Textdaten
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Autor: Charles Baudelaire
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Titel: Die kleinen Alten
Untertitel:
aus: Die Blumen des Bösen. S. 130-S. 135
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1901
Verlag: Bondi
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Stefan George
Originaltitel: Les Petites Vieilles
Originalsubtitel:
Originalherkunft: Les Fleurs du Mal
Quelle: Google-USA* und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Zyklus: Pariser Bilder
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[130]
CXV
DIE KLEINEN ALTEN


1

In alten städten in winkliger viertel nähe
Wo alles · sogar das entsetzen · in zauber sich kehrt
Gehorch ich meinen verderblichen launen und spähe
Nach wesen seltsam bestrickend · schwach und verzehrt.

5
Einst waren es frauen · die zerrbilder aufgerieben ·

Epona und Laïs! zerrbilder verschlissen krumm
Verschrumpft – es sind noch seelen · wir müssen sie lieben!
In ihren durchlöcherten kleidern kommen sie stumm

[131] Die strasse einher von den boshaften winden geschlagen

10
Im rollenden lärme der wagen zitternd geknickt

Und wie ein heiliges überbleibsel tragen
Sie bei sich ein säckchen mit blumen und schnörkeln bestickt.

Sie trippeln ähnlich wie die Polichinellen ·
Sie schleppen sich wie verwundete tiere fort

15
Und ohne zu wollen tanzen sie – arme schellen

Daran sich ständig ein dämon hängt! so verdorrt

Sie auch sind: ihre stechenden augen bestricken
Und glitzern wie ruhende wasserhöhlen bei nacht
Und sind wie die eines mädchens mit göttlichen blicken

20
Das alles bestaunt und zu allem erglänzenden lacht.


– Habt ihr bemerkt: manche särge der alten waren
Wie die eines kindes – beinah ebenso klein?
Der weise tod legt in diese gleichheit der bahren
Ein sinnbild von seltsam ergreifender laune hinein.

25
Und seh ich an mir vorüber eins von den matten

Gespenstern durch das wimmelnde treiben fliehn
So scheint es mir immer dass diese gebrechlichen schatten
Ganz leis einer neuen wiege entgegenziehn.

[132] Ich denke dann über die messkunst nach und ich zähle

30
Vom anblick dieser verschrobenen glieder erfasst

Wie oft der handwerker andere formen wol wähle
Damit die kiste für jeden der körper passt. –

Und brunnen sind ihre augen · tief unabsehlich ·
Sind tiegel beschlagen mit einem erkalteten erz ·

35
Und voll von geheimnissen fesseln sie unwiderstehlich

Den der erzogen wurde vom grausamen schmerz ·

2

Des alten Frascati liebende priesterinnen ·
Thaliens töchter deren allein noch im sarg
Der flüsterer denkt · und berühmte verschwenderinnen

40
Die Tivoli ehmals in seinen blumen barg:


Sie alle berauschen mich · unter den zarten gestalten
Sind aber auch solche die machten zum honig den schmerz:
Sie sagten zum opfermut: willst du uns aufrecht halten?
Mächtiges flügelross · flieh mit uns himmelwärts!

45
[133] Die eine im leiden geübt durch die heimatsonne

Die andre die ihres gatten qualen ertrug
Die dritte des kindes willen durchbohrte madonne –
Sie hätten um ströme zu bilden der thränen genug.

3

Wie manchen bin ich gefolgt von den kleinen alten!

50
Von ihnen eine · zur zeit als die sonne sank

Und sich der himmel hüllte in blutige falten –
Gedankenvoll sass sie abseits auf einer bank

Dem klang der soldatenmärsche zu folgen der bebend
Von pauken zuweilen durch unsere gärten gellt

55
Und der · an abenden golden und wiederbelebend ·

Mit heldenmut etwas die herzen der bürger schwellt.

Sie also (noch kräftig sich fühlend trotz ihrer jahre)
Sog gierig ein die lebhaften kampf-melodien.
Mit ihrem auge glich sie dem alten aare ·

60
Ihr marmornes haupt für den lorbeer geschaffen schien.


[134]
4

So ziehet ihr klaglos dahin mit stoïschen stirnen
Inmitten unserer lebenden städte schlund ·
Ihr mütter mit blutendem herzen ihr frommen ihr dirnen
Ihr deren name vor zeiten in aller mund.

65
Euch die man die pracht genannt und die schönheit der erde

Euch kennt nun keiner. ein betrunkener schlüpft
An euch vorüber mit höhnischer liebesgeberde ·
Ein boshafter knabe hinter den fersen euch hüpft.

Geduckten ganges euch schämend mit furchtsamem blicke ·

70
Verschrumpfte gestalten die ihr an die mauern streift ·

Euch achtet keiner · seltsame geschicke ·
Ihr trümmer von menschen die ihr für die ewigkeit reift!

Ich aber schaue auf euch von fernem · nicht minder
Besorgt und auf euren schwankenden schritt –

75
Wie wundersam! als wäret ihr all meine kinder ·

Ich fühle · euch unbekannt · heimliche freuden mit.

[135] Ich sehe wie eure jungfräulichen triebe sich künden ·
Ich sehe die frohzeit und das verlorene glück.
Mein herz wie vervielfacht ergeht sich in all euren sünden

80
Und all eure tugenden strahlt meine seele zurück.


Ihr trümmer! ihr schwestern! mir verwandte schaaren!
Ich nehme feierlich abschied von euch jeden tag.
Wo seid ihr morgen · ihr Even von hundert jahren
Auf denen Gottes entsetzlicher finger lag?