Die kranke Frau (Gemälde der Dresdener Gallerie)
Einen ausgezeichneten Rang unter den Gemälden des unermüdlichen Netscher nimmt dasjenige Stück ein, welches „die kranke Frau“ heißt. Selten erreichte der Meister eine so überraschende Wahrheit, wie in diesem Bilde, das sich stets eine reiche Anzahl von Bewunderern erhalten hat. Die Situation ist einfach, aber dennoch dramatischer, als es bei Netscher gewöhnlich der Fall ist. Die kranke Frau sitzt, bis unter die Knie sichtbar, auf einem reichen Sessel, im Pelzüberwurf, mit einem Seidenkleide; ihr Kopf ist mit einem weißen Tuche so umgeben, daß das jugendliche Antlitz vollkommen frei bleibt. Die rechte Hand auf’s Herz gelegt, reicht die Kranke dem neben ihr stehenden Arzt die Linke, welche dieser zum Sondiren des Pulsschlags hält. Dieser Doctor von damals, in einem dunklen Pelzrocke, die Pelzmütze auf dem Kopfe, gehört unzweifelhaft zu Netschers besten Figuren; der Ausdruck seines Gesichts, wie er den Inhalt einer runden Glasflasche aufmerksam und augenscheinlich um seine Patientin besorgt, betrachtet, ist unvergleichlich. Nicht minder aber fesselt die Kranke den Beschauer. Diese Mattigkeit im Blicke, welcher sich mit festem Vertrauen zu dem Arzte emporhebt, ist eben so sehr, als der Ausdruck in den Zügen des Arztes gelungen. Höchst charakteristisch ist die im Hintergrunde vor einem Himmelbette stehende Dienerin aufgefaßt, wie sie erwartungsvoll auf den Orakelspruch des Doctors lauscht. Gemalt ist dies Bild mit einer Sorgfalt und Sauberkeit, die selbst bei dem sorgfältigen Netscher in solcher Vollendung selten ist.