Textdaten
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Autor: Ernst Lenbach
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Titel: Die drei Vereinsbrüder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44–45, S. 752–755, 764–766
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die drei Vereinsbrüder.

Eine Erzählung von Ernst Lenbach. 0 Illustriert von Fritz Bergen.

In einer mittelgroßen, etwas abgelegenen Stadt Westdeutschlands bestand bis vor wenigen Jahren ein Verein, welcher seines Namens wie seines Wesens halber in seiner Blüthezeit zu den Merkwürdigkeiten des Landes zählte. Die altangesessenen „guten“ Familien gehörten ihm fast ausnahmslos an, und für die nicht eben häufigen Zuzügler galt die Aufnahme in diesen Verein als eine Art zweites Bürgerrecht, nicht minder ehrenvoll denn das erste und jedenfalls schwerer zu erlangen. Seiner Zweckbestimmung nach war es nur ein ganz gewöhnlicher Verein von Bürgern zu geselligen und gemeinnützigen Zwecken, und seine geschriebenen Satzungen hätten in guter Druckschrift kaum einen Bogen gefüllt. Neben diesen aber gab es noch ein ungeschriebenes Gesetz, und nach ihm regelte sich Jahrzehnte lang das gesammte öffentliche und gesellige Leben nicht bloß unter den Vereinsgliedern, sondern in der ganzen Stadt. Die Hüter dieses ungeschriebenen Stadtbuches waren eine Anzahl einsichtiger Männer von gutem Vermögen und heiterer Festigkeit des Gemüthes, und als Hüterinnen standen ihnen ihre Hausfrauen zur Seite, soweit jene Männer nämlich beweibt waren; es gab aber damals noch nicht so viel Junggesellen unter den vollwüchsigen Bürgern. Streitigkeiten des Bekenntnisses und der politischen Parteimeinungen gab es nicht innerhalb des Vereins, weil in beidem jeder dem anderen volle Freiheit ließ, nur nicht die Freiheit der Unduldsamkeit. In schweren Zeiten half man einander nach gewissenhafter Selbsteinschätzung und ohne viel Lärm um etwas zu machen, das für selbstverständlich galt, in guten Jahren und zu festlichen Zeiten gab man sich der Freude und sogar einem landesüblichen derben Wohlleben hin; wenn dabei je nach den Mitteln sogar ein gewisser Luxus entfaltet wurde, so war es immer doch ein behäbiger solider Luxus, der fest auf seiner Grundlage bleibt und nicht über die Kante weggleitet. Alles in allem war es ein recht behagliches Dasein in diesem Vereine, und die Familienfeste, die er an schönen Sommertagen in seinem großen Garten mit dem kleinen, rebenumrankten Wirthshaus und dem weiten luftigen Tanzsaale dahinter abhielt, wurden von den Nachbarstädten aus immer beachtet, zuweilen als altfränkisch verspottet, aber stets sehr gerne besucht.

Der Verein führte den stolzen Namen „Der Königsbund“, und den verdankte er seiner Entstehung, denn er war vom König selber gestiftet worden. Es hatte sich nämlich in den ersten Jahren nach den großen Befreiungskriegen ereignet, daß die ganze Bürgerschaft durch eine geringfügige Ursache in zwei Parteien gespalten wurde, die sich in der politischen Stille des beginnenden Weltfriedens aufs bitterste befehdeten. Da sich beide Parteien in Gemeinderath und Bürgerschaft genau die Wage hielten, so war kein Ende des Streites abzusehen, den man mit ererbter Lebhaftigkeit und eine gute Weile auch nicht ohne Behagen weiter führte. Als der König kam, um auch diese neuerworbene Stadt seines Reiches zum ersten Male das Antlitz des Herrschers sehen zu lassen, fand er statt eines Empfanges ihrer zwei: Triumphbogen, Sängerchor, weißgekleidete Jungfrauen, alles war doppelt vorhanden, und der zweite Bürgermeister hatte sich eine Rede einstudiert, welche diejenige des ersten noch an Länge und rednerischem Schmuck übertraf. Der gütige Landesvater ließ sich den Fall erklären, und seinem Ansehen und freundlichen Zureden gelang es, den Hader zu schlichten. Er vereinte beide Parteien in einer, friedlichen Zwecken geweihten Gesellschaft und verließ seine treue Stadt als Stifter des „Königsbundes“, in dem berechtigten Bewußtsein, ein gutes Werk gethan zu haben.

Der Verein bestand nun sechs Jahrzehnte fort und überdauerte manche stürmevolle Zeit, ohne in seinen Grundfesten erschüttert zu werden. Aber gefährlicher als die Stürme erwiesen sich allgemach die sanften Winde, welche von der Welt draußen hereinwehten und allerlei neue Entwickelungskeime heimlich mit sich trugen. Die Eisenbahn, die Industrie, der Aufschwung des Handels und des Unterrichts brachten neue Bestandtheile in die Bevölkerung und erweckten neue, ungewohnte Neigungen in den Herzen der Alteingesessenen, sonderlich unter dem jüngeren Geschlecht. Das behäbige Wesen von früher wurde bereits nicht mehr bloß von den Fremden als altfränkisch empfunden, mehr und mehr hörte der „Königsbund“ auf, der begehrte Mittelpunkt und Maßstab geselligen Vollbürgerthums zu sein, man zog sich von ihm zurück, man empfand das Bedürfniß nach „neuen Formen“, und auf dem so bereiteten Nährboden entwickelten sich nun mit einem Male zahlreiche neue Vereinsbacillen. Mit einer wunderbaren Schnelligkeit schoß ein Verein neben dem andern, ja zuweilen schon gegen den andern empor. Es schien, als wäre die gute Stadt von einer wahren Vereinssucht ergriffen, wie man wohl liest, daß im Mittelalter eine ganze Gemeinde von der Tanzsucht befallen wurde, als wollte sie jetzt mit einem Male alles nachholen, was sie auf diesem wichtigen Gebiete der neuzeitlichen Bildung bisher sträflich versäumt hatte.

Da bildeten sich Vereinigungen aller Art und zu allen Zwecken: zum Singen, zum Turnen, zum Kegelschieben; zum Sammeln von Cigarrenabschnitten, von Briefmarken, von Parteigeldern und von Beiträgen für sonstige Zwecke; einige dienten der Wohlthätigkeit, viele dem Vergnügen, und mehrere suchten den einen Zweck durch den anderen zu erreichen. Auch allerlei hübsche Erinnerungen wurden gemeinsam in eigens dazu gestifteten Vereinen erneut; es gab eine solche Menge Vereine von „Ehemaligen“, daß sogar die Findigkeit der Post daran zu scheitern drohte und zuweilen ein Brief an den Präsidenten Müller vom Verein ehemaliger Holzhändler gerieth, während er doch an Herrn Müller, Ehrenpräsidenten der ehemaligen lateinlosen Bürgerschüler, gerichtet war. Kurzum es gab eine Unmenge von Vereinen, von nützlichen und überflüssigen; alle aber hatten das mit einander gemeinsam, daß jeder alsbald für seine Mitglieder zum alleinigen Centrum des geselligen Lebens wurde, während er doch nur den Punkt abgeben sollte, in dem sich die verschiedenen Lebenskreise schnitten.

Abseits von all diesem Treiben bestand der „Königsbund“ noch fort, doch es war nur ein [754] Scheindasein, welches er führte. Wenige Familien fanden sich noch zu seinen Festen zusammen, und diese Feste nahmen nachgerade das Wesen von jenen Schmäusen an, die man in dortiger Gegend zum Angedenken an Verstorbene zu halten pflegt. Der „Königsbund“ war nicht mehr zeitgemäß, das empfanden auch die wenigen Treugebliebenen, und sie mußten sich mit dem Gedanken befreunden, das alte Wappenschild in zwölfter Stunde mit Ehren zu zerbrechen, ehe es unter dem Ruß der industriellen Neuzeit verschwand.

Unter diesen Treuen waren besonders drei Freunde, denen das Verhängniß schwer zu Herzen ging: der Justizrath und Notar Königs, der Rentner und frühere Apotheker Schmitz und der Thierarzt Vollmer. Der Justizrath war unbeweibt, dafür aber fast ein Mitglied in den Familien seiner beiden Freunde; die Familien standen von jeher in freundnachbarlichem Verkehr, und es war so ziemlich ausgemacht, daß der junge Dr. Heinrich Vollmer, welcher demnächst als Arzt die heilende Praxis seines Vaters nach der menschlichen Seite hin ergänzen wollte, und das hübsche blondlockige Gretchen Schmitz die Freundschaft bald noch durch ein eheliches Bündniß befestigen sollten. Alle diese zarten Verhältnisse, ja die Freundschaft der drei alten Herren selbst und die Stiftung der beiden Familien hatten sich vom „Königsbunde“ aus gebildet, er war die gesellige Heimath dieser wackeren und warmherzigen Menschen, und so erklärte sich vollauf der Kummer, mit welchem sie das Hinsiechen des alten bewährten Vereines verfolgten. Der Justizrath suchte die Sache mehr in seiner stillen zurückhaltenden Art mit entschuldigender Resignation hinzunehwen, die beiden anderen aber waren erregter und nahmen kein Blatt vor den Mund, wenn die Rede wieder auf eine neue Gründung in dem weiten Gebiete des Vereinslebens kam. Mit einem gewissen Behagen des Aergers vertieften sie sich in das Meer dieser Zeiterscheinungen und ließen so leicht keine neue Stiftung unbesprochen.

Dabei erwies es sich nun aber ganz allmählich, daß auch sie nicht ungestraft unter den Palmen gewandelt waren. Anfänglich unvermerkt, keimte in der Brust des Thierarztes wie des Apothekers eine verbotene Neigung auf. Da sie so lange alle Vereine außer ihrem „Königsbunde“, auch die nützlichsten, verachtet und geschmäht hatten, so rächte sich der Genius des Vereinswesens dadurch, daß er jeden für eine ganz absonderliche Spielart begeisterte; und zwar vertieften sich beide in etwas, das ihrem Wesen möglichst entgegengesetzt war. Der derbe Thierarzt, dessen blondhäuptige Riesengestalt jedem altdeutschen Kriegslager Ehre gemacht hätte, fing an, die Bestrebungen des „Philanthropischen Friedensvereines, Ortsgruppe Nr. XXIII“, mit beifälligen Blicken zu verfolgen, während der sanfte, etwas schüchterne Apotheker in aufgeregten Träumen sich schon auf dem Bärenfell, das Trinkhorn in der Hand, zu sehen glaubte; denn seine stille Liebe war der „Hainbund Walhalla“ – von Haus aus eine ganz harmlose Zechgesellschaft, welche mit allerlei altdeutschen halbverstandenen Namen und Bräuchen ihrem durstigen Thun eine „ideale Weihe“ zu geben suchte.

Anfangs, als die verschiedenen Neigungen noch winzig waren und nur erst so mit dem Köpfchen verschämt aus dem Herzensboden heraus lugten, wäre es vielleicht einer verständigen und festen Freundeshand noch gelungen, die üble Saat rechtzeitig auszurupfen. Da aber beide Freunde vor einander ein böses Gewissen hatten, so überging jeder mit ängstlicher Schonung die Neigung des andern, ohne inzwischen an der Lächerlichkeit derselben oder an der Vortrefflichkeit des eigenen heimlichen Ideals irre zu werden. Und so mußte denn das Unheil seinen Lauf nehmen.

An einem trüben Dezemberabend saß eine kleine Schar meist bejahrter Bürger beisammen in einem größeren Gasthofzimmer. Es war der Vorstand des „Königsbundes“, welcher sich hier versammelt hatte, um die einstweilige Aufhebung des alten Vereins zu beschließen. Der Justizrath führte den Vorsitz; über ihm an der Wand hing eine improvisierte Papptafel mit dem Vereinswappen, das Bild des hochseligen Königs in der Mitte. Nach einigen kummer- und würdevollen Reden war der Beschluß gefaßt: das Vermögen des Bundes wurde einer sicheren Stätte überwiesen, die Zinsen zu wohlthätigen Zwecken bestimmt, während man den Vereinsgarten dem bisherigen Oekonomen weiter in Pacht ließ, der dort eine gedeihliche Sommerwirthschaft zu führen hoffte. Wie das Grabgeläute der alten Stiftung klangen zwischen den Reden dumpfer Lärm, Gläserklirren und Reden von links und rechts herein. Die Menge der neuentstandenen Vereine übertraf schon fast das Angebot von verfügbaren Räumen, und so waren auch die beiden Nachbarsäle an zwei Gesellschaften vergeben, die heute abend gleichzeitig tagten und um die Wette lärmten. Die eine war die Ortsgruppe des „Philanthropischen Friedensvereins“, die andere der „Hainbund Walhalla“. Man schien auf beiden Seiten schon in ziemlich lebhafter Stimmung zu sein. Ab und zu verfehlte ein Friedensbruder oder ein Walhallagenosse den Ausgang aus seinem Wigwam und öffnete statt der betreffenden Gangthür geräuschvoll die Thür zu dem Mittelzimmer, um mit einem verlegenen „Pardon!“ wieder zu verschwinden. Unter diesen beengenden Umständen hatte die letzte Sitzung des „Königsbundes“ schnell ihr Ende erreicht, und zuletzt saßen nur noch die drei Freunde unter dem Wappenschilde beisammen, um einander bei einer Flasche Rauenthaler ihr Herz auszuschütten. Während der Justizrath versuchte, die Lage mit einem gewissen Galgenhumor von der heiteren Seite zu fassen, quollen die beiden anderen über von ingrimmigen Betrachtungen über das Vereinsunwesen, wobei doch wieder bei jedem unter dem Unmuth das Schlänglein der eigenen Neigung verrätherisch hervorzüngelte. Nun hatte sie aber der Verdruß des Abends unverträglicher denn sonst gemacht, und so kam es, daß sie zum ersten Male die stillschweigend vereinbarte Schonung verletzten und ihre Steckenpferde gegen einander antrieben; erst in gutmüthigem und gleichsam scherzhaftem Spiele, dann immer schärfer und zuletzt in schonungslosem schneidigen Turnier. Worte flogen hin und her, bissig und ätzend, wie es zu geschehen pflegt, wenn ältere und ernste Männer einmal in Leidenschaft gerathen. Der Justizrath suchte umsonst zu vermitteln. Immer heftiger und persönlicher wurde der Streit, und endlich sprang der Thierarzt in heller Wuth auf, schlug mit der geballten Faust auf den Tisch und rief: „Zank’ und trink’ Du weiter, mit wem Du magst, ich hab’s längst satt, es ist Zeit, daß man in eine andere Gesellschaft kommt – adjes, Königs, ich geh’ zu den Friedensfreunden!“ Sprach’s und verschwand mit dröhnendem Schritt hinter der Thür zur rechten Hand. Der Apotheker, der auch aufgesprungen war und schon ein scharfes Wort zur Erwiderung auf den Lippen hatte, starrte einen Augenblick auf die Pforte, hinter welcher sein Gegner verschwunden war, dann lachte er höhnisch und rief seinerseits: „Mit Dir wär’ ich freilich fertig – und jetzt geh’ ich in die Walhalla!“ Und mit einem flüchtigen Abschiedswort an den Justizrath zog er eilends durch die Thür nach links ab.

In wortloser Bestürzung blieb der Dritte allein zurück. Aus den beiden Zimmern klang ein verworrenes Durcheinanderreden und Gläserklingen herein; die neuen Genossen wurden beiderseits feierlich begrüßt. Der Justizrath trank seinen letzten Rest aus und erhob sich zum Weggehen. Da fiel hinter ihm rasselnd etwas zu Boden. Es war das Interimsschild des „Königsbundes“. Der Nagel, an dem es gehangen, mochte von einem eilfertigen Kellner nur lose eingeschlagen gewesen sein, und von dem Lärm und Gestrampel nebenan war er vollends aus der Wand geglitten. Nun lag das Schild am Boden, verkrümmt und bestaubt, durch [755] die Mitte zog sich ein breiter Riß. Der Justizrath hob es kopfschüttelnd auf, trug es sorgsam in eine Ecke und stellte es dort gegen die Wand. Dann nahm er Hut und Stock und verließ in tiefen Gedanken das Wirthshaus, um daheim unter der Obhut seiner sorgsamen Haushälterin die stille Häuslichkeit zu genießen, auf welche er als Nichtvereinsmensch ja ein gewisses Anrecht hatte.

Es begann nun eine schlimme Zeit für die Familien Schmitz und Vollmer. Die beiden einst so eng verbundenen Freunde hatten ein für alle Mal gründlich mit einander gebrochen, und es schien, als ob sie am liebsten den Bruch ohne weiteres auch auf ihre Familien ausdehnen wollten. Da sich dies nun doch aus mancherlei Rücksichten nicht so ganz durchführen ließ, so thaten sie wenigstens ihr Möglichstes, um ihren Frauen und erwachsenen Kindern den Verkehr nach Kräften zu erschweren und unschmackhaft zu machen.

Von der Verlobung zwischen Heinrich Vollmer und Gretchen Schmitz durfte überhaupt nicht mehr die Rede sein. Es war ein Glück, daß der junge Doktor wenigstens zur Zeit auf einer Vertretungsstelle abwesend war und daß so ein häßlicher Zusammenstoß zwischen Vater und Sohn vermieden wurde. Die beiden Hausväter waren aber um so hartherziger, je mehr sie sich bewußt waren, durch ihre neuen geistigen Errungenschaften den sittlichen Werth ihrer Familien zu heben. Der Rentner und frühere Apotheker, oder wie er sich jetzt nannte: „Geldzüchter, früher Niederlagerer“ Schmitz hatte vordem viel Freude an den Namen seiner drei Kinder gehabt: jetzt machte der fünfzehnjährige Stammhalter Philipp noch einmal eine verspätete Bekanntschaft mit der strafenden Hand des Vaters, weil er sich hartnäckig weigerte, auf seinen Schreibheften und Büchern das „Philipp“ in „Roßhart“ zu verwandeln. Die siebzehnjährige Klara weinte verstohlene Thränen über den Namen Perchta, mit welchem der sonst so liebevolle Vater sie erst zu einer Deutschen gemacht zu haben behauptete, während der Wildfang Gretchen bei allem Liebeskummer doch wieder lachen mußte, wenn der Vater sie einem anderen Edeling oder gar einem Freigrafen mit den Worten vorstellte: „Meine älteste Tochter Perle!“ Es gab nämlich drei Rangstufen unter den Walhallagenossen: Freigrafen, Edelinge und Freilinge. Hauptsächlich unterschieden sie sich dadurch, daß die Edelinge mehr bezahlten und vielfach auch mehr tranken als die Freilinge, während die Freigrafen am meisten tranken, aber am wenigsten bezahlten; sie waren die Macher des Ganzen, und wenigstens bei ihnen hatte der ganze Mummenschanz einen begreiflichen Grund. Der Apotheker war ohne weiteres als Edeling aufgenommen worden, mit dem besonderen Beinamen „Krautamund“. Der Name gefiel ihm recht wohl, und wenn er daheim nach dem Mahle allein in seiner Gelaghalle auf der Bärenhaut lag, d. h. wenn er nach Tisch im Eßzimmer sich aufs Sofa gestreckt hatte, so streichelte er mit der Hand wohl ein paar Mal zufrieden über seine Weste und sprach recht nachdrucksvoll vor sich hin: „Krautamund! Edeling Krautamund!“

Unterdeß aber saßen Frau und Töchter in der „Kemenate“ beieinander und erwogen, wie solcher Narretei wohl abzuhelfen sei. Freilich fehlte ihnen der bekannte Trost in allem Unglück nicht; denn Frau Vollmer und ihre Tochter Gertrud hatten fast noch mehr zu klagen, so schwer hatten sie unter der Friedensbegeisterung ihres Herrn zu leiden. Alle die schönen Stahlstiche von berühmten Siegern und Siegen unseres Volkes, mit denen sein patriotischer Sinn einst die Zimmer des Hauses geschmückt, mußten jetzt als „unsittlich“ und „verrohend“ auf den Speicher wandern. Eine köstliche Schachtel voll Bleisoldaten hatte Frau Vollmer eben angekauft, um sie ihrem achtjährigen Schwestersohne zum Geburtstag zu schenken, der Thierarzt aber warf dieses „barbarische Spielzeug“ in den Ofen, wo das geschmolzene Zinn den ganzen Rost verstopfte, und schickte dem Knaben dafür fünfzehn kleine Abhandlungen des Vorsitzenden des internationalen Friedensbundes, Mynheer Sebulon van der Putten. Daran sollte sich der Knabe allmählich zu einem ordentlichen Friedensfreunde heranlesen, sein Vater war jedoch barbarisch genug, die schönen Traktate als Fidibusstoff zu verwenden, und die Familienbeziehungen gestalteten sich seitdem bedeutend weniger friedlich. Mit dem Vornamen seiner Tochter war Herr Vollmer auch nicht mehr recht zufrieden, er fand ihn zu kriegerisch und versteifte sich darauf, seine Gertrud in eine Emma zu verwandeln. Das Schlimmste aber war, daß die allwöchentlichen Erörterungen der Friedensfreunde eben jetzt infolge einer Fehde zwischen dem Centralverein in Deventer und der Ortsgruppe in Honduras über Statutenänderung stets sehr erregt, folglich auch sehr lang und feucht ausfielen und dem vollblütigen Thierarzte jedesmal einen Kater bereiteten, in welchem er dann über die Maßen reizbar und unfriedlich war.

[764] In solcher Noth verfielen endlich die Frauen auf einen sonderbaren Ausweg, d. h. eigentlich ging der Gedanke von dem kleinen Gretchen aus, dessen natürliche Schlauheit durch den Liebeskummer noch wesentlich geschärft war. Sie beschlossen nämlich, ihrerseits auch einmal eine Sitzung abzuhalten, in welcher alle Betheiligten außer den beiden Hausherren „zur Lage Stellung nehmen“ sollten. Zu diesem Ende versammelte man sich an einem Winternachmittage, während Walhallabend und Friedensverein ihre Getreuen in außerordentlichen Sitzungen festhielten, bei dem Justizrath Königs zu einem großen Kaffee und Kriegsrath. Außer den fünf Damen und dem Justizrath waren noch zugegen der junge Doktor Vollmer, welcher sich vor wenigen Tagen wieder eingefunden hatte und zum Segen des Familienfriedens, durch die Anfänge seiner Praxis zumeist draußen in der Vorstadt festgehalten wurde, sowie zwei andere jüngere Herren, wohlbegüterte Bürger von durchaus gutem Ruf und Aussehen. Worauf sich ihre Theilnahme an diesem Familienrathe begründete, konnte jeder merken, der nur fünf Minuten lang beobachtete, welche Blicke zwischen ihnen und den beiden „noch zu habenden“ Haustöchtern hin- und herflogen. Gerade ihnen hatte der Justizrath die wichtigste Rolle in seinem Kriegsplane zugedacht. Es erwies sich nämlich alsbald, daß der alte Herr – sein Pathenkind Gretchen hatte ihn nicht umsonst instruiert – die eigentliche Feldherrnstelle einnahm, während die beiden älteren Damen kaum über wortreiche Klagen und vielfach umschriebene „Was nun?“ hinauskamen. Der Justizrath ließ sie sich eine Weile aussprechen, dann klappte er bedächtig ein paar Mal die silberne Dose auf und zu und sagte: „Meine Damen, was Sie da alles erzählen, mag ja betrübend im einzelnen Falle sein, im ganzen aber scheint es mir eher erfreulich. Denn es beweist, daß die lieben Steckenpferdchen schon sehr scharf geritten werden; und scharf, möglichst scharf muß so ein unartiger Gaul geritten werden, damit er um so eher lahm wird und wieder hübsch ins Ställchen kommt. Wir haben also nichts weiter zu thun, als diesen natürlichen Prozeß wohlwollend zu unterstützen und derweilen Geduld zu haben, Geduld allesammt – auch Du, lieber Heinrich! Also mein Plan wäre der –“ und nun entwickelte er seinen Plan, welchen er denn auch mit sieghafter Beredsamkeit gegen alle weiblichen Bedenken und ungeduldigen Einwürfe des jungen Arztes bei der dritten Kanne Kaffee zur einstimmigen Annahme brachte.

Die nächste Folge dieses Kriegsrathes war, daß die beiden oben genannten „jüngeren Herren“ noch am selbigen Tage der eine in den „Hainbund Walhalla“, der andere in den „Internationalen Friedensverein, Ortsgruppe XXIII“ eintraten. Natürlich wurden sie als wohlbegüterte und angesehene Leute mit offenen Armen empfangen; sie erwiesen sich aber auch alsbald als rührige Mitglieder von einem unermüdlichen Eifer für die verschiedenen „guten Sachen“. Nach wenigen Wochen zeigte es sich, daß man von ihrem Eintritte geradezu eine „neue Aera“ für die Walhallagenossen und die Friedensbrüder herschreiben konnte. Was man vordem in den beiden seltsamen Vereinen getrieben, erschien nur als der bläßliche Morgenschimmer des leuchtenden Tages, der nunmehr erst emporstieg. Mochte es früher einem spottsüchtigen Beobachter vorgekommen sein, als ob doch hier und da etwas Kinderei mit im Spiele sei, so hätte jetzt Ben Akiba selbst vergebens in seiner Erinnerung nach Vorbildern gesucht für alle die Seltsamkeiten, welche jeden Samstagabend in den beiden Vereinssälen unter einem Wirthshausdach aufstiegen, sich überschlugen und durcheinander purzelten wie bezechte Heinzelmännchen. Es war aber keineswegs nöthig, daß die beiden Urheber dieser „schärferen Tonart“ auch fernerhin dabei mitwirkten. Sie brauchten nur anzufangen. Nach ein paar kühnen Vorturnerleistungen konnten sie ruhig mit verschränkten Armen zusehen, wie die freigewordene Vereinsbegeisterung sich in selbsterfundenen Clownstückchen überbot. Dem Justizrath aber wurde über alles getreulich Bericht erstattet; die ganze Entwicklungsgeschichte der „Walhalla“ und des „Friedensvereins“ vom Eintritt seiner jungen Sendboten an lag offen vor ihm.

Er hatte freilich wohl gewußt, was er that, als er damals im Kriegsrathe dem versammelten Volk vor allem „Geduld“ anempfahl; denn eine ganze Weile lang machten die beiden alten Herren den Aufschwung ihrer Vereine heldenmütig mit und suchten natürlich auch ihre Familien mitzuziehen. Es zeigte sich aber allmählich, daß diese neue Vereinsbegeisterung der beiden ehemaligen Freunde drei Abstufungen durchlief wie die meisten elementaren und menschlichen Sturmerscheinungen. Anfangs machten sie alles voller Ehrlichkeit mit, waren ganz Feuer und Flamme und trachteten ehrgeizig danach, daß sie nicht von Jüngeren an Entschiedenheit und Eifer übertroffen würden. Dann kam eine Zeit, wo ihnen dies und jenes nachgerade doch zu bunt wurde, auch wohl in ihren Herzen eine unüberhörbare Stimme immer öfter und dringender von der guten alten Zeit zu raunen begann; sie bezwangen sich aber und stellten sich gerade in solchen Stunden am begeistertsten. Schließlich half auch der Trotz nicht mehr, sie sagten sich und den lieben Vereinsbrüdern gelegentlich über manche Einzelheit offen die Wahrheit, und da man ihnen nicht folgte, wurde es ihnen in jeder Hinsicht ungemüthlich in ihrer Vereinshaut; zu Hause aber ließen sie noch nichts davon merken und mühten sich ganz kläglich ab, nicht aus der Rolle zu fallen, mit der nun einmal ein gutes Stück von ihrer menschlichen Eitelkeit verwachsen war.

Darüber war der Winter vergangen, der Schnee war weggeschmolzen, die Amseln flöteten, im Garten des „Königsbundes“ draußen vor der Stadt blühten die Aprikosenbäume, ein Anblick wie im Paradiese. Dem Justizrath war es, als ob nun auch allgemach das letzte Eis von den Herzen seiner lieben alten Freunde schmelzen müßte. Zeit war es freilich; denn zumal mit der Ungeduld des jungen Doktors war kaum mehr fertig zu werden.

Da geschah es eines Samstagabends, daß der Justizrath sich vor einem Aprilregen in den Gasthof flüchtete – vielleicht war auch der Regen nur ein Vorwand. Während der Kellner ihm seinen Schoppen „Steeger“ brachte, hörte er über sich verworrenes Gehen und allerlei Lärmen. „Ja,“ meinte der Kellner lächelnd, „da oben geht’s heute wieder toll zu. Das ist der Friedensbund, die wollen ja heute wohl beschließen, daß sie sich mit den Vete–Veteranen zusammenthun.“

„Mit was für Herren?“ fragte der Justizrath.

„Na, mit den Leuten, die nur grünes Zeug und Obst essen,“ erklärte der Befragte.

„Ach so,“ lachte der Justizrath, „mit den Vegetarianern. So, so, mit denen wollen sich die da oben zusammenthun. O, das ist ja sehr gut!“

„Ja wohl,“ fuhr der Kellner fort, „und dann wollen sie auch darum einkommen, daß die Stadtsergeanten keine Säbel [765] mehr tragen, sondern nur noch mit freundlichen Worten zureden sollen.“

Den Justizrath litt es nun kaum mehr, da der Lärm über ihm immer lauter wurde. Jetzt glaubte er sogar mit seinem scharfen Gehör deutlich die dröhnende Stimme seines alten Freundes Vollmer herauszuhören. Da ging er hinaus und schlich trotz seiner juristischen Würde wie ein Dieb leise die Treppe hinauf und hinein in den dunklen Zwischensaal, dessen Thür zum Glück nur angelehnt war.

Hier überzeugte er sich denn freilich, daß der Lärm nur etwa zur Hälfte von den Friedensfreunden geliefert wurde, auf der anderen Seite, in Walhalla, herrschte ebenfalls ein starker „Thurst“ und ein offenbar sehr bewegtes „Thing“. Zur Rechten aber schien gegenwärtig in der That der Thierarzt seine Meinung zu sagen, und zwar recht deutlich. Jetzt riß er die Thür auf und rief noch einmal in den Friedenstempel hinein: „So, meine Herren, und wenn Sie sich ’mal unwohl fühlen sollten, für Patienten bin ich immer zu sprechen, im übrigen können Sie mir gütigst gestohlen werden!“

Dann flog die Thür krachend ins Schloß, und der Thierarzt ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf dem nächsten Stuhle nieder, ohne zu ahnen, daß sein Freund Königs aus einer Ecke des dunklen Saales Zeuge seiner kraftvollen Abschiedsworte gewesen war.

Eben wollte der Justizrath den zornentbrannten Friedensfreund anreden, da erhob sich in einer anderen Ecke des Gemaches ein ziemliches Gepolter, mehrere Stühle wurden von einem unvorsichtig vorstürmenden Dritten, der dort wohl bis jetzt still gesessen hatte, übereinander geworfen, und die Stimme des Apothekers Schmitz rief: „Bravo, Vollmer, Heinz, alter Freund, denen hast Du’s ordentlich gegeben! Willst Du nicht auch der Walalla-Brüderschaft da drinnen eine ähnliche Empfehlung übermitteln? Die brauchen’s noch nothwendiger!“

Unterdessen war es dem Sprecher geglückt, mit Aufopferung von zwei weiteren Stühlen Vollmers Standpunkt zu erreichen und seine Hand zu fassen, der Thierarzt aber rief, allen Grolles vergessend:

„Was, alte Seele, bist Du denn auch vernünftig geworden und hast denen da drinnen Valet gesagt?“

„Ach,“ meinte Herr Schmitz, „soll ich etwa morgen mit einem nachgemachten Wolfsfell vom Kürschner Leber als Mantel und einem Eichenkranz auf meiner Glatze draußen nach dem Tannenbusch ziehen, wie sie’s vorhaben?! Nein, was zu toll ist, ist zu toll.“

„Hm,“ machte der Thierarzt nachdenklich, „weißt Du, eigentlich etwas Männliches, ein ordentlicher Kern steckt doch von Haus aus in der Walhallageschichte. Ich habe darüber neuerdings manchmal nachgedacht.“

„Was,“ eiferte der Apotheker, „ordentlicher Kern? Unsinn war’s! Nein, da wär’s doch noch gescheiter, wenn es eben nur möglich wär’, die Menschen friedlicher zu machen.“

„Kinder,“ ließ sich jetzt der Justizrath vernehmen, „nun thut mir den einzigen Gefallen und begeistert Euch nicht noch weiter, sonst geht mir schließlich der eine nach links und der andere nach rechts ab und die Geschichte ist wieder wie vorher, nur umgekehrt! Und nun kommt“ – dabei suchte und fand er nach einiger Mühe auch die Hände der Ueberraschten – „laßt mich Euch und mir herzlich zu dieser Wiederversöhnung gratulieren und auch Euren Familien!“

„Herrgott ja, meine Familie!“ seufzte Herr Schmitz. „Wie bring’ ich’s denen aber bei? Ich bin um meine ganze Geltung daheim – weißt Du, meine Frau –“

„Ach ja,“ seufzte der Thierarzt nun gleichfalls, „und erst die meine! Mensch, Königs, da mußt Du Rath schaffen!“

„Nun gut,“ entschied der Justizrath lachend, „wir wollen sehen, was sich machen läßt. Und nun Kinder, hört meinen Vorschlag: da Ihr Euch beide so ein klein wenig vor dem Heimweg zu fürchten scheint, zieht mit mir auf mein Malepartus, da wollen wir uns bei einem guten Tropfen zusammensetzen, um Raths zu pflegen und wieder wie früher ‚froher Jugendzeit angefrischt zu gedenken‘!“

Das wurde mit Dank und Freude angenommen. Unter dem Schutze der Dunkelheit und des Regens gelangten die drei Freunde unerkannt zu der gemüthlichen Behausung des Justizraths, und nachdem dieser auf seinem Amtszimmer noch einen „kurzen, unaufschiebbaren Brief“ erledigt und durch seinen gescheiten Schreiberjungen fortgesandt, erschien er wieder mit einigen vielversprechenden Flaschen und dem trefflichsten Rauchzeug. Da verbrachten denn die Wiedervereinten einen ganz andern Abend, als die Walhalla und der Friedensbund zu bieten vermochten. Einen befriedigenden Ausweg aber, wie die große Wendung den Familien sogleich ohne Schädigung der hausväterlichen Autorität oder – Eitelkeit beizubringen sei, fand auch der alte Jurist anscheinend nicht. Endlich beschloß man auf seinen Antrag, am morgigen Nachmittag wieder selbdritt zu berathschlagen, und zwar im Gartenhause des „Königsbundes“ da draußen, wo man just an diesem Tage, einst dem herkömmlichen Termin des ersten Frühlingsfestes jener entschwundenen Gesellschaft, einer freundlichen Eingebung wohl gewärtig sein durfte.

Dort fanden sich denn zeitig am folgenden Sonntag Nachmittag die Freunde ein. Bis vor die Stadt waren sie auf verschiedenen Wegen geschlichen; draußen wandelten sie gemeinsam und freuten sich herzlich der erwachenden Frühlingspracht, des vielstimmigen Vögelgezwitschers und der ersten Obstblüthen. Als sie nun aber, von dem klug lächelnden Wirthe begrüßt, die alte Stätte ihrer Freuden betreten hatten und im sogenannten „Königszimmer“, neben dem Familiensaale, vor dem Bilde des hochseligen Stifters standen, da gingen den beiden Versöhnten die Herzen und schier die Augen über. – „Sieh’,“ sagte Herr Vollmer, hier war’s, wo wir damals vor achtundzwanzig Jahren unsere Verlobung feierten, auf einen Tag."

„Ich weiß,“ erwiderte der Apotheker, „’s war just ein Tag wie heute, – Frühlingssonnenschein nach Regen und Sturm.“

„Es war ein schöner Tag,“ murmelte der Thierarzt. „Und alles freute sich mit und stieß an, hier und nebenan im Saale und dahinter im Erkerzimmer. Wo sind sie nun, die da mit uns sich freuten? Nun liegt das alles hier öde und still, bis es von neuen, fremden Leuten belebt wird.“

„Vielleicht doch nicht ganz öde,“ meinte der Justizrath, „mich [766] dünkt, ich höre Stimmen hier nebenan,“ und damit hatte er auch schon die Thür zu dem Saale geöffnet.

Da bot sich ein gar freundliches Bild dar. Um den ländlich reich besetzten Kaffeetisch saßen sie alle beisammen: Frau Vollmer und Frau Schmitz mit ihren Töchtern und Söhnen, strahlend in Glück und fröhlicher Spannung; auch die beiden Freier fehlten nicht.

„Das nenn’ ich eine Ueberraschung!“ rief der lustige Justizrath. „Was sagt ihr dazu, Freunde?“

Der Thierarzt drückte ihm lächelnd die Hand: „Mir scheint, das ist schon mehr eine Ueberlistung! Was soll man dazu sagen, Konrad?“

Aber ehe der Apotheker, an den die letzten Worte gerichtet waren, noch antworten konnte, fühlte er sich schon von den Armen seiner Tochter Gretchen umschlungen und hörte ihre lieben, schmeichelnden Worte, und nun drängten sie sich alle heran, wetteifernd in fröhlichen, liebevollen Begrüßungen, fern von jeder kränkenden oder leichtfertigen Berührung der überwundenen Kümmerniß. Sie war abgethan und vergessen wie ein schwerer Traum.

Das Brautpaar hatte sich von selbst zusammengefunden, es stand inmitten der Eltern, die in seinem lieblichen Anblick sich nun ganz wieder zur alten Gemeinschaft herzinniger Freundschaft vereinten. Da schlug der Justizrath mit dem Löffel an die Tasse und rief: „Nun aber, Kinder, hinüber ins alte, trauliche Erkerzimmer, dort wartet unser ein anderer, würdigerer Trank als des Königswirths Mokka! Es hat Uns nämlich nach Unserer erprobten juristischen Weisheit gefallen, in Voraussicht dieser allgemeinen Zusammenfindung alldorten durch den besagten Königswirth aufstellen zu lassen das edle Getränk, so da heißet die erste Maibowle!“ Und sie zogen paarweise mit Lachen und Scherzen, unter vielfältigen Lobsprüchen auf den weisen Juristen, hinüber in das trauliche Gemach, wo auf dem Tische der köstliche Trank schon bereit stand. Da füllten die Mädchen Glas um Glas, und dann hob der Justizrath an:

„Liebe Frauen und Freunde, laßt mich noch ein kurzes Wort reden, ehe wir uns in diesem ersten Weihetrunk des Frühlings einander Glück und Frieden zutrinken! Wir haben ihn hier oft und gerne gebraut und gekostet, in unserem alten ‚Königsbund‘. Nun ist der ‚Königsbund‘ aufgelöst, er ist tot, sagen die Leute. Aber das ist ja gar nicht wahr. Der Königsbund lebt und webt, er blüht und gedeiht, hier und nicht bloß hier, überall im deutschen Lande. Ueberall, wo sich kluge ehrenfeste Hausväter und freundliche, vorsorgliche Mütter, starke Söhne und blühende Töchter zusammenschließen in dem wundersamen Zauberring der Eltern- und Kindesliebe; wo sich Familie und Familie zusammenfinden in herzlichem, innigem, fröhlichem Vereine und auch einem alten Junggesellen und Onkel ein liebes Plätzchen offen halten, – da blüht und gedeiht er fort und fort. Das deutsche Haus, die deutsche Familie in Zucht und Fröhlichkeit, das ist unser wahrer Königsbund. Ihm lasset uns dieses erste Glas vom heimischen Frühlingstranke weihen!“

Und sie ließen die Gläser zusammenklingen und blickten einander an, die Alten mit erneuter, herzlicher Freundschaft, in inniger Liebe Braut und Bräutigam, und die Freier nebst ihren Auserkorenen mit Blicken verstohlener seliger Hoffnung, die auch von den Eltern bemerkt und freundlich getheilt ward.

Unterdessen zog draußen auf der Landstraße, die zum Tannenwald führte, eine wunderlich vermummte Schar einher. Das waren die „Walhallagenossen“. Sie hatten ihre nagelneuen Wolfsfelle umgehängt, trugen Kränze auf den Köpfen, und etliche schwangen große Trinkhörner in den Händen. Es war aber schon recht warm, und so mußten sie unter dem ungewohnten Oberkleid viel Schweiß vergießen, zumal auch mancher von ihnen schwer an der eigenen Leibeslast zu tragen hatte. Dabei war ihnen im Grunde gar nicht wohl zu Muthe, da sie sich in der harmlosen Frühlingsnatur doch eigentlich recht stilwidrig vorkamen. Weil sie sich nun sehr unbehaglich fühlten und sich selber fast lächerlich zu finden begannen, so lärmten und sangen sie über die Maßen laut. Sogar die kecke Amsel, die am Wege auf einer wilden Kastanie saß, entsetzte sich über das Getöse. Mit einem kurzen, melodischen Gelächter strich sie ab und flog hinüber zum Garten. Da setzte sie sich in den Aprikosenbaum vor dem Erkerzimmer und sang dem neuen Königsbunde ihr schönstes Lied.