Die falschen Weihnachtsbäume

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Autor: Charlotte Niese
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Titel: Die falschen Weihnachtsbäume
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 831, 834–836, 838–839
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die falschen Weihnachtsbäume.

Weihnachtsgeschichte von Charlotte Niese. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Auf unserer kleinen, in der Ostsee gelegenen Heimatinsel gab es wenig Bäume. So wenig, daß das Brennholz von außerhalb geholt werden mußte und daß viele der Inselbewohner niemals einen Wald gesehen hatten. Auch die Tannenbäume waren ein seltener Artikel, was uns als Kinder immer sehr aufregte. Denn wenn es gegen die Weihnachtszeit ging, tauchten die Zweifel stets wieder auf, ob wir wohl einen wirklichen oder einen falschen Tannenbaum am Heiligabend bekämen. Einen wirklichen Tannenbaum, der im Wald gewachsen war und in dessen Zweigen die Vögel gesungen hatten, oder einen falschen, der in Meister Ahrens’ Werkstatt das Licht der Welt erblickt hatte.

Meister Ahrens war unser Tischler. Er sah alt aus und hatte einen sehr kahlen Kopf, aber wir mochten ihn gern leiden, besonders, wenn er nicht immer von seinem guten Herzen sprach. Das langweilte uns, weil wir es doch eigentlich für selbstverständlich hielten, daß man ein gutes Herz haben müsse.

Ahrens kam oft zu uns. In unserer Kinderstube ging alle Augenblicke etwas auseinander, was eigentlich zusammengehörte, und Meister Ahrens erschien dann mit seinem Leimtopf, sagte, er hätte ein gutes Herz, und klebte alles wieder zusammen. Wir halfen ihm natürlich und drängten uns um die Ehre, in seinem klebrigen Topf dreimal herumrühren zu dürfen; aber seine Tannenbäume mochten wir nicht leiden. Das kam wahrscheinlich daher, weil wir sie schon so lange vorher sahen. Schon im Frühjahr arbeitete Ahrens an langen weißen Stöcken, in die er Löcher bohrte; im August und September malte er diese Stöcke mit grasgrüner Oelfarbe an und trocknete sie vor seiner Hausthür. Später sahen wir sie zusammengebunden in seiner Werkstatt liegen, bis der Dezember ins Land zog. Dann verschaffte er sich Tannenzweige, steckte diese in die Löcher der grünen Stöcke und betrieb einen schwunghaften Handel mit Tannenbäumen. Auch uns bot er immer von seinem Fabrikat an, aber obgleich wir nicht leugnen konnten, daß seine Bäume schließlich sehr nett aussahen, so verhielten wir uns meistens ablehnend. „Sie sind so billig!“ bemerkte Ahrens eines Tages zu uns, als wir ihn einer Bestellung wegen in seiner Werkstatt besuchten und er gerade einen grünen Stock etwas nachmalte.

„Wir wollen sie doch nicht!“ erwiderte mein Bruder Jürgen, der in seinen Aussprüchen oft sehr bestimmt war. „Ich mag keinen falschen Tannenbaum!“

„Falsch! Du lieber Gott, was ’n Wort!“ Ahrens sah beleidigt aus. „Da is nich die geringste Falschheit bei! Meine Tannenbäumens sind feiner as die natürlichen, kann ich Dich sagen, mein Junge! An die natürlichen is oft Smutz und Erde, und bei mich is bloß die reine Oelfarbe!“

„Wo bekommst Du eigentlich die Tannenzweige her?“ fragten wir, und der alte Tischler sah sehr wichtig aus.

„Aus ’n Wald, aus ’n richtigen Tannwald, wo die Vögelns singen und wo so viel Bäumens stehen, daß man mannichmal kein Luft kriegen kann!“

„Wo liegt der Wald und wer holt Dir die Tannenzweige?“

Wir waren dem Tischler doch näher gerückt und sahen ihn gespannt an; er aber zuckte die Achseln „Ja, das möcht Ihr wohl wissen! Das sag’ ich abersten nich – ne, das sag’ ich nich!“

Auf diese Art umgab Meister Ahrens seine Bäume mit dem Nimbus des Geheimnisvollen und dadurch gewannen sie plötzlich in unseren Augen.

Es war bereits ziemlich nahe vor Weihnachten und wir sprachen eigentlich von nichts anderem als von dem bevorstehenden Feste. Endlos lange Wunschzettel waren geschrieben; hin und wieder wurde eine Thräne über eine völlig mißglückte Weihnachtsarbeit vergossen, oder wir schmiedeten Pläne, was wir noch verschenken wollten. Manchmal ging die Zeit entsetzlich langsam und manchmal unheimlich schnell dahin und unsere Lehrer beklagten sich über unsere Zerstreutheit.

Es war an einem Morgen im Dezember, daß ich zu Meister Ahrens geschickt wurde, um ihn samt seinem Leimtopf zu uns einzuladen. Unsere Kinderstubeneinrichtung hatte durch eine längere lebhafte Unterhaltung der älteren Brüder stark gelitten und Ahrens sollte gleich kommen. Vergnügt polterte ich die enge Treppe zu seiner Werkstatt hinauf, konnte aber nicht bis auf die letzte Stufe kommen, weil dort ein Kind stand, auf das der alte Tischler eifrig einsprach.

„Ich muß die Zweigens haben und Vater muß herüber und sie holen!“

„Vater is bang!“ lautete die schüchterne Erwiderung.

„I, was sollt Vater woll bang sein; er muß los – sonsten klag’ ich ihm ein, wo er mich doch Geld schuldig is! Ohne die Zweigens kann ich ja nix machen und das Geschäft mit die Bäumens muß anfangen! Nu geh Du man und laß Vater man auch gehen!“

Das Kind, es war ein ziemlich großes Mädchen, glitt an mir vorüber und ich konnte jetzt in die Werkstatt treten und meine Bestellung ausrichten. Aber Meister Ahrens hörte kaum auf mich. Er war sehr schlechter Laune und betrachtete seufzend seinen Haufen grüner Stöcke, der friedlich in einer Ecke lag.

„Kannst Du keine Zweige aus dem großen Wald kriegen?“ fragte ich neugierig. Er aber sah mich strenge an.

„Frag nich so dumm! Ich kann allens, was ich will, und meine Tannenbäumens sind besser als die natürlichen!“

Als ich wieder nach draußen kam, da saß dasselbe Mädchen, das vorhin mit Ahrens gesprochen hatte, auf der Thürschwelle. Sie weinte nicht, aber sie sah aus, als wenn sie wohl Lust dazu hätte, und ich setzte mich neben sie und betrachtete sie schweigend. Sie war sehr ärmlich, doch ziemlich sauber gekleidet, nur ihr dickes blondes Haar hing unordentlich um ihren Kopf. An diesem Haar erkannte ich sie und daher nickte ich ihr freundlich zu.

„Du hast mir neulich mein Lesebuch nachgebracht, als ich aus der Stunde kam, weißt Du noch? Ich hatte es auf dem Wege verloren!“

Sie nickte jetzt auf und ihre Augen blickten weniger trübe.

„Das war so ’n feines Buch,“ sagte sie, „mit Bildern ein, – so ’n feines Buch!“

„Hast Du kein Lesebuch?“ erkundigte ich mich, während ich mit einiger Beschämung daran dachte, daß ich dieses Buch schon zweimal hinter einen Schrank geworfen hatte; nur, um es nie wieder zu sehen. Leider war es immer wieder gefunden worden.

Sie schüttelte den Kopf. „Ne – ich hab’ nix, gar nix!“

„Was wünschest Du Dir denn zu Weihnachten?“

„Ich?“ das Mädchen sah überrascht auf. Dann lachte sie. „Was sollt’ ich mich woll wünschen; ich krieg’ doch nix!“

„Du bekommst gar nichts?“

Unwillkürlich rückte ich der Sprecherin näher. „Bist Du dann am Weihnachten nicht furchtbar traurig?“

„Ne“ – sie lachte wieder. „Was sollt’ ich woll traurig sein, wo ich den ganzen Abend rumlauf und in all die Fensters guck’ und all die Weihnachtsbäumens zu sehen krieg’! Männichmal krieg’ ich auch noch ein Stück Brot mit Rosinens geschenkt!“

„Weihnachtsabend darf man eigentlich nicht ausgehen!“ sagte ich. „Da muß man zu Hause bei seinen Eltern bleiben!“

[834]

„Ja, wenn Vater man nich sitzt, denn bleib’ ich auch bei ihm; abers er is nu ja ümmerlos im Loch – da sitz’ ich ja ganz allein, wo Mutter doch tot is –“

„Er sitzt im Gefängnis?“

Wenn es angegangen wäre, hätte ich mich noch näher an meine neue Bekanntschaft gedrückt. Wir saßen aber schon ganz nahe aneinander geschmiegt. Aber um ihr doch zu zeigen, wie interessant sie mir sei, griff ich in die Tasche, in der sich einige getrocknete Pflaumen befanden, und bot sie ihr an. Dörthe Krieger, so hieß das Mädchen, nahm sie auch und verzehrte sie mit einiger Gier, während ich ihr zusah. Ich hatte nämlich gerade aus dem vorhin erwähnten Lesebuch mir eine wunderhübsche Geschichte von einem unschuldig Gefangenen vorlesen lassen und nahm jetzt an, daß die Gefängnisse nur dazu da waren, um Unschuldige zu quälen.

„Dein Vater hat doch natürlich nichts Böses gethan?“ fragte ich und Dörthe schüttelte den Kopf.

„Ne – natürlich nich! Bloß ein büschen Stehlen. Weiter gar nix. Der Bürmeister is auch zu eigen. Awers nach die Tannenzweigen in Holstein will er doch nicht hin!“

„Stiehlt er die auch?“

„Ja, wo sollt er sonstens zu sie kommen? Sie sitzen an ein Baum und der Baum gehört ein Grafen zu, der furchtbar slecht is und nich leiden kann, wenn man in sein Wald spazieren geht. Vater sagt, der Wald is so groß und da laufen Rehe und Hasen herum – da merkt kein ein, wenn ein Baum fehlt und wenn da ein Reh weniger is. Hast mal Rehbraten gegessen? Der schmeckt abers fein! Vater soll Dich ein Stück abgeben, wenn er wieder mal ’was mitbringt! Na, abers er will diesmal nich gern hin. Die Försters haben ihn so gräslich auf’n Strich und wenn sie ihn kriegen, denn sperren sie ihn gleich ein und – denk’ Dich mal! – er muß jedesmal länger sitzen!“

„Dann darf er doch nicht in den großen Wald gehen!“ rief ich aufstehend. Mir war, ich weiß nicht weshalb, doch etwas unheimlich zu Mute geworden.

„Meister Ahrens will es aber und wir wohnen in seinem Haus!“ Dörthe war gleichfalls aufgestanden und wischte sich an den Augen herum. „Er sagt, Vater muß allens ein büschen vorsichtig machen und er braucht nicht gleich ein Reh zu nehmen. Abers, wenn es nu da herumläuft?“

Auf diese Frage wußte ich auch keine Antwort; aber ich konnte es Dörthe nachfühlen, daß sie ihren Vater nicht gerade zu Weihnachten im Gefängnis haben wollte. Ich mußte ihr plötzlich noch versprechen, keinem Menschen etwas von unserer Unterhaltung zu erzählen und dann trennten wir uns.

Jürgen wußte schon nach einer Viertelstunde die ganze Geschichte und es war nur gut, daß ich sie ihm erzählte. Denn ich hatte etwas sehr Tadelnswertes begangen, was ich keinem erwachsenen Menschen mitteilen durfte. Von niemand würde ich etwas zu Weihnachten bekommen, wenn man erführe, daß ich mit Dörthe Krieger gesprochen hatte.

„Ihr Vater ist ein Dieb und zwar ein ganz gemeiner!“ berichtete Jürgen. „Rasmussen (unseres Großvaters Schreiber) hat mir gerade neulich davon erzählt! Denke Dir, er stiehlt nicht einmal Geld, was doch das Feinste beim Stehlen ist – er nimmt meistens nur Würste und Schinken. Und er sitzt eigentlich immer im Gefängnis!“

Dörthe hatte mir diese betrübende Eigenschaft ihres Vaters ja auch berichtet.

„Sie will nur so ungern, daß er Weihnachten sitzt,“ meinte ich; „sie ist dann ganz allein und hat niemand, dem sie ihren Weihnachtsvers aufsagen kann! Sie bekommt überhaupt gar nichts zu Weihnachten!“

„Gar nichts?“ Jürgens tugendstrenges Gesicht wurde etwas milder. Aber er wußte doch keinen besseren Rat, als daß ich gar nicht mehr an Dörthe Krieger denken und noch weniger mit ihr sprechen sollte. Besonders nicht vor Weihnachten. Denn wenn die erwachsenen Familienmitglieder merkten, welchen schlechten Umgang ich hätte, dann würde es schlimm um meine Geschenkaussichten aussehen.

Jürgen konnte manchmal sehr eindringlich sprechen und da ihm wirklich in letzter Zeit verschiedentlich Standreden darüber gehalten waren, daß er in seinem Verkehr wählerischer sein sollte, so wußte er genau, was er sagen sollte, und ich hörte ihm andächtig zu. Dörthe Krieger war mir selbst doch auch etwas bedenklich vorgekommen und sie hatte meine Pflaumen wohl aufgegessen, sich aber gar nicht dafür bedankt. Das zeugte doch von einem schlechten Herzen. Als ich daher nach etlichen Tagen Dörthe wieder begegnete und sie mir mit einer gewisseu Vertraulichkeit zunickte, versuchte ich, sie gar nicht anzusehen. Als sie aber vorüber war, mußte ich indessen doch stehen bleiben und mich umsehen, und da sie dasselbe that, blickten wir uns gerade in die Augen.

Sie lachte; ich jedoch wurde sehr entrüstet.

„Du darfst Dich nicht nach mir umsehen – Dein Vater ist ein ganz gemeiner Dieb und ich will gar nicht mit Dir sprechen!“

Dörthe schüttelte ihren struppigen Kopf und lachte wieder.

„Ne, sprechen mußt auch nich mit mich! Die Kinder in die Schule wollen auch nich bei mich sitzen. Ehegestern hab’ ich ganzen allein auf ’n Bank gesessen – das war fein!“

„Magst Du gern allein sitzen?“

Ich war dem Kinde des Diebes nun doch näher getreten und sah neugierig in ihr unbekümmertes Gesicht.

„Nu natürlich mag ich es! Da sitzt kein ein bei mich und kneift mir, oder schubbst mir — das is fein!“

„Ist Dein Vater schon im Wald gewesen?“ fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Ne – er hat ein slimmes Knie gehabt und konnt’ nich fort. Ahrens war doll, kann ich Dich sagen, und er will uns aus ’n Haus schmeißen, wenn Vater nich bald Ernst macht. For meinswegen kann Vater auch hingehen; wenn er man bloß nich wieder Weihnachten sitzen muß!“

[835] Sie seufzte ein wenig und sah in den grauen Himmel über uns.

„Ich weiß, wie allens kommt!“ fuhr sie dann fort. „Vater geht in den Wald und will bloß die Zweigens abslagen und denn sieht er ein Reh und denn slachtet er das. Und denn kommt die Pollerzei und all die slechten Menschens und denn sitzt er Weihnachten in ’n Loch!“

„Hast Du einen Weihnachtsvers für ihn gelernt?“ fragte ich; sie beachtete aber meine Worte nicht.

„Wenn es Ostern wär’, oder Pfingsten, denn wär’ es mich einerlei; da is es nich mehr so dunkel und die andern Kinners snacken nich mehr so viel von Weihnachtsbäumens und von Aufsagen, abers nu –“

Dörthe wischte sich die Augen und ich sah sie ratlos an.

„Hast Du Deinem Vater nicht gesagt, er solle bei Dir bleiben?“

„Nu, ganz gewiß! Abers Ahrens wird bös, wenn er die Zweigens nich kriegt. Zwei Jahr haben wir die Miete nich bezahlt, weil daß Vater immer so in Rückstand war!“

„Dann mußt Du den lieben Gott bitten, daß Dein Vater kein Reh tot macht, wenn er in den Wald geht!“ riet ich und Dörthe wandte sich nachdenklich zu mir hin.

„Das kann angehen! Ich will ihm bitten, daß die Rehens vordem alle tot bleiben oder von den Grafen geslachtet werden. – For die Zweigens kriegt er ja bloß wenig Gefängnis!“

Sie lief weiter und mir fiel ein, daß ich nicht mit ihr hatte sprechen wollen. Gottlob hatte mich aber niemand gesehen, und da außerdem andere Gedanken mein Herz erfüllten, so vergaß ich diese Unterredung so bald, daß ich sie nicht einmal Jürgen mitteilte. Es waren nämlich nur noch acht Tage bis Weihnachten und die prickelnde, sonderbare Unruhe kam über uns, die jedes Kind kennt. Wir mochten nicht mehr sehr lange auf einem Stuhl sitzen und am liebsten liefen wir auf der Straße herum und besahen die bescheidenen Weihnachtsausstellungen unseres Städtchens.

Außerdem empfanden wir noch die Sorge über das Ausbleiben unseres Tannenbaumes. Der sollte mit dem Schiffer kommen, der um die Weihnachtszeit mit seiner Jacht nach Lübeck fuhr und die herrlichsten Sachen mitbrachte. Aber bis dahin war Schiffer Lafrenz noch nicht in unseren Hafen eingelaufen. Das kam daher, weil der Wind die ganze Zeit „konträr“ gewesen war, wie uns die Sachverständigen sagten, aber diese Erklärung beunruhigte uns, anstatt uns zu beruhigen. Wir kannten Geschichten von Leuten, die drei Wochen auf der Ostsee bei „konträrem“ Winde gekreuzt hatten ohne ihr Reiseziel zu erreichen, und die dann schließlich wieder unverrichteter Sache nach Hause gefahren waren. Erlebt hatten wir solche Sachen nicht, aber man hatte uns so oft die Abenteuer einer Seereise in alten Zeiten berichtet, daß wir das Schiff mit unserem Tannenbaum schon im Geiste bei Finnland im Eise eingefroren sahen. Die großen Leute suchten uns die Befürchtungen auszureden; wir aber fühlten uns doch verpflichtet, jeden Tag an unseren kleinen Hafen zu laufen und dort Erkundigungen nach „Anna Kathrin“ einzuziehen. So hieß die Jacht vom Schiffer Lafrenz und es war ein schönes Schiff, nur daß sie sehr schaukelte, selbst wenn es gar nicht nötig schien.

Am Sonntag vor Weihnachtabend war köstliches Wetter. Gerade so, als wenn die Sonne sich einbildete, Weihnachten überschlagen zu können. Sie schien wie im Frühjahr, und als wir am Vormittag aus der Kirche kamen, da beschlossen wir, sofort wieder nach dem Hafen zu gehen und uns nach der „Anna Kathrin“ zu erkundigen.

Als wir am Hause von Meister Ahrens vorübergingen, da stand dieser vor der Thür und hielt einen Tannenbaum in der Hand. Es war natürlich ein falscher und seine Zweige waren gar nicht mehr frisch.

„Wo hast Du die Zweige her, Meister Ahrens?“ fragten wir. „Das ist kein schöner Tannenbaum geworden!“

Der Tischler antwortete nicht viel, sondern murmelte nur einige verdrießliche Worte, worauf einer der älteren Brüder berichtete, daß das Geschäft mit den Tannenzweigen auch dieses Jahr flau sein sollte. Da wäre niemand mit guten Tannenzweigen an die Insel gekommen und auch die falschen Tannen sollten teuer sein. Wir andern seufzten ein wenig bei dieser Erzählung und dann strebten wir eilig dem Hafen zu, um uns nach der „Anna Kathrin“ die Augen auszuschauen. Aber alles Lugen half nichts – die dickbauchige Jacht schaukelte weder am Bollwerk, noch war ihr geflicktes Segel irgendwo am Horizont zu erblicken.

Nachdem diese Thatsache festgestellt war, verließen die älteren Brüder uns, um einen Freund zu besuchen, dessen Onkel im Besitz eines Fernrohres war, und das dazu dienen sollte, die „Anna Kathrin“ etwas schneller herbeizusehen. Wir Kleineren gingen etwas schwermütig an den Strand und suchten uns dadurch aufzuheitern, daß wir flache Steine ins Wasser warfen. Bei dieser Gelegenheit entdeckten wir ein Boot, das an einen etwas abseits stehenden Pfahl angekettet war. Beide Ruderpatten lagen darin und dieser Umstand schien uns so verlockend, daß wir sofort hineinkletterten und zu rudern begannen.

Das Boot war außerordentlich schlecht, die Sitze morsch und die Bretter des Fahrzeuges schienen kaum noch zusammenzuhalten. Wir schaukelten aber sehr vergnügt darin und Jürgen sagte, er könne rudern und nach Holstein fahren, dessen Küste am Horizont dunkel auftauchte. Er konnte es natürlich nicht und, während wir uns um die Ruder zankten, glitt das eine ihm aus der Hand und fiel ins Wasser.

Vergnügt schwamm es davon, während wir ihm ziemlich dumm nachblickten, und als Jürgen mit dem andern Ruder den Flüchtling wieder zu erwischen dachte, ging diese Stange ihm auch aus der Hand.

Ein kräftiger Fluch ertönte vom Lande her und ein Mann in großen Wasserstiefeln zog nicht allein unser Boot ans Land, sondern trat mitten ins Wasser, um die eine Stange wieder zu greifen. [836] Das gelang ihm; aber die andere schwamm schon zu weit fort und er sah uns drohend an.

„Ihr dummes Volk! Was habt Ihr in meinem Boot zu thun! Heraus mit Euch, sonst werfe ich Euch alle ins Wasser! Und wo ist meine Ruderstange?“

Er sprach fremder und ganz anders wie die meisten Insulauer, so daß wir schon deswegen einen großen Schreck vor ihm bekamen. Aber als Jürgen mir zuflüsterte, dieser Mann wäre Jobst Krieger, der Dieb, der so oft im Gefängnis gesessen hatte, da erwachte in mir der Trotz der Selbstgerechtigkeit.

„Zu sagen hast Du uns nämlich gar nichts!“ bemerkte ich, während ich doch ziemlich schnell aus dem Boot sprang.

„Weshalb nicht?“ Der Mann, dessen Gesicht uns übrigens keinen abschreckenden Eindruck machte, sah mich fragend an.

„Du bist ja ein Dieb, ein ganz schlechter Mensch!“ versetzte ich und Jürgen, der gleichfalls wieder auf festem Boden stand, nickte zu jedem meiner Worte.

„Du darfst gar nicht mit uns sprechen,“ bemerkte er nun. „Du sitzest ja immerlos im Loch!“

Auf Jobst Kriegers Gesicht lag der Ausdruck ungläubigen Staunens, dann aber wurde er plötzlich sehr rot.

„Was geht’s Euch an, wenn ich im Gefängnis war? Darin haben schon fixe Kerle gesessen, kann ich Euch sagen! Und überhaupt –“ er sah uns langsam nach der Reihe an – „ich kenn’ Euch gut! Wie oft lauft Ihr zu dem alten Mahlmann, der sein Leben lang im Zuchthaus war!“

„Zuchthaus ist feiner als Gefängnis,“ erklärte Jürgen; „viel feiner! Ich habe ’mal mit Mahlmann darüber gesprochen und der hat es mir auch gesagt. So oft wie Du im Gefängnis, ist Mahlmann auch nicht im Zuchthaus gewesen!“

„Nein, er nahm gleich ein gutes Ende auf einmal!“ sagte Jobst Krieger und dabei lachte er.

Er sah wirklich gar nicht so übel aus und sein Zorn über das verlorene Ruder schien auch verraucht.

Mit schwerem Schritt stieg er nun ins Boot und begann die Kette zu lösen.

„Wohin fährst Du?“ fragte Bruder Milo, der sich bis jetzt nicht an der Unterhaltung beteiligt und den Dieb nur unverwandt angesehen hatte.

Jobst gab keine Antwort; mir aber fiel Dörthe wieder ein, während mir natürlich nicht in den Sinn kam, daß ich ihr Schweigen gelobt hatte.

„Er fährt in den großen Wald,“ rief ich laut, „wo die Rehe und die Hasen frei herumlaufen. Da schlägt er die Tannenbäume entzwei und fängt die Rehe, und dann kommt der böse Graf und nimmt ihn gefangen! Und Dörthe muß wieder Weihnachtsabend auf der Straße herumlaufen, weil ihr Vater im Gefängnis sitzt!“

„Dummes Zeug!“ sagte Jobst. Er hatte mit einer Kelle Wasser aus dem Boot geschöpft, nun hielt er doch inne mit seiner Arbeit.

„Dummes Zeug ist es gar nicht!“ rief ich empört. „Dörthe sagt, wenn Du nur Ostern oder Pfingsten stehlen wolltest, dann wäre es ihr einerlei; aber gerade Weihnachten! Da darf man doch eigentlich nicht stehlen!“

„Nein, eigentlich nicht!“ meinte Jürgen, und Milo nickte gleichfalls.

„Da kommt ja das Christkind auf die Erde, und wenn es Dich nun im Gefängnis findet, dann bekommst Du nichts geschenkt. Nur artige Menschen bekommen etwas!“

„Ich kriege doch nichts geschenkt!“ murmelte Jobst. Er hatte uns bis dahin zugehört, nun griff er wieder zu seiner Schöpfkelle.

„Doch –“ sagte Jürgen. „Wenn Du Weihnachten nicht im Gefängnis sitzest, dann schenke ich Dir etwas. Ich habe einen Kasten geklebt; er ist sehr hübsch und ich wollte ihn eigentlich selbst behalten. Wenn Du aber gut sein willst, dann bekommst Du ihn!“

„Und ich mache Dir einen Fingerring aus schwarzen Glasperlen!“ rief Milo, der in Perlenvergeudung Unglaubliches leistete. „Oder willst Du lieber einen blauen Ring mit einer Goldperle in der Mitte? Goldperlen sind furchtbar teuer, aber ich will es doch thun!“

„Dann gebe ich auch Dörthe mein altes Lesebuch!“ setzte ich hinzu und trat dabei Jobst Krieger etwas näher. Er hatte sich nämlich ins Boot gesetzt und sah uns ganz sonderbar an. Wahrscheinlich fand er die ihm gemachten Anerbietungen zu überwältigend, um gleich darauf eingehen zu können.

„Sieh ’mal,“ setzte ich vertraulich hinzu. „Laß Dörthe doch das Lesebuch bekommen! Da sind hübsche Bilder darin, und wenn die andern Kinder die sehen, dann wollen sie auch wieder bei Dörthe sitzen. Nun wollen sie es nicht, weil Du so viel im Gefängnis sitzen mußt! – Sie sitzt immer ganz allein und Weihnachten ist sie auch allein. Ich sagte ihr, sie sollte den lieben Gott bitten, daß Du Weihnachten bei ihr wärest; aber sie hat es wohl vergessen. Der liebe Gott thut sonst alles, um was man ihn ordentlich bittet!“

Jobst Krieger legte plötzlich wieder die Bootkette um den Pfahl und trat ans Land. Er sah beunruhigt und etwas mürrisch aus, und als Jürgen ihm noch einmal seinen schönen Kasten pries, antwortete er nur durch ein unverständliches Knurren.

Auch trat jetzt ein anderer Mann auf ihn zu, der eben erst von der Stadt hergekommen war. Der sah nicht so gut aus wie Jobst, und seine Augen fuhren scheu über uns hin, während er leise mit Jobst sprach. Jürgen und ich gingen voran, während Milo noch eine Weile in der Nähe der Männer blieb und erst später uns nachgelaufen kam.

„Ich habe gehört, was sie sprachen,“ erzählte er. „Ich sammelte Steine und war ganz nahe bei ihnen. Der andere Mann heißt Lorenz und wollte mit Jobst Krieger und dem Boot nach dem großen Walde fahren. Jobst aber sagte, er hätte keine Lust, sie wollten bis morgen warten. Er müßte sich noch besinnen. Da wurde der andere Mann böse und sagte, er führe nicht am Montag, das sei ein Unglückstag; er führe am Sonntag und er wolle nicht auf Jobst warten! Da haben sie sich gescholten und nun ist Jobst Krieger zurück gegangen und der andere ist im Boote!“

Jetzt kamen die andern Brüder. Aber sie waren, weil sie [838] selbst durch das Fernglas nichts von der „Anna Kathrin“ gesehen hatten, so niedergeschlagen, daß wir ganz vergaßen, ihnen unsere Unterhaltung zu berichten.

Aber am Abend sprachen wir doch noch von Jobst Krieger und meinten, es sei ganz überflüssig, uns auf Geschenke für ihn einzurichten. Milo aber fing dennoch einen Ring aus blauen Glasperlen an, der wirklich sehr schön wurde.

In der Nacht kam plötzlich ein furchtbares Wetter. Die Dezembersonne war trügerisch gewesen. Der Wind sprang um, Regen schlug an die Scheiben und die Dachpfannen prasselten auf die Straße. Am andern Morgen wurde es wieder ziemlich still, und die Brüder liefen gleich an den Hafen, um nach der „Anna Kathrin“ zu sehen, die dann auch wirklich einlief. Etwas beschädigt zwar, denn es war auf See ein Heidenwetter gewesen; aber die „Anna Kathrin“ konnte schon einen Puff vertragen.

Obgleich der Tannenbaum nun wirklich in Sicht war, so konnten wir uns nicht so recht über ihn freuen. Denn Schiffer Lafrenz von der „Anna Kathrin“ war einem umgeschlagenen Boote unweit vom Hafen begegnet, das er mit seinen scharfen Schifferaugen sofort erkannte. Es gehörte einem Mann, der Lorenz hieß und der gerade so übel berüchtigt war wie Jobst Krieger.

Am Hafen hatten die Leute gewußt, daß Jobst und Lorenz in diesem Boot am Sonntag eine Fahrt hatten machen wollen – einige Leute wollten sie auch zusammen gesehen haben. Nun hatte das Wetter sie auf offener See überrascht und sie waren ertrunken.

Es war eine traurige Geschichte, die gar nicht für die Weihnachtszeit paßte; aber wir mußten lange darüber sprechen. Es that uns so leid, daß Jobst doch gefahren war, und besonders Milo konnte es gar nicht begreifen. Lorenz mußte ihn doch schließlich überredet haben.

Großvaters Schreiber, Rasmus Rasmussen, war nicht so traurig wie wir. Er sagte, Jobst würde doch im Zuchthause geendet haben, weil er das Stehlen nicht hätte lassen können. Tannenzweige aus dem Walde zu holen, sei ja schließlich kein Verbrechen, aber Jobst hätte die schönsten Tannen auseinander geschlagen, ohne auch nur einen Menschen zu fragen. Meister Ahrens habe einen guten Lieferanten an ihm gehabt, und deshalb seien seine Tannenbäume immer so schön gewesen. Dann hätte Jobst auch noch Hasen und Rehe in Schlingen gefangen, und wenn er bei einer fremden, wohlgefüllten Speisekammer vorübergekommen wäre, dann hätte er tief hineingelangt.

Es war gewiß ein Glück, daß Jobst tot war, wie Rasmus meinte, aber wir waren doch so betrübt, daß wir eine Weile unser Weihnachtsfest ganz vergaßen. Dann schämten wir uns auch noch, daß wir um einen ganz gewöhnlichen Dieb weinten.

Das thaten wir nämlich. Trotz seiner entsetzlichen Schlechtigkeit hatten wir Jobst sehr gern leiden mögen, obgleich wir es keinem Menschen verraten wollten.

Plötzlich fiel mir Dörthe ein. Was würde sie wohl dazu sagen, daß ihr Vater ertrunken wäre? Den ganzen Tag mußte ich an sie denken, und Jürgen und Milo sprachen auch von ihr. Nun war sie immer allein; nicht nur Weihnachten – nein, auch Ostern und Pfingsten – das ganze Leben hindurch.

In unserem Hause wurden gerade Kuchen gebacken; das war eine angenehme Zerstreuung; aber als es dämmerig wurde, lief ich doch zu Dörthe Krieger, deren Wohnung ich jetzt ganz gut kannte, obgleich ich sie nie betreten hatte. Jürgen lief mit und wir hatten Mama ein Paket Kuchen für die arme Dörthe abgebettelt.

In dem kleinen, sehr verfallenen Hause am äußersten Ende der Stadt brannte schon Licht, und als wir ohne weiteres in die Hausthür und dann in die kleine ärmlich eingerichtete Stube stürzten, prallten wir erschrocken zurück. Denn auf einem Holzschemel, von einem Talglicht beleuchtet, saß Jobst Krieger. Er hatte Besuch. Vor ihm stand Meister Ahrens, der heftig auf ihn einsprach, aber wir beachteten den alten Tischler nicht. Wir liefen auf Jobst zu und betrachteten ihn aufgeregt.

„Wie?“ rief Jürgen; „Du bist nicht tot?“

Seine Stimme klang vorwurfsvoll und auch ich konnte mich einer leichten Verstimmung nicht enthalten. Wenn man einmal jemand als tot beweint hat, dann muß er auch nicht gleich wieder auferstehen! Jobst Krieger sah uns ebenfalls etwas verlegen an. „Lorenz ist allein gefahren,“ sagte er nun. „Ich wollte ja nicht, ich –“ er stockte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Du hast Glück gehabt, Jobst Krieger,“ bemerkte Meister Ahrens. „Wenn Du mit Lorenz gefahren wärst, dann lägst Du nu tot in die See! Er war auch ein slechten Kerl, der Dir zu allens verführt hat! Morgen fährst nu for mir nach’n Festland und holst mich die Zweigens, sonsten sollst mich kennenlernen!“

Aber Jobst schüttelte den Kopf.

„Nein, Meister Ahrens – ich fahr’ nicht mehr nach den Tannenzweigen. Wenn ich in den Wald komme –“ er atmete kurz auf – „dann laß ich’s doch nicht – dann greif’ ich nach andern Dingen, die mir nicht gehören, und dann sitzt die Dörthe Weihnachten allein! Und jetzt – wo Gott mich vorm Tode bewahrt hat –“ er stockte und sah uns an. Wir nickten ihm zu. Allmählich hatten wir die Enttäuschung, daß er noch lebte, überwunden. Meister Ahrens aber rang die Hände.

„Du liebe Zeit! Nu krieg ich kein ordentlichen Tannenbäumens, wo das Geschäft gerade flott gehen soll. Und Du wohnst in meinem Haus und thust nich, was ich will? Nu mußt zu Neujahr ausziehen!“

Wir hatten Meister Ahrens niemals so böse gesehen und unser Interesse wandte sich ihm ungeteilt zu.

„Fahre doch selbst in den Wald und hole die Zweige!“ rief Jürgen; aber der Alte sah ihn böse an.

„Da konnt ich doch bei zu Schaden kommen!“ murrte er und mein Bruder trat ganz nahe auf ihn zu.

„Meister Ahrens, Du hast mir neulich noch gesagt, die Hauptsache im Leben wäre ein gutes Herz. Du hast doch auch ein gutes Herz?“

„Ganzen gewißlich!“ versicherte der Alte mit etwas unsicherer Stimme. „Abers die Tannenbäumens müssen doch Zweigens haben, sonsten sind es keine Tannenbäumens, und wenn Jobst Krieger mich nich Zweigens holen will –“

„Er will doch kein Dieb mehr sein!“ rief Jürgen. „Laß ihn in Ruhe und gehe zu Schiffer Lafrenz auf der ‚Anna Kathrin‘. Der hat auch eine ganze Menge von Tannenzweigen mitgebracht, die Brüder haben’s gesehen!“

„Is wahr?“ Ahrens’ ärgerliches Gesicht wurde etwas milder, dann lief er plötzlich davon, ohne Lebewohl zu sagen. Wir entbehrten ihn auch nicht. Wir hatten unsere Kuchen ausgepackt und da wir Jobst Krieger verziehen [838] hatten, daß er noch nicht tot war, so durfte er sie probieren. Jürgen und ich sagten ihm auch unsere Weihnachtslieder auf. Der Uebung halber und auch deswegen, weil sie uns immer im Kopf herumspukten, und wir waren eigentlich etwas beleidigt, daß Jobst uns gar nicht lobte. Er saß ganz still und hatte beide Hände vor sein Gesicht gelegt. So still war er, daß, als wir nacheinander das „Amen“ von unsern Verslein gesprochen hatten, es uns etwas unheimlich zu werden anfing. Aber da kam Dörthe ins Stübchen gestürzt und ihre Ueberraschung, uns zu sehen, war so groß und das Vergnügen über die Kuchen noch so viel größer, daß wir ungemein heiter wurden und ganz vergaßen, daß wir mit Jobst Krieger eigentlich gar nicht sprechen durften.

Er selbst erinnerte uns daran. Er stand plötzlich auf und sagte, daß er uns nach Hause bringen wolle – unsere Eltern würden gewiß nicht wollen, daß wir so lange bei ihm blieben. Wir sahen die Richtigkeit dieser Worte ein, und als wir neben ihm auf der dunklen Straße gingen, stieß Jürgen plötzlich einen schweren Seufzer aus.

„Jobst, wie furchtbar schade ist es doch, daß Du ein so schlechter Mensch bist! Ich mag Dich gern leiden – viel lieber als einige Leute, die niemals im Gefängnis waren!“

„Ich auch!“ versicherte ich und Jobst stand still und legte ganz leise seine Hände auf unsere Haare.

„Mir ist’s auch leid genug,“ murmelte er; aber was er noch hinzusetzte, konnten wir nicht verstehen – seine Stimme war ganz heiser geworden. Dann war er plötzlich in der Dunkelheit verschwunden und wir mußten den Rest des Heimweges allein zurücklegen.

Das war nun nicht so schlimm; wir waren nicht ängstlich und hatten außerdem eine Fülle von Unterhaltungsstoff, der auch nicht ausging, als wir den Andern von Jobst Krieger und von dem Umstande, daß er noch lebe, berichteten. Wir wollten ihm alles mögliche zu Weihnacht schenken, alte Anzüge von Papa, die uns nicht gehörten, Eßwaren, über die wir gleichfalls keine Verfügung hatten, und vor allem einen Katechismus, damit er die zehn Gebote noch einmal durchlerne.

Aber es kam anders. Als wir am Tage vor Weihnachten Jobst Krieger und seine Tochter feierlich zu uns einladen wollten, erfuhren wir, daß beide in der Nacht vorher verschwunden waren. Sie hatten ihre armselige Habe zurückgelassen und die Insel verlassen. Sie kamen auch nicht wieder, obgleich wir das ganze Weihnachtsfest auf sie warteten, und niemand konnte uns sagen, wohin sie gegangen waren.

Dieses plötzliche Verschwinden betrübte uns außerordentlich, und wir trösteten uns nur allmählich mit dem Gedanken, daß uns jetzt kein Mensch verbieten konnte, an Jobst und Dörthe zu denken und von ihnen zu sprechen. Unser Weihnachtsabend war trotz alledem sehr schön und wir schenkten die für Jobst bestimmten Sachen anderen Leuten, die es auch nötig hatten.

Nur Meister Ahrens feierte kein fröhliches Weihnachtsfest. Erstens waren seine falschen Tannenbäume lange nicht so hübsch wie sonst, obgleich er Zweige bekommen hatte, und dann fiel es den Leuten ein, daß er doch vielleicht den Jobst oft zu hart bedrängt und ihn schon mehrere Jahre hindurch veranlaßt hatte, in den Wald zu gehen und zu stehlen. Ob er nun wirklich Schuld daran hatte, war schwer zu sagen; jedenfalls ging er kümmerlich gebeugt einher und klagte über die schlechten Zeiten und die schlechten Menschen.

Mehrere Weihnachtsfeste waren vergangen. Meister Ahrens machte immer noch falsche, recht häßliche Tannenbäume und wir selbst sprachen noch manchmal von Jobst. Zuerst hatten wir uns ausgedacht, daß er wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei und als reicher Mann zurückkehren würde. Dann trüge Dörthe seidene Kleider und er würde uns allen etwas Wundervolles zu Weihnachten schenken. Wir stritten uns auch darüber, ob wir lieber eine goldene Mundtasse oder einen goldenen Teller haben wollten; allmählich aber vergaßen wir doch, über Jobst zu sprechen, bis wir an einem Weihnachtsabend ein sonderbares Paket mit der Post bekamen.

Es trug Jürgens, Milos und meinen Namen und kam aus einem Orte, von dem die großen Leute sagten, daß er in Ost- oder Westpreußen läge. Dieses Paket enthielt ein sauber geschnitztes kleines Boot, das mit frischen Christrosen angefüllt und in köstliche Tannenzweige verpackt war. Dabei lag ein Zettel, auf dem mit ungeübter Hand die Worte geschrieben waren: „Und hat ein Blümlein bracht, mitten im kalten Winter.“ Da wußten wir, daß diese Sendung von Jobst Krieger kam, und wir freuten uns außerordentlich über sie. Besonders darüber, daß er von den Weihnachtsliedern, die wir ihm aufgesagt, etwas behalten hatte. Denn, wer auch nur ein wenig von seinen Weihnachtsliedern im Gedächtnis behält, der kann doch ganz gewiß kein ganz schlechter Mensch sein.

Meister Ahrens sagte dasselbe. Er hatte mit derselben Post eine Geldsumme bekommen, die, wie er fest glaubte, von Jobst Krieger kam, weil er ihm gerade so viel Geld schuldig gewesen war.

„Eigentlich hast Du das Geld nicht verdient!“ sagte Jürgen, der dem alten Tischler die Behandlung von Jobst nicht recht vergessen konnte.

Dieser fuhr sich über den kahlen Kopf und seufzte.

„Nee, eigentlich nich! Abersten, wenn ich nu die Hälfte an die Armens gebe und wenn es mich sowieso all die Jahrens leid gethan hat, daß ich nich nett gegen den Jobst war? Ich habe sonsten warraftigen Gott ein furchtbar gutes Herz – bloß bei die Tannenbäumens, da bin ich eigen mit gewesen, weil es so’n gutes Geschäft war!“

Ahrens richtete wirklich eine Weihnachtsbescherung für eine arme Familie aus, und seit der Zeit sprach er noch mehr als sonst von seinem guten Herzen. Sonderbarerweise waren es die Kinder dieser Familie, die nicht bei Dörthe Krieger in der Schule hatten sitzen wollen. Das war aber lange vergessen, und der von Ahrens verfertigte falsche Tannenbaum warf auch über sie seinen weihnachtlichen Schein und ihre Freude war echt.

Denn das Christkind in seiner Milde fragt nicht nach den Verdiensten und Schwachheiten der armen Erdenkinder. Sonst müßte es aufhören, alle Jahre wieder zu kommen.