung: Ludwig XVIII, der in der Vorrede zu seiner dem Volke geschenkten Verfassung („Charte“ von 1814) ausdrücklich sagt, dass in seiner Person die gesamte Staatsgewalt vereinigt sei und er nur in der Ausübung der legislativen Gewalt vom Parlament beschränkt sein wollte („Bien que l’autorite toute entière résidât en France dans la personne du roi, nos prédécesseurs n’avaint point hésité à en modifier l’exercice“), und der sich trotz alledem einem parlamentarischen Regierungssystem anbequemen muss? Einfach die Macht der juristischen Logik unterstützt von dem Vorbilde der englischen Verfassung, die damals ein ebenso faszinierendes Vorbild war wie das römische Recht zur Zeit seiner Rezeption, hat dies bewirkt. Sehen wir uns diesen juristischen Prozess näher an, so finden wir, dass er an die recht dürftigen Bestimmungen der Charte über Ministerverantwortlichkeit und die Befugnis des Parlaments Steuern zu bewilligen, anknüpft. Aus dem Rechte der Steuerbewilligung folgert der Finanzminister Baron Louis selbst, dass dem eine Einigung über die zu deckenden Ausgaben, also eine Ausgabenbewilligung vorangehen müsse; damit ist dann notwendig eine Kontrolle der Verwaltung insbesondere auf die Zweckmässigkeit ihrer Ausgaben hin gegeben. Aber auch die Adressen an den König dienen diesen Zwecken, der Kritik der Minister und ihrer Handlungen, desgleichen das durch die Charte (Art. 53) gewährleistete Recht der Petitionen. Das Recht zur Einrichtung von Untersuchungskommissionen und zu Interpellationen wird als notwendiges Korrelat der durch die Charte übrigens nur strafrechtlich vorgesehenen Ministerverantwortlichkeit betrachtet. So entstehen die wichtigsten modernen Kontrollemittel bloss durch die Macht der parlamentarischen Logik. Das alles ereignete sich gleich zu Anfang der Regierung Ludwig XVIII, so dass der Politiker und Minister Vitrolle die aufkommende Notwendigkeit eines Ministerwechsels entsprechend der Parlamentsmajorität als „une consequence rigoureuse du systeme constitutionel“ bezeichnete. Aus der Macht jener „Logique parlementaire“ entwickelte sich aber auch jene innere Kohärenz des Ministeriums, die zum Kabinettbegriff nötig ist. Aus dem Staatsrat kristallisiert sich zunächst der Ministerrat, Prinzen und andere Dignitäre werden ihm nicht zugezogen, die Einheit („unité“) des Ministeriums von Ludwig XVIII schon in der Deklaration von Cambrai nach den „Hundert Tagen“ im Jahre 1815 zugesagt, wird als Grundsatz der Solidarität und Gleichgesinnung der Minister verstanden. Das Amt des Ministerpräsidenten, auch ohne weitere Administrationsgeschäfte als die der obersten Kontrolle der Ministerkollegen, bildet sich seit dem zweiten Ministerium Richelieu heraus, dagegen wird das noch an das „persönliche Regime“ des Monarchen erinnernde Staatssekreteriat, das im Sinne des Königs die Beziehungen der Minister untereinander erhalten sollte, unterdrückt, der Minister des königlichen Hauses wird aus dem engeren Ministeriat ausgeschieden, in das Parlament werden Gehilfen der Minister die Unterstaatssekretäre eingeführt, die nicht etwa zur Leistung administrativer Arbeit, sondern zur „Leitung“ der beiden Häuser, also zu rein politischer Arbeit angestellt sind. Noch ist man nicht so weit, die Minister unbedingt der Parlamentsmajorität zu entnehmen, aber schon im Jahre 1820 schafft man das Institut der Minister ohne Portefeuille, um wenigstens diese aus der Parlamentsmajorität [421] hervorgehen zu lassen. Schliesslich kommt 1827 das Ministerium Martignac ans Ruder, einfach als Ausschuss der damaligen Parlamentsmehrheit aber 1829 ist dies beim Neuantritt des Ministeriums Polignac nicht der Fall. Jetzt tritt die Deputiertenkammer mit ihrer berühmten Adresse der 221 hervor, und hierin wird dem Könige die unumstössliche Notwendigkeit verkündet, das jeweilige Ministerium der jeweiligen Parlamentsmajorität zu entnehmen: „car eile fait du concours permanent des vues politiques de votre peuple, la condition indispensable de la marche régulière des affaires politiques“ (Archives parl. t. 61 p. 618). Was die Bourbonen zu tun versäumten, besorgte das Julikönigtum pünktlich. So ist auch in Frankreich die parlamentarische Regierung als ein Produkt der parlamentarischen Praxis entstanden. Gerade die Entwicklung in Frankreich zeigt, dass die Herausbildung eines Ministerkabinetts, das aus der Parlamentsmajorität entnommen werden müsste, nicht das Wesen der parlamentarischen Regierung ausmacht, bildet sie doch gerade in Frankreich die Schlussphase der Entwicklung. Wäre diese Schlussphase das Wesen der parlamentarischen Regierung, dann müsste es ja sehr leicht sein, sie verfassungsmässig festzulegen mit der Gewähr, die parlamentarische Regierung sofort zu verwirklichen. Tatsächlich ist in keiner Verfassung, deren Staat parlamentarisch regiert wird, die parlamentarische Regierung angeordnet.

Eine Ausnahme hiervon machen scheinbar die englischen Selbstverwaltungskolonien, in deren Verfassungen die Notwendigkeit vorgeschrieben ist, dass die Minister einem der beiden Häuser des Parlaments angehören müssen. Aber diese Kautel ist deswegen in die Verfassung eingefügt, um dem Mutterland gegenüber eine Schranke aufzuerlegen, keineswegs aber so gedacht, dass man mit der Anordnung des parlamentarischen Ministerkabinetts das Wesen der parlamentarischen Regierung erschöpfen wollte. Der beste Beleg dafür, dass das parlamentarische Ministerkabinett nicht das Wesen der parlamentarischen Regierung ausmacht, ist ferner die Tatsache, dass Staaten, welche ein solches Ministerkabinett besitzen, zu einer echten parlamentarischen Regierung mitunter nicht zu gelangen brauchen, sondern nur einen Scheinparlamentarismus entwickeln. Hierher gehören die Balkanstaaten und Spanien. Hier beruft der König nach seinem Willen abwechselnd die Führer der um die Staatsherrschaft streitenden Parteien zu Ministern und diese machen nach ihrem Willen die Parlamentswahlen und nach ihrem Willen die Parlamentsmajorität, die sie für ihr autokratisches Vorgehen brauchen.[4]

Auch in einem anderen Staat, der sich bisher von der parlamentarischen Regierungsweise nach englischem Muster ferngehalten hat, können wir die allmähliche Umbildung der Verfassung durch die Parlamentspraxis beobachten, die schliesslich auch hier zu parlamentarischer Regierung führen wird. Es ist Schweden. Die Verfassung dieses Staats von 1809 beruht auf einem Dualismus, der von den Urhebern der Verfassung konsequent durchgeführt wurde.[5]

Monarch und Reichstag stehen sich hier gleichberechtigt gegenüber. Jedes Organ selbständig und mit einer eigenen Kompetenz ausgerüstet. Die Handlungsfreiheit und Machtvollkommenheit des Reichstags ist ausserordentlich gross. Ihm steht insbesondere die ausschliessliche Feststellung des Budgets zu, und wer aus der Verfassungsgeschichte weiss, wie wichtig diese Machtvollkommenheit sowohl im Staatsleben Englands und anderer Staaten geworden ist, wird die Bedeutung dieser Machtvollkommenheit gewiss nicht unterschätzen. Auch der Monarch hat wieder seine vom Reichstag vollständig getrennte Machtssphäre, insbesondere ein umfassendes Verordnungsrecht (praeter legem) in sogenannten ökonomischen Angelegenheiten. Was dazu gehört, ist nicht ausdrücklich im Gesetze vorgeschrieben. (§ 89 der Verfassung). Man kann den Begriff nur ungefähr umschreiben wie z. B. § 34 der Reichstagsordnung von 1810 als das. „was zu der allgemeinen Haushaltung des Reiches und zu den öffentlichen Einrichtungen wie Erziehungs- und Unterrichtswesen, allgemeine Armenpflege, Ackerbau, Bergwerke usw. gehört.“ Auf dem Gebiete der bürgerlichen und Strafgesetze wie auch der militärischen Strafgesetze der Kirchen- und Gemeindegesetze müssen hingegen Reichstag und König zusammenwirken (§ 87 und § 57 der Verfassung).

[422] Der König wählt seine Minister ausschliesslich nach eigenem Gutbefinden. Sie sind seine Vertrauensmänner, nicht die des Reichstags. Sie beraten den König im Staatsrat, können aber, wenn sie bei Abgabe ihres Rates „nicht die wahren Interessen des Landes wahrgenommen haben“, vom Verfassungsausschusse dem Reichstage angezeigt werden, welcher hierauf an den König die schriftliche Bitte richtet, die betreffenden Minister ihrer Stellen im Staatsrat zu entheben. (§ 107 der Verfassung.) Desgleichen können sie auf Veranlassung des Verfassungsausschusses, der die Staatsratsprotokolle zu prüfen hat, durch den Justizanwalt des Reichstags vor dem Reichsgericht angeklagt werden, wenn sie offenbar gegen das Grundgesetz oder gegen andere Gesetze gehandelt oder eine Übertretung dieser Gesetze angeraten oder Vorstellungen gegen eine solche Uebertretung zu machen versäumt haben u.a. m., insbesondere wenn sie es versäumt haben, ihre Gegenzeichnung zu einem rechts- oder verfassungswidrigen Beschlusse des Königs zu verweigern (§ 106 der Verf.).

Trotzdem nun dieser Dualismus verfassungsmässig festgelegt worden ist, zeigt sich auch hier, dass die Parlamentspraxis bereits ihre Verfassungsumbildungen in wichtigen Punkten vorgenommen hat, welche die oberste Leitung des Staatswesens mit der Zeit ganz in die Hände des Reichstags insbesondere der 2. Kammer (Volksvertretung) spielen werden.[6] Schon das ausschliessliche Budgetrecht des Reichstags ist eine wesentliche Voraussetzung dieser Verfassungsumbildung durch die Reichstagspraxis, und gibt, sowie es nach der Verfassung besteht, der zweiten Kammer eine überragende Stellung, insofern bei Widerspruch zwischen beiden Kammern inbezug auf die Beschlüsse, die zur Etatsregelung führen, zwar jede Kammer für sich abstimmt, aber diejenige Meinung durchdringt, für welche die zusammenzurechnenden Stimmen der meisten Mitglieder der beiden Kammern abgegeben worden sind. (§ 65 der Reichstagsordnung.) Da die zweite Kammer nun eine grössere Anzahl von Mitgliedern hat als die erste, etwa 230 gegen 150, so nimmt die zweite Kammer in Budgetfragen eine Vorrangstellung ein.[7] Dazu kommt noch, dass die Parlamentspraxis eine Reihe von Umbildungen an dem bestehenden Recht durchgeführt hat. Zunächst hat über die Verfassung hinaus die Praxis ein Motionsrecht der einzelnen Reichstagsabgeordneten in Fragen des Voranschlags eingebürgert, während die Verfassung nur die königliche Initiative in diesen Fragen voraussetzt. Sodann ist durch die Parlamentspraxis eine weitgehende Spezialisierung der Voranschlagsposten herbeigeführt, welche den König hindern, auch innerhalb der Haupttitel des Etats über die Verwendung der Summen zu entscheiden. Auch über Ersparnisse, welche bei einem Etatposten gemacht werden, darf der König, trotzdem die Verfassung dem nicht entgegensteht, nicht frei verfügen, denn auf diesem Gebiete hat bereits der Reichstag durch ein Schreiben vom 12. Mai 1841 bestimmt, dass Ersparnisse, welche innerhalb des ein oder anderen Haupttitels gemacht werden, zu solchen von den Reichsständen nicht geprüften Ausgaben für Zwecke innerhalb des Titels nur dann zu verwenden sind, wenn diese Zwecke durch ein unabweisliches Bedürfnis hervorgerufen sind und zufälligen Charakter haben. Nicht darf jedoch der König solche Ersparnisse zur Bestreitung von jährlichen Gehältern etc. verwenden. Ueber die Verfassung hinaus hat sich in der Praxis der Grundsatz etabliert, dass der Reichstag jede Finanzeinnahme bewilligen und insbesondere zwischen den verschiedenen Besteuerungsformen nach freiem Ermessen zu wählen in der Lage ist.

Nicht bloss aus dem Gebiete des Etatwesens, sondern auch auf dem nach der Verfassung scharf abgegrenzten Gebiete königlicher Machtvollkommenheit macht sich die Reichstagspraxis im Sinne einer Einengung königlicher Prärogative geltend, ohne dass von seiten der Krone Widerstand erhoben wird.[8]

Drei Vorstösse hat in neuerer Zeit der Reichstag über den Rahmen der Verfassung hinaus vorgenommen. Der vom Reichstag bestellte Justizanwalt (Justitieombudsman) begnügt sich nicht damit (§ 99 der Verf.), „wenn er es für nötig hält, den Beratungen und Urteilsfindungen des Höchsten Gerichtshofes, des Oberverwaltungsgerichts, der niederen Justizrevision, der Hofgerichte, der Verwaltungskollegien oder der an ihrer Stelle eingerichteten Verwaltungsbehörden und aller unteren [423] Gerichtshöfe beizuwohnen, ohne jedoch das Recht zu haben, seine Meinung dabei zu äussern“, oder was ihm ebenfalls die Verfassung gestattet, in die Protokolle der Behörden einzusehen, sondern er geht über den Rahmen der Verfassung hinaus und schreibt, wenn er anlässlich dieser Prüfung Missstände entdeckt, den Behörden die in Frage kommen, direkt vor wie sie es machen müssten.

Nach § 46 der Reichstagsordnung[9] soll ein Ausschuss des Reichstags, der von einer Staatsbehörde Aufklärung wünscht, diesen Wunsch durch seinen Vorsitzenden dem jener Behörde vorgesetzten Staatsratsmitglied übermitteln, auf dass der König den Auftrag gebe, die nötigen Mitteilungen dem Reichstagsausschuss zukommen zu lassen. In der Praxis hat sich nun ein direkter Verkehr zwischen den Reichstagsausschüssen und den Verwaltungsbehörden herausgebildet. Nunmehr macht aber der Reichstag trotz des § 46 den Anspruch und zwar nicht ohne Erfolg geltend, dass die von einem Ausschuss verlangte Auskunft direkt von der Verwaltungsbehörde (also ohne Vermittlung des Staatsrats und des Königs) abgegeben werden müsse. Nicht der gute Wille der Behörde, sondern eine bestehende Rechtspflicht soll massgebend sein. Schliesslich ist das Interpellationsrecht, wie es sich in der Gegenwart in Schweden entwickelt, weit über den Rahmen der Verfassung, in der es eine nur untergeordnete Rolle spielt, hinausgewachsen und wird insbesondere dazu verwendet, um der Staatsverwaltung Direktiven zu erteilen, die eigentlich nur dem Könige zustehen.[10]

Dies sind alles Anzeichen, dass die parlamentarische Regierungsweise bereits im Anzuge ist. Ob sie schliesslich in ein parlamentarisches Ministerkabinett ausmünden wird, hängt natürlich wie auch anderswo davon ab, ob grosse Parteien an Stelle der vier bestehenden einen massgebenden Einfluss im Staate gewinnen, also von sozialen Momenten. Aber das parlamentarische Ministerkabinett ist kein wesentliches Merkmal der parlamentarischen Regierung, sondern einzig und allein die Tatsache, dass der Wille der Volksvertretung in den wichtigsten Staatsfragen, insbesondere in der Verfassungsumbildung sich durchsetzt. Und in diesem Sinne geht Schweden sicherlich der parlamentarischen Regierung entgegen, wenn es sie nicht schon hat.

III. Parlamentarische Regierung und Staatsform.

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Die parlamentarische Regierungsweise bildet keinen Verfassungstypus, sondern ist eine Regierungsform, welche sich den beiden bestehenden Verfassungsformen der Monarchie wie der Demokratie anzupassen weiss. Es gibt parlamentarische Monarchien und parlamentarische Demokratien. Es gibt auch parlamentarischregierte Bundesstaaten, z. B. Australien. Die Rechtsinstitute, welche die parlamentarische Monarchie im Gegensatz zur konstitutionellen verwenden, sind folgende:

Zunächst ist die parlamentarische Monarchie nicht an die Dreiteilung der Staatsgewalt gebunden.

Im Gegenteil. Sie ignoriert sie. Das Parlament besorgt mitunter Funktionen der Verwaltung z. B. die Setzung von Rechtsverordnungen oder von Verwaltungsverordnungen. So werden in England z. B. die Grundsätze für die Theaterzensur durch das Unterhaus genehmigt (siehe mein englisches Staatsrecht II S. 515). Auf dem Wege der Private acts nimmt das Unterhaus die Verleihung von Expropriationsberechtigungen, Gewerbekonzessionen u. a. m. vor. (Siehe darüber m. engl. Staatsrecht I S. 566 ff.). Bei der Feststellung des Budgets und der Rechnungslegung übt das Parlament nicht bloss Kontrolle der Verwaltung, sondern Verwaltungstätigkeit aus. Einerseits nimmt das Parlament noch vor der Gesetzvollendung des Budgets Anweisungen von Geldern für die laufende Verwaltung und Aenderungen der Finanzquellen auch während des Verwaltungsjahres vor, so dass die endgültige Feststellung des Staatshaushalts nur die formelle Sanktion der durch das Parlament geübten Verwaltungstätigkeit darstellt. Bei der Rechnungslegung beschränkt sich das Parlament nicht, wie in der konstitutionellen Monarchie, auf [424] die Frage, ob die Staatsausgabe rechtmässig gemacht, sondern greift weiter, ob sie auch zweckmässig erfolgt sei. Bei der Ausübung des Interpellationsrechts beschränkt sich das Parlament nicht bloss auf die Kontrolle der Verwaltung, sondern erteilt ihr direkt durch motivierte Tagesordnungen u. a. m. Weisungen für die Zukunft.

Dem Parlament steht gewöhnlich ein Enquêterecht durch vom Parlamente eingesetzte Kommissionen zu, welche das Recht erhalten, Zeugen auch unter Eid zu vernehmen (so in England, Belgien, Ungarn, Italien, Niederlanden, Dänemark). Die Ministerverantwortlichkeit wird nicht bloss in der scharfen Form der Ministeranklage, sondern in der einfacheren aber darum nicht minder wirksamen Form der Misstrauensvoten geltend gemacht. Schliesslich wird die in allen Staaten unentbehrliche Verwaltungsroutine der Behörden der Parlamentspraxis untergeordnet. (Siehe mein allgem. Staatsrecht Bd. I S. 47.)

Während die parlamentarische Regierung in der Monarchie hauptsächlich den Zweck hat, den Willen des Unterhauses in zweifelhaften Fragen gegenüber dem Königtume zum Durchbruch zu bringen, ist der ausgesprochene Zweck der parlamentarischen Regierung in der Demokratie dem Willen des Volks in allen entscheidenden Staatsfragen zur Geltung zu bringen. Die parlamentarische Demokratie, wie sie z. B. in Frankreich und in einigen südamerik. Republiken[11] (z. B. Chile) herrscht, unterscheidet sich sehr wesentlich einerseits von der unmittelbaren, anderseits von der Gewalten trennenden Monarchie.

Die unmittelbare Demokratie ist diejenige, wo das Volk selbst, nicht durch Repräsentanten, die wichtigsten Staatsfunktionen in Gesetzgebung und Verwaltung ausübt, wo insbesondere die gesetzgeberischen Funktionen und manche Akte der Verwaltungstätigkeit durch das Referendum dem Volksentscheid zugeführt werden. Diese Form der Demokratie wie sie in der Schweiz verwirklicht ist, steht im Gegensatz zur Repräsentativdemokratie, welche entweder eine gewaltentrennende ist, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, oder eine parlamentarische. Die Hauptunterschiede dieser beiden Arten, der Repräsentativdemokratie gehen auf den Grundzug der Gewaltentrennung zurück, nämlich die scharfe Sonderung der gesetzgebenden, exekutiven und richterlichen Gewalt.

In der gewaltentrennenden Demokratie haben die Minister gewöhnlich nicht Zutritt zur Legislatur und nicht freies Wort in ihrer Mitte. Das Gegenteil ist in der parlamentarischen Demokratie die Regel. Schliesslich hängen infolge der Gewaltentrennung die Minister in der Demokratie, in welcher dieser Grundsatz durchgeführt ist, keineswegs, wie in der parlamentarischen Demokratie von einer Vertrauens- oder Misstrauenskundgebung einer oder beider Kammern des Parlaments ab.

In der gewaltentrennenden Demokratie wacht die richterliche Gewalt über jede Ausschreitung der anderen Gewalten, in der parlamentarischen Demokratie ist eine solche Vorrangstellung der richterlichen Gewalt nicht gegeben. Der Träger der Volkssouveränität ist die Volkskammer und sie kann sich jede Ausschreitung ungerügt gestatten, da ihr Wille im Sinne der parlamentarischen Regierungsweise in allen Fragen (nicht bloss in zweifelhaften, wie in der parlamentarischen Monarchie) den Ausschlag geben muss. Zwar hat auch in der parlamentarischen Demokratie der Chef der Exekutive ein Auflösungsrecht gegenüber der Volkskammer, aber dieses „droit de dissolution“ hat keinen Korrektivzweck, sondern soll die Möglichkeit gewähren, die Volkskammer zu einem wirklichen Vertreter des Volks zu machen.

Die parlamentarische Regierung kann nach dem Vorhergehenden nur die Vorrangstellung eines Organs, nämlich der Volkskammer bedeuten. Die parlamentarische Regierung kann auch nur eine einheitliche sein, ein sogenannter dualistischer Parlamentarismus,[12] der noch immer parlamentarische Regierung sein soll und aufgebaut ist auf der Gleichrangstellung von Parlament und Königtum ist eine contradictio in adjecto. Denn der Begriff der Regierung verlangt Einheitlichkeit. Ebenso der Begriff der parlamentarischen Regierung.





  1. Es ging aus Aufsätzen in der Fortnightly review hervor. Zum Teil mag es auch vor der damaligen englischen Zeitströmung der „Amerikanisierung“ der engl. Staatsinstitutionen beeinflusst worden sein. S. mein engl. Staatsrecht I a. a. O.
  2. Sie lautet sehr bezeichnend in der Form, wie sie der Premierminister einbrachte (Parl. Deb. 4. series vol. 176 p. 909). „That, in order to give effect to the will of the people as expressed by their elected representatives, it is necessary that the power of the other House to alter or reject Bills passed by this House should be so restricted by law as to secure that within the limits of a single Parliament the final decision of the Commons shall prevail.“
  3. Siehe darüber Barthélemy L’introduction du regime parlemantaire en France 1904. und mein allgem. St.R. I (1909) 30 ff.
  4. Siehe für Spanien Costa, Oligarquia y Caciquismo 1903 p. 14 und Posada im Jahrbuch des öffentlichen Rechts Bd. II S. 448 ff.
  5. Siehe darüber Fahlbeck, Die Regierung Schwedens 1912, insbesondere Einleitung.
  6. Siehe darüber und z. folgenden Fahlbeck Statsvetenskaplig Tidskrift 1904 VII p. 98 ff. und Reuterskiöld, ebendort Bd. XIV (1911) p. 297 ff.
  7. Siehe darüber und zum Folgenden Otto Varenius, Das schwedische Budgetrecht in der Festgabe für Kohler, Stuttgart 1909 S. 186 ff.
  8. Siehe darüber Reuterskiöld am oben angeführten Ort Bd. XIV S. 301 ff.
  9. S. darüber Varenius im XII. Jahrgg. der Statsvetenskaplig Tidskrift (1909) p. 156. ff.
  10. Reuterskiöld a. a. O. Bd. XIV S. 307 ff.
  11. Vergl. dazu A. Soubies u. E. Carette, Los republiques parlamentaires, Paris 1902.
  12. Einen solchen postuliert Fahlbeck, Sveriges författning och den moderna parlamentarismen 1904.