Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/438

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

nämlich das vom Parlament gewählte Ministerkabinett, das so als board of control zu fungieren habe. Auch diese Theorie entsprach damals schon lange nicht mehr den Tatsachen der englischen Staatspraxis. Das Parlament übte damals schon längst nicht mehr blosse kontrollierende Tätigkeit aus, sondern in immer steigender Weise richtige Verwaltungstätigkeit und diese nicht etwa bloss durch das Ministerkabinett als board of control, sondern zum Teil durch parlamentarische Komitees, zum Teil durch das Private Billverfahren. u. a. m.

Der kontinentalen Staatstheorie ist bis auf den heutigen Tag diese Bagehot’sche Auffassung der parlamentarischen Regierung unanfechtbares Dogma geblieben, während man in England in der Zwischenzeit doch die Theorie den neuen Verhältnissen anzupassen verstanden hat. Die Engländer sehen heute das Wesen ihrer parlamentarischen Regierung in der Verwaltungstätigkeit des Parlaments durch parlamentarische Komitees an (Siehe z. B. G. Bradford in Harvard Law Review III. p. 261).

Aber weder dieses noch die Bagehot’sche Lehre ist richtig.

Wahl der Minister aus der Majorität des Parlaments, Ausübung der Verwaltungstätigkeit durch parlamentarische Komitees resp. durch das Parlament, all dies sind nur Einzelerscheinungen einer einzigen bedeutsamen Tatsache, die von der bisherigen Staatstheorie so gut wie gar nicht gewürdigt worden ist: Es ist nämlich die lex Parliamenti, die parlamentarische Praxis (nicht bloss die Geschäftsordnungspraxis, sondern die auch in der Gesetzgebung und in der Budgetfeststellung betätigten Parlamentspraxis), welche immer solange nämlich ein Parlament und eine Exekutive bestehen, Verfassungsumbildungen schafft, ohne die für die Verfassungsänderungen notwendigen, formal-rechtlich bestehenden Schranken zu berücksichtigen. –

Diese parlamentarische Praxis hat neben anderen Umständen in England und in Frankreich die parlamentarische Regierung gezeitigt, sie ist eben daran auch Schweden zu einem parlamentarisch regierten Staat zu machen. Dies soll gleich im folgenden gezeigt, hier aber schon festgestellt werden : parlamentarische Regierung ist Staatsherrschaft der Volksvertretung durch Bestimmung der Richtlinien für die Verwaltung und durch Umbildung der Verfassung – kraft der parlamentarischen Praxis.

II. Die lex Parliamenti und die parlamentarische Regierung.

In allen Staaten, welche eine echte parlamentarische Regierung besitzen, nicht bloss einen Scheinparlamentarismus wie z. B. die Balkanstaaten und Spanien, ist die parlamentarische Regierung ein Produkt der Parlamentspraxis neuerer Zeit. Dies zeigt zunächst die Entwicklung Englands. Hier ist allerdings das Ministerkabinett ein Produkt sozialer Triebkräfte: der Parteibildung (Siehe meine englische Verfassungsgeschichte 1913 § 33 und § 45). Die Herausbildung der parlamentarischen Exekutive aber ist allein auf dem Wege der parlamentarischen Praxis entstanden, dadurch nämlich, dass durch ein Gesetz der Königin Anna von 1707 das Unterhaus die Möglichkeit der Auswahl unter den vorhandenen Beamten vornehmen konnte, um die ihm genehmen Kategorien derselben zum Unterhause wahlfähig zu machen und andere Kategorien davon auszuschliessen. Das geschah auf doppelte Weise. Zunächst wurden durch sogenannte place acts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Aemter, die überflüssig und bedeutungslos erschienen, aus dem Parlament entfernt. Aber noch wirksamer war die Inklusion von Beamten ins Unterhaus. Zunächst war schon durch das Gesetz von 1707 ausdrücklich ausgesprochen, dass der Staatssekretär, der Finanzminister u. a. m. im Unterhaus Platz nehmen könnten. Seit 1742 wurden die Unterstaatssekretäre ins Unterhaus eingeführt (15 Geo. II Cap. 22 § 3). Aber noch wichtiger als all diese ausdrücklichen Gesetzesbestimmungen war die dem Unterhaus durch jene Akte von 1707 gegebene Befugnis, durch einfache Resolution zu erklären, welches Amt es für ein altes, d. h. nach dem Gesetze von 1707 zugelassenes, und welches es für ein neues Amt, also im Sinne des Gesetzes von 1707 vom Unterhaus ausgeschlossenes betrachtet wissen wolle. Das Unterhaus entwickelte hierbei in seiner Praxis eine grosse Willkür (siehe darüber mein englisches Staatsrecht I 553 f.)

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/438&oldid=- (Version vom 23.8.2021)