Die neuenthüllten Wunder der Meerestiefe

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Titel: Die neuenthüllten Wunder der Meerestiefe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 241, 242
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
in der Reihe:
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
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Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Die neuenthüllten Wunder der Meerestiefe.

In den letzten vier Jahren zogen Kriegsschiffe der französischen Marine auf Eroberungen aus, um welche sie die ganze civilisirte Welt beneidete, denn sie sollten Gebiete aufschließen, in welche bis jetzt kein Sterblicher gedrungen war und welche seit uralten Zeiten die Mythologien der Völker und die Phantasie der Dichter mit den Wundern und Ungeheuern der Sage bevölkerten. Unter der Leitung Gelehrter steuerte viermal ein Dampfer in die weite See hinaus, um die Tiefen des Oceans zu ergründen, das Geheimniß zu erforschen, welches die See birgt auf ihrem tiefsten Grunde.

Die von der „Talisman“-Expedition gefundene Tiefe des Meeres, verglichen mit der Höhe des Brocken und des Kölner Domes.

Der berühmte Zoologe Alph. Milne-Edwards hat diese Expeditionen in’s Leben gerufen. Mit dem kleinen Raddampfer „Le Travailleur“ durchquerte er in den Jahren 1880, 1881 und 1882 den Meerbusen von Biscaya, einen Theil des Mittelländischen Meeres und den offenen Ocean von Frankreichs Gestaden bis zu den Canarischen Inseln. Ueberall warf er seine Netze aus und hob ungeahnte Schätze, neue Thierformen, welche Niemand kannte. Der Erfolg seiner Untersuchungen war so überraschend, daß die französische Regierung kein Bedenken trug, dem ausgezeichneten Forscher und seinen Freunden im vorigen Jahr Mittel an die Hand zu geben, mit welchen sie eine neue großartige Expedition ausrüsten konnten.

Ein vorzüglicher Schraubendampfer, der „Talisman“, wurde den Gelehrten zur Verfügung gestellt und mit allen den Apparaten versehen, welche zur Tiefseeforschung nach den gesammelten Erfahrungen nöthig erschien. An Stelle der alten Hanfseile zum Aufziehen der Schleppnetze traten starke biegsame Stahlkabel, welche ein Gewicht von circa 4500 Kilogramm tragen konnten, Dampfmaschinen wurden zum Niederlassen und Heraufziehen der Netze eingerichtet, besondere Apparate für Lothungen und Messungen der Temperatur der Tiefe construirt; eine elektro-dynamische Maschine befand sich an Bord, mit deren Hülfe die Edisonlampen unter den Wogen des Meeres den Grund erhellen sollten.

Macrurus australis.
Gefischt in der Tiefe von 4500 Metern.

So ausgerüstet, stach der „Talisman“ am 1. Juni 1883 in See, um diesmal das Meer längs der afrikanischen Küste bis zum Senegal, dann die Gewässer bei den Capverdischen und Canarischen Inseln und bei den Azoren zu untersuchen. Drei Monate lang dauerte die Reise, und wiederum war ihr Erfolg geradezu überraschend.

Ueber die ungeheueren Tiefen des Meeres herrschen unter den Laien die wunderbarsten Begriffe. Versuchen wir dieselben ein wenig zu klären und unsern Lesern gleichzeitig eine Vorstellung zu ermöglichen von den großen Schwierigkeiten, mit welchen die Tiefseeforschung verbunden ist.

Es klingt so unverständlich die Mittheilung, daß die Forscher eine Tiefe von 6000 Metern ergründet, oder daß sie Schleppnetze in Tiefen von 4000 bis 5000 Metern ausgeworfen haben, denn schwer nur kann man sich diese Zahlen verkörpern. Ein Blick auf die Zeichnung an der Spitze unseres Artikels wird Jedem die Bedeutung dieser Zahlen verständlich machen. Links am Rande des Bildchens erbebt sich ein schematisch gezeichneter Bergkegel, er soll die bekannteste Bergspitze Deutschlands, den Brocken, darstellen, dessen Höhe bekanntlich 1143 Meter beträgt. Wie klein ist aber diese Höhe im Vergleiche zu der angedeuteten Meerestiefe von 6265 Metern, welche das Loth des „Talisman“ unter dem 25° nördlicher [242] Breite erreichte! Und der Kölner Dom mit seinen 156 Meter hohen Thürmen, der Stolz der deutschen Baukünstler! Er konnte auf unserer Zeichnung nur durch einen kleinen schwarzen Strich von anderthalb Millimeter Höhe rechts von dem Berge, zwischen demselben und dem Dampfer, angedeutet werden.

Doch rufen wir unsere Phantasie zur Hülfe und steigen wir hinab in diese Tiefen!

Melanocetus Johnsoni.
Gefischt in der Tiefe von 4000 Metern.

Kochen und brausen dort die Strudel der Charybdis, von der uns der Dichter sang? Mit Nichten! Ewige Ruhe herrscht im Schooße der See. Die gewaltige Macht der sturmgepeitschten Wogen, die mit unbändiger Wuth thurmhoch an den Felsen der Küsten branden, dringt nicht in diese Tiefe; schon in der Entfernung von 150 Metern unter dem Meeresspiegel ist ihre Wirkung gänzlich gebrochen. Und nicht weiter reicht auch die lebenerweckende Kraft des Lichtes. Die „grüne“ und die „purpurne Finsterniß“ weicht bald dem völligsten Dunkel, und schon in der Tiefe von 50 Metern bleiben die empfindlichsten photographischen Platten unverändert. In den „Thälern des Meeresgrundes“ bleibt auch die Temperatur ewig gleichmäßig, denn der Kampf zwischen den wärmeren und kälteren Strömungen ist dort in der Regel ausgeglichen; naturgemäß sinken die specifisch schwersten Wasserschichten, das heißt diejenigen, welche die Wärme von 4° Celsius besitzen, auf den Grund, und so herrscht auch dieselbe gleichmäßige kühle Temperatur in allen bedeutenderen Meerestiefen. Das sind sonderbare Bedingungen für das Gedeihen lebender Wesen, und zu ihnen gesellt sich der ungeheuere Druck, den die Wassermassen ausüben, denn schon in der Tiefe von 1000 Metern lastet auf der Fläche von einem Quadratcentimeter eine Wassersäule, deren Gewicht 100 Kilogramm beträgt.

Aus diesem Grunde sehen wir das Pflanzenreich in einer Entfernung von 250 Metern unter dem Wasserspiegel verschwinden, und man dachte früher, daß auch für das Thierreich dort unten eine Grenze gezogen sei. Aber aus den Tiefen von 4000 und 5000 Metern förderten die Netze der Forscher zahllose Thiere zu Tage, wunderbare, oft gänzlich unbekannte Formen.

Da fand man zunächst eigenthümlich geformte Fische. Manche von ihnen haben Augen, und ihr Körper ist mit selbstleuchtenden, phosphorescirenden Flecken bedeckt, das sind die Laternen, mit deren mattem Licht die Bewohner der ewigen Finsterniß ihre Umgebung erleuchten! Die andern sind blind, und darum mit eigenartigen Tastorganen ausgestattet, und von einer Art könnte man sagen, daß sie über dem Maule einen regelrechten Finger besitzt. Unsere Abbildungen führen uns zwei der vielen Arten vor. Den eigenthümlich gebauten Macrurus australis, der in einer Tiefe von 4500 Metern gefischt wurde, und den noch sonderbareren Melanocetus Johnsoni. An den gewaltigen Rachen dieses Fisches schließt sich eine zur vorläufigen Aufnahme der Nahrung bestimmte Ausbuchtung, die viel größer ist, als der gesammte übrige Körper.

Holtenia Carpenteri.
Gefischt in der Tiefe von 5000 Metern.

Unter den Schwämmen finden sich seltene Exemplare, deren kieseliges Skelet mit Fäden von Asbest oder feinstem Glase durchwebt zu sein scheint. Die nebenstehende Abbildung zeigt uns eine Holtenia, die aus der Tiefe von 5000 Metern gehoben wurde. Wir sehen auf derselben die „Mundöffnung“, das osculum, bewaffnet mit zahlreichen Wimperorganen, durch die das Seewasser in die inneren Canäle des Thieres eingeleitet wird, um dieselben, der Nahrungsstoffe beraubt, durch die sogenannten Schornsteine zu verlassen.

Ungemein reichhaltig ist namentlich die niedere Thierwelt in den Tiefen vertreten! Bei glücklichem Fang waren die unermüdlichen Forscher an Bord des „Talisman“ kaum im Stande, die gehobenen Schätze zu classificiren, und bis heute sind die wissenschaftlichen Arbeiten noch lange nicht beendigt. Nur vorläufige Berichte sind erschienen, aus denen wir die kurzen Andeutungen schöpfen. Manche unter diesen Bewohnern der finsteren Abgründe sind oft mit bunten Farben geschmückt, die Krabben, die Seesterne und anderes Gethier schillerte dem staunenden Auge des Forschers bald in rothen, bald in grünen oder orangefarbigen und violetten Tönen entgegen.

Doch wir werden noch später, wenn ausführlichere Berichte erscheinen, Gelegenheit finden, unsere Leser über die Geheimnisse dieser Thierwelt zu unterrichten.

Für heute nur noch einige Worte über sonderbare mineralogische Funde auf dem Grunde des südlichen Meeres! Ueberraschend war das Auffinden von Steingeschieben in einer Entfernung von 700 Seemeilen von der Küste Europas. Die aus der Tiefe gehobenen Steine sind geschliffen und gerillt, und zwar in so ausgeprägter Form, daß man die Rillen unmöglich auf die Wirkung der Strömungen zurückführen kann. Man muß annehmen, daß in grauer Vorzeit Eisberge diese Steine hierher transportirt haben. Sie nahmen dieselben von den Gletschern Europas mit, von denen sie sich ablösten, und als die Eisberge hier im Atlantischen Ocean geschmolzen waren, sanken die Steine zu Boden. Nach Tausenden von Jahren hob sie der Mensch aus der Tiefe, und sie erzählen ihm heute ein Stücklein aus der Geschichte der Erde, aus der wunderbaren Eiszeit unseres Welttheiles.

Nach beendeter Expedition gingen ihre Mitglieder sofort an die wissenschaftliche Bearbeitung des gewonnenen Materials, und nachdem die Sammlung geordnet war, faßten sie den glücklichen Entschluß, dieselbe dem großen Publicum in einer Ausstellung vor Augen zu führen. Und sie ward von Erfolg gekrönt, diese seltene Tiefsee-Ausstellung. Aus Bescheidenheit wählten die Arrangeure nur einen kleineren Saal in dem Museum der Naturgeschichte zu Paris, aber das Publicum strömte dennoch in solchen Massen herbei, daß es, um Eintritt zu erlangen, eine Kette vor der Thür bilden mußte.

Doch mit den oben geschilderten Errungenschaften ist die Tiefseeforschung der französischen Gelehrten noch nicht abgeschlossen. Es werden Vorbereitungen getroffen, um in diesem Jahre wiederum eine neue Expedition auszurüsten.