Die französischen Tugendpreise

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Titel: Die französischen Tugendpreise
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aus: Die Gartenlaube, Heft 59, S. 670–673
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die französischen Tugendpreise.


„Tugendpreise!“ ruft wohl Mancher, „welch’ ein empörender Gedanke! Die keusche Tugend aus ihrem heiligen Dunkel an das grelle Tageslicht zerren, eine frivole Komödie mit ihr aufführen und zuletzt sie gar noch mit Geld ablohnen! Hat die Tugend einen Preis? Geht sie etwa auf Gewinn aus? Wer, der nur etwas gesundes Gefühl sich bewahrt hat, nur einige Scheu vor dem Göttlichen, nur eine Ahnung von dem wahren Wesen der Tugend in sich trägt, kann sie auf solche Art entwürdigen wollen? Das ist ja das wirksamste Mittel, alle echte Tugend im Volke auszurotten, denn man verdreht dadurch gänzlich alle seine Begriffe, und hält ihm statt ihrer eine schamlose heuchlerische Fratze als das Ideal der Vortrefflichkeit vor, dem er nachstreben soll, und zwar nachstreben, um vielleicht in der Tugendlotterie einen Preis von so und soviel hundert oder tausend Francs zu erhaschen und öffentlich genannt und gepriesen zu werden! Denn es fühlt doch wohl ein Jeder, daß kein wirklich Tugendhafter, Keiner, der das Bewußtsein einer wahrhaften Edelthat in sich trägt, hingehen wird, um seine eigene Vortrefflichkeit den Preisrichtern anzurühmen und eine baare Belohnung dafür zu verlangen! Somit also wird durch diese pompöse Farce, zu der sich sogar eine „Akademie der moralischen Wissenschaften“ hergibt, unter dem heiligsten Namen nur die frevelhafteste Gaunerei aufgemuntert und zur öffentlichen Bewunderung und Nacheiferung emporgehalten. Das ist aber wieder echt französische Komödie, nichts als Komödie, auch das Reinste und Edelste muß zu einer Komödie herabgezogen werden!“

Gemach! gemach! – Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß der Gedanke, der Tugend öffentliche Geldpreise zu ertheilen, auf den ersten Blick etwas sehr Verletzendes hat, so läßt sich der Sache doch vielleicht auch eine Seite abgewinnen, von der aus jener Widerwille sich nicht nur mildern, sondern wohl gar in sein Gegentheil umwandeln dürfte. Unser imaginärer Gegner hat in seinem ganz löblichen Eifer die triftigsten und meistgehörten Einwürfe gegen die schöne Stiftung des edlen Monthyon herausgepoltert; um sie nun in der Kürze zu beantworten und zu widerlegen, können wir nicht besser thun, als die Sache ganz einfach für sich selbst reden zu lassen.

Der Ursprung dieser Tugendpreise ist wohl vielen unserer Leser schon bekannt. Der reiche französische Baron von Monthyon hinterließ nach einem ungewöhnlich langen, ganz nur der Linderung menschlichen Elendes und der Förderung alles Guten gewidmeten Leben, als er 1820 starb, sein großes Vermögen verschiedenen wohlthätigen Anstalten, und bestimmte einen Theil davon zur Vermehrung des Kapitals, welches er bereits 1782 der Akademie der moralischen Wissenschaften zu dem Zwecke anvertraut hatte, daß sie von den Zinsen desselben alljährlich eine Anzahl Preise an solche Personen ertheilen solle, die sich durch eine Reihe edler und aufopfernder Handlungen besonders ausgezeichnet haben. Wir heben das Wort „Reihe“ ausdrücklich hervor, denn der weise Stifter dachte richtig, daß eine vereinzelte That des Muthes, der Menschenliebe und Aufopferung, vielleicht nur einem augenblicklichen Impulse entsprungen, noch keineswegs wirkliche Tugend begründe, [671] deren Wesen eben nur in einer andauernden Uebung alles Edlen, Reinen und Vortrefflichen beruht.

Der Preise sind im Ganzen sechzehn; einer von 4000 Francs, einer von 3000, zwei von 2000, drei von 1000 und zehn von 500; welche dreizehn letzteren „Medaillen“ genannt werden. Die jährlich vertheilte Summe beträgt also im Ganzen 19,000 Francs oder 5000 Thaler.

Die Geringfügigkeit der einzelnen Preise, verbunden mit der Vorschrift, nach welcher sie eben nicht vereinzelten Großthaten, sondern nur einer fortgesetzten, ausgezeichnet edlen Handlungsweise zugesprochen werden, erledigt schon vollständig jenes erste Bedenken, als könne sich niedere Gewinnsucht dadurch irgendwie zu einer heuchlerischen Spekulation aufgemuntert fühlen. Könnte es doch gelingen, die Menschen durch die Aussicht auf eine etwaige Belohnung von höchstens 1000 Thalern zu einem tugendhaften, aufopfernden Lebenswandel zu bekehren! Es ließe sich schon allein im Interesse der Gesellschaft gar keine lohnendere Verwendung des Geldes denken, und es wäre dann wenigstens nicht mehr der „Mammon, der in’s Verderben führt.“ Auch ist wohl zu bemerken, daß es sich hier durchaus nicht um eine, oft nur erheuchelte „Frömmigkeit,“ sondern um wirkliche Thaten handelt, und daß der Baron seine Stiftung deshalb nicht irgend einer Kirche, die Preisvertheilung nicht der Geistlichkeit übertragen hat, sondern einer rein weltlichen Körperschaft von Gelehrten, Philosophen und Staatsmännern. Da nun diese Zeichen nur zur Anerkennung echten, unzweifelhaften Werthes dienen, so versteht es sich wohl von selbst, daß Diejenigen, welchen sie zugesprochen werden, sich nicht selbst darum beworben haben können. Ein solcher Fall ist nie vorgekommen und gar nicht denkbar. Vielmehr werden diese Edlen, die in echter Demuth ihrer eigenen Erhabenheit sich völlig unbewußt sind, meist zu ihrer größten Bestürzung durch die Aufmerksamkeit der Akademie überrascht, bis zu welcher der Ruf ihres stillen und segensreichen Waltens gedrungen war, und nicht selten haben sie mit achtungsvoller Entschiedenheit die ihnen zugedachte Auszeichnung zurückgewiesen. Was nun durch die öffentliche Vertheilung solcher Preise, die man im Stillen als Unterstützungen würdiger und bedürftiger Personen wohl gelten ließe, bezweckt werden soll? Nun, doch wohl die Förderung der Tugend, aber nur auf ganz andere Weise, als es anfangs den Schein hatte. Nicht als Sporn oder Strebziel sollen diese Preise dienen, sondern ein, an sich selbst zwar gleichgültiges, nebenbei aber doch nicht selten wohlthätiges Mittel sind sie, durch welches das Gute, welches ihre Empfänger bisher nur im Verborgenen geübt hatten, nun auch in den weitesten Kreisen zu einem segensvollen Wirken gebracht wird. Und daß sie dies gar wohl vermögen, wird Jedem durch die nachfolgenden, einer früheren Preisvertheilung zu Grunde liegenden Thatsachen an sich selbst fühlbar werden; oder hätte die Barmherzigkeit jenes Samaritaners so gar nichts weiter gewirkt, als nur die Rettung jenes Einen, unter die Räuber Gefallenen?

Unter mehr als hundert geeigneten Fällen, die in den letzten sechs Monaten vor jener Preisvertheilung zur Kenntniß der Akademie gekommen waren, wählte sie nebst mehreren anderen die folgenden als die würdigsten aus, und ist es nicht ohne Interesse für uns, daß zwei der so Ausgezeichneten, obwohl von Geburt Franzosen, doch deutscher Abstammung sind.

Den ersten Preis von 4000 Francs erhielt ein alter Soldat und Schuhmacher, Namens Miller. Dieser arme und großherzige Mann hatte der Reihe nach fünf ganz fremde Kinder adoptirt, die er und sein braves Weib ohne alle Unterstützung mit der zärtlichsten Sorgfalt auferzogen. Das erste dieser Kinder war eine Waise, die Miller während des schreckenvollen russischen Feldzuges im Schnee fand. Das war seine Kriegsbeute, die er als den kostbarsten Schatz durch all’ die folgenden blutigen Ereignisse treu bewahrte und sicher in die Heimat brachte. Eine so vortreffliche Erziehung gab er seinem Schneesohne, daß dieser jetzt kommandirender Stabsoffizier in der französischen Armee ist. Ein zweites dieser angenommenen Kinder Miller’s ist Landpfarrer; ein drittes ist anständig als Schustermeister etablirt, und ein viertes dient eben seine Conscriptionsjahre in der Armee ab. Das fünfte Kind ist ein Mädchen, das von ihrem Vater, einem brutalen und liederlichen Soldaten, in frühester Jugend verlassen und durch Miller und sein Weib dem Laster und Elend entrissen wurde. Nach mehreren Jahren kam der unnatürliche Vater zurück, und die Liebe der Pflegeeltern für sein Kind ausbeutend, nahm er es ihnen und verlangte eine große Summe für seine Zurückstellung. Miller war arm, allein er brachte freudig die schwersten Opfer, um seine angenommene Tochter wiederzuerlangen, die sich solcher Liebe werth gezeigt hat und jetzt die treue Pflegerin des ehrwürdigen, hochbetagten Paares ist. Schon seit Jahren arbeiten die Alten daran, dem Mädchen eine gesicherte Existenz zu gründen, und die 4000 Francs, welche Miller von der Akademie empfing, werden sicher dies Ziel wesentlich gefördert haben.

Es liegt in diesem dunkeln aber so wohlthätigen Leben des fleißigen alten Soltaten ein tiefer und mehr als gewöhnlicher Reiz. Indem er fünf hülflose Kinder nicht nur vor Mangel und Elend, sondern auch vor Unwissenheit und Laster rettete, sie unter den größten Schwierigkeiten auferzog und durch unermüdliche Ausdauer so weit brachte, daß sie die von ihnen behauptete ehrenvolle und nützliche Stellung im Leben einnehmen konnten, that er mehr, als nur ein gutes und menschenfreundliches Werk, er verfuhr, – wie die Franzosen sehr richtig unterscheiden – mit weiser Tugend, mit einer Tugend, die, hinausblickend über die Nächstliegenden Rücksichten, mehr noch das allgemeine Wohl im Auge hält, als das blos individuelle. Diese Betrachtung war es denn auch, was die Akademie vornehmlich bewog, Miller den ersten Preis zuzuerkennen. Wer aber möchte wohl dem Verdachte Raum geben, daß dieser edle Mann, der in seiner entfernten Provinz vielleicht nie von der Akademie und ihren Monthyon-Preisen gehört, auch nur entfernt an diese armselige Summe dachte, als er mit treuer Ausdauer alle Kräfte seines Daseins an die Durchführung seiner schönen, selbsterwählten Aufgabe setzte?

Obwohl wir, bei all’ unserer Sympathie für die französischen Arbeiterklassen, keineswegs für sie ausschließlich Gefühle und Tugenden beanspruchen wollen, die so allgemein und so weitverbreitet sind, als der Mensch und die menschliche Natur, so müssen wir doch bei der Betrachtung all’ der herrlichen Beispiele christlicher Liebe und Selbstverleugnung, die jedes Jahr bei Gelegenheit der Monthyon-Preise kund werden, die tiefe Wahrheit der von Michelet in seinem Buche „Das Volk“ ausgesprochenen Thatsache anerkennnen, daß gerade die ärmsten Glieder der Gesellschaft jederzeit am bereitetsten sind, gleich jener alten Wittwe, ihr Alles hinzuopfern, und zwar nicht nur, wo Pflicht und Neigung sie dazu auffordern, sondern oft für den ersten unglücklichen Fremden, der ihren Pfad durchkreuzt. Ist dies vielleicht, weil die Armen am besten wissen was es heißt, zu leiden? Ist es, weil sie selbst den Kelch bis auf die bitteren Hefen geleert, daß sie so gut verstehen, mit dem Betrübten zu trauern und mit dem Weinenden zu weinen?

Zu diesen milden Seelen gehörte auch Anne Billard, eine alte Näherin, der die Akademie eine Medaille von 500 Francs zusprach, und die so überaus arm war, daß sie oft viele Tage nach einander nur von Gemüseabfall lebte, den sie in der Straße aufklaubte, oder von so schimmeligem, verdorbenem Brote, daß der elendeste Gefangene es weggeworfen haben würde. Und dennoch fand Anne Billard selbst in diesem Abgrunde der Noth und des Elenden noch die Möglichkeit, mehr wahre Wohlthätigkeit zu üben, als so manche Tochter des Reichthums und des Ueberflnsses. Eine alte Gouvernante, die einst bessere Tage gesehen hatte, war durch vier Jahre ihr Gast; dieser folgte ein invalider Soldat, der lange schon sein siebzigstes Jahr hinter sich hatte; und nach diesem kam ein polnischer Flüchtling, dessen Name sogar Anne unbekannt blieb. In dieser Weise verbrachte sie die letzten dreizehn Jahre. Ihre rückhaltlose Mildthätigkeit allein hat sie so arm gemacht, denn ihr unausgesetzter Fleiß hätte sie jetzt längst allem Mangel enthoben. Aber ob sie gleich alt und schwach wird, trägt Anne ihr Loos doch ohne Murren, sucht kein Lob und spricht nie von dem Guten, das sie gethan. Viele ihrer Nachbarn und Bekannten staunten oft über die Tiefe ihrer Armuth; wurde sie aber um Aufschluß darüber angegangen, so antwortete sie einfach: „Es ist eben Gottes Wille so!“

Derselbe Geist der Demuth und Selbstverleugnung durchwaltet auch die ganze Handlungsweise des Arbeiters Rouy, eines anderen von Denen, die eine Medaille von 500 Francs erhielten. Die Schwiegereltern Rouy’s hatten vor Jahren aus bloßem Mitleid ein armes blödsinniges Mädchen adoptirt, das aus Widerwillen gegen seine Schwäche von den eigenen Eltern verlassen worden war. Als diese Leute nun selbst alt und hülflos wurden, nahm sie Rouy sammt ihrem Pflegekinde freudig bei sich auf. Kurz darnach starb seine Schwester, deren Mann sehr liederlich war, und hinterließ einen kleinen Jungen. Der Wittwer verheirathete [672] sich bald wieder, und nachdem ihm seine zweite Frau ebenfalls ein Kind geboren hatte, ging er davon und ließ seine Familie im größten Elende zurück. Rouy benahm sich jetzt auf eine wahrhaft bewundernswerthe Art. Nicht nur nahm er sogleich seiner Schwester Kind zu sich, sondern auch das andere, denn sein Zartgefühl, – – um das ihn so manche überfeinerte Delikatesse beneiden dürfte – duldete nicht, daß der Bruder seines kleinen Neffen darbe, während dieser sich einer liebevollen Versorgung erfreute. So erhält nun Rouy außer seiner eigenen Familie fünf hülflose Wesen lediglich durch seiner Hände Arbeit; aber wie edel auch seine Handlungsweise ist, hat ihn doch noch Niemand überreden können, daß er irgend mehr gethan hätte, als einfach nur seine Pflicht. Und ist denn nicht auch wirklich die Barmherzigkeit eine hochheilige, gebieterische Pflicht?

Ein anderer charakteristischer Zug verschiedener Individuen, welchen die Akademie Preise zuertheilte, ist die unermüdlich hingebungsvolle Krankenpflege, durch welche mehrere edelsinnige Frauenzimmer sich auszeichneten, auf deren Geschlecht begreiflicherweise diese Form der Wohlthätigkeit sich zumeist beschränkt. Diese Frauen sind in der Regel äußerst arm, einige unter ihnen sogar schwächlich und verkrüppelt, aber Alle haben in jeder Beziehung die erhabenste Selbstverleugnung bewährt. Ja noch mehr: obwohl fortwährend am Krankenlager der Unglücklichen und Nothleidenden anzutreffen, erhalten sie sich doch, einsam und ohne Stütze, lediglich nur durch ihren eigenen Fleiß. Wir sagen „sie,“ denn mit sehr geringfügigen Unterscheidungen ist das Leben des Einen dieser edlen Wesen das Leben Aller; – ein Leben großherziger Nächstenliebe und Selbstopferung.

So, ob wir nun von Susanne Monnet sprechen, die während der Pflege ihrer alten und hinfälligen Mutter zuerst den erhabenen Ruf vernahm, der sie alle irdischen Gedanken aufgeben hieß, um sich ganz nur den Kranken und Armen zu widmen; oder von Bertine Guidin, der verkrüppelten aber edlen Bauerndirne, deren karger Tagelohn von 4 Rgr. während der ganzen letzten dreiundvierzig Jahre zum größeren Theile den Unglücklichen der Gemeinde zufloß; oder von Katherine Quéron, die – nachdem sie mit der bewundernswürdigsten aller christlichen Tugenden, der Vergebung des erlittenen Bösen, sich den Peinigern ihrer Jugend geopfert hatte – durch ihren rastlosen Eifer und die selbstvergessendste Hingebung, namentlich während der Cholera, sich den schönen Namen der „Vorsehung des Dorfes“ erwarb, – ob wir nun von Einer dieser oder von allen Dreien sprechen wollten, immer müßten die Worte kalt und matt erscheinen, mit denen wir versuchten die That zu schildern, welche diese, in ihrer Dunkelheit so erhabenen Lebensläufe verklärten.

Katherine Quéron unterscheidet sich jedoch selbst von ihren Gefährtinnen noch durch einen bemerkenswerthen Zug. Sie lebt in einem abgelegenen Dorfe, wo ein Arzt nur selten zur Hand ist. Dieser Umstand veranlaßte sie, bei ihrer Krankenpflege die verschiedenen Symptome der Krankheiten und die Wirkungen der Heilmittel mit besonderer Aufmerksamkeit zu studiren. Ihre Erfahrung wurde mit der Zeit sehr bedeutend, und sie hat nicht nur mehrere überraschende Kuren gemacht, sondern es gelang ihr auch Viele wieder herzustellen, an deren Rettung die Aerzte selbst verzweifelt hatten. In Anerkennung der seltenen Ausdauer und Geisteskraft, mit der sie sich, vom reinsten Wohlwollen getrieben, so schätzbare Kenntnisse angeeignet hat, bestimmte ihr die Akademie einen Preis von 2000 Francs.

Wir wollen diesen Bericht mit einem Falle beschließen, der uns erkennen läßt, welcher fast unglaublichen Selbstverleugnung das menschliche Herz fähig ist und welcher Reichthum gottgleicher Liebe noch immer diese, scheinbar nur der niedrigsten Selbstsucht hingegebene Erde heiligt.

Fanny Müller war Dienstmädchen in einem Pariser Hotel. Unter den Gästen befand sich ein geflüchteter italienischer Offizier, der an einer schweren Wunde litt, die zu verbinden Fanny’s tägliche Aufgabe war, wodurch sie näher mit ihm bekannt wurde. Nach einiger Zeit kündigte ihm der Eigenthümer die Wohnung. Des Italieners Hülfsmittel waren gänzlich erschöpft, und er sah sich dem äußersten Elende preisgegeben. Fanny’s Lohn betrug ungefähr zehn Thaler des Monats, wovon sie bereits eine hübsche Summe zurückgelegt hatte, die sie jetzt dem unglücklichen Ausländer zu widmen beschloß. Sie miethete eine kleine Wohnung für ihn, möblirte sie, und da er genug musikalische Kenntnisse besaß, um Unterricht zu geben, suchte sie ihm Schüler zu verschaffen, was ihr auch zum Theil gelang. Des Italieners kleiner Sohn befand sich damals mit seiner Mutter in London, kam aber jetzt nach ihrem plötzlichen Tode zu seinem Vater zurück. Obwohl ihre Last hierdurch verdoppelt wurde, klagte Fanny nicht. Sie fuhr fort, den Italiener zu unterstützen, und bestritt die ganze Erziehung seines Sohnes.

Nicht lange jedoch, so wurde der verwundete Offizier unfähig, seine Schüler zu besuchen, und verfiel daher gänzlich Fanny’s Fürsorge. Ihre bescheidenen Mittel waren nun erschöpft; doch, auf bessere Tage hoffend, borgte sie Geld von ihren Bekannten. Ihre Lage wurde jedoch schlimmer und schlimmer. Die Gläubiger mahnten, und nur durch Opfer, die in ihren Verhältnissen ungeheuer waren, vermochte sie ihre Forderungen zu befriedigen; allein sie that es, und die Schulden wurden bezahlt.

Fanny war seit Langem an einen braven jungen Mann aus ihrem Geburtsorte, im Norden Frankreichs, verlobt. Ihr Bräutigam, Pierre Bat, hatte durch jahrelangen Fleiß endlich die Summe von 2000 Francs gesammelt, und kam jetzt voll freudiger Hoffnungen nach Paris, um sein Mädchen aus dem Joche der Dienstbarkeit zu erlösen, und als Hausfrau heimzuführen, denn sein Schatz reichte hin zur Begründung eines kleinen Anwesens. Fanny liebte ihren Bräutigam mit der ganzen Glut ihres edlen Herzens. Sie erhob keinen Widerspruch gegen sein Verlangen, aber sie erzählte ihm, was sie gethan, wie ohne sie der arme Verwiesene im Elende umkommen, sein Sohn in Unwissenheit aufwachsen mußte; sie sagte ihm nur dies, und frug dann, was sie jetzt thun solle? „Wie Du bisher gethan,“ war Pierre Vat’s Antwort; und ihr seine 2000 Francs, sein ganzes sauer erworbenes Vermögen zur Fortsetzung ihres barmherzigen Werkes zurücklassend, kehrte er allein wieder nach seinem Dorfe zurück.

Seitdem ist der Verbannte gestorben. Nicht ein Sou von Pierre’s Ersparnissen ist mehr vorhanden – die ganzen 2000 Francs gingen für die Erhaltung des Italieners und seines Sohnes hin. Fanny ist noch immer in Paris, wo sie angestrengt arbeitet, um der Waise eine seiner Lebensstellung entsprechende Erziehung zu geben. Pierre und sie müssen getrennt leben; fünfzehn der schönsten Jahre ihres Lebens verflossen über dieser schweren Aufgabe, und Jahre der Anstrengung mag es noch erfordern, ehe sie die zu ihrer häuslichen Einrichtung nöthige Summe zusammenbringen. Doch arbeiten sie getrost fort, aufgerichtet durch ein glaubensfestes Vertrauen und eine mehr als irdische Hoffnung.

Hülfe kam endlich von einer Seite, woher sie am wenigsten erwartet wurde. Ein alter Geistlicher, der sie Beide seit vielen Jahren kannte und ihre geduldige Hingebung bewunderte, sandte einen Bericht dieser Thatsachen an die Akademie. Die Folge dieses Schrittes war, daß Fanny Müller, um ihre Verbindung mit Pierre Vat zu ermöglichen, eine Medaille von 500 Francs erhielt. Möge des Himmels Segen immerdar auf diesem hochherzigen Paare ruhen.

Solcher Art sind Diejenigen, welchen die Monthyon’schen Tugendpreise zu Theil werden. Ueber ihre geduldige Hingebung, ihre aufopfernde Nächstenliebe, ihre ungeheuchelte Demuth kann jetzt der Leser selbst urtheilen. Wenig dachten sie an eine Belohnung, als sie ihr edles Werk trieben! Und wollte Gott, daß statt sechzehn, hundert Preise jährlich vertheilt würden, und nicht nur in Frankreich, sondern in jedem christlichen Lande; wäre es auch nur, damit noch etwas Dauernderes und Würdigeres in den Annalen der Völker der Bewunderung der Zukunft überliefert werde, als die Berichte blutiger Triumphe.

Es ist uns unbekannt, wiefern die Akademie Sorge trägt, die jährlich zu ihrer Kenntniß gelangenden und von ihr ausgezeichneten Edelthaten dem Volke in den weitesten Kreisen bekannt zu machen; allein gewiß, eine Reihe entsprechender Darstellungen solcher Lebensläufe würde zugleich die schönste Volksbibliothek und das wirksamste aller Erbauungsbücher bilden. Die Vollbringungen des Genies, so herrlich und fördernd für das Ganze sie auch immer sein mögen, wirken doch nur drückend und entmuthigend auf den Betrachter, der von ihnen auf sich selbst zurückgeht, und kein ähnliches Vermögen in sich fühlt; oder aber, sie entzünden eine niedere, selbstische Ehrsucht, die nur nach Ruhm und eitler Auszeichnung dürstet, gleichviel, ob sie durch Segen oder durch Fluch errungen werden soll. Nicht so bei diesen Bildern; hier wird nicht die Phantasie gereizt, der Hochmuth und Egoismus aufgestachelt, sondern das Herz wird ergriffen, [673] und mit brünstigem Verlangen nach einem ähnlichen segensvollen Wirken entflammt. Diese demuthsvollen, mild leuchtenden Vorbilder aber, weit entfernt, den Schwachen kalt und stolz in seine Nichtigkeit zurückzuweisen, sprechen vornehmlich und aufmunternd zu einem Jeden: „Du kannst es auch, sobald Du willst; darum gehe hin, und thue desgleichen!“