Die deutsche Seewarte in Hamburg (Die Gartenlaube 1881)
Die deutsche Seewarte in Hamburg.
Der malerische Höhenzug, welcher die prächtigen Villenanlagen der reichen Hamburger Kaufmannswelt am rechten Elbufer bei Blankenese trägt und über Altona bis nach Hamburg hineinreicht, wird an seinem Südende, dem sogenannten „Stintfang“, von einem monumentalen Gebäude mit vier Eckthürmen gekrönt, dem stolzen neuen Heim der deutschen Seewarte, dem architektonischen Meisterwerke der Hamburger Architekten Kirchenpauer und Philippi. Die feierliche Einweihung dieses großartigen Institutes soll am 14. September dieses Jahres in Kaiser Wilhelm's Gegenwart stattfinden, und an diesem Tage wird auch die Seewarte endgültig die gastfreundliche Stätte verlassen haben, welche ihr seit ihrer Begründung im Jahre 1875 das benachbarte Seemannshaus gewährt hat. Wohl steht es dem verdienstvollen Director der Seewarte, Professor Dr. Neumayer, und seinem Stabe von Gelehrten und Praktikern an, diesen Tag auch für sich als einen Ehrentag zu betrachten, da es ihnen gelungen ist, die Aufgaben des Institutes der Vollendung nahe zu bringen; denn der Name der deutschen Seewarte hat in wissenschaftlichen Kreisen wie auf allen Meeren einen guten Klang, wo immer die deutsche Flagge weht. Für den Laien aber hat das Institut einen täglich in ganzem Umfange empfundenen Werth: es ist uns die größte Wetterprophetin, die uns stets am besten mit Nachrichten über die Witterung des nächstkommenden Tages versieht, da nicht weniger als 80 Procent ihrer täglich ausgegebenen Wetterprognosen eintreffen. Es giebt im ganzen deutschen Reiche vielleicht keine Zeitung und kein Blättchen, die nicht die Wetterberichte der Seewarte ihren Lesern verkündeten. Vermöge seiner sonstigen zahlreichen wissenschaftlichen Publicationen nimmt außerdem dieses Institut einen hohen internationalen Rang unter den ähnlichen Einrichtungen anderer Nationen ein.
Als die „Gartenlaube“ zum ersten Mal (vergl. Nr. 12, 1875) über dieses dem Chef der kaiserlichen Admiralität unterstellte Reichsinstitut Mitteilung machte, hatte dasselbe seine weitgreifende Thätigkeit noch nicht begonnen, und es wurde daher nur in großen Zügen der Arbeitsplan der Anstalt dem Leser angedeutet.
Indem wir heute das Bild der neuen Seewarte nach einer meisterhaft ausgeführten Medaille bringen, welche die Direction zum Tage der Einweihung, dem 14. September 1881, für ihre „Mitarbeiter zur See“ gestiftet hat, geben wir eine kurze Beschreibung der Einrichtung der Innenräume des Gebäudes und ihrer Bestimmung. Das stattliche quadratische Gebäude ist von dem Seemannshause etwa hundertdreißig Meter entfernt und nimmt mit dem dazu gehörenden Terrain den oberen Theil des Stintfanges, welcher sich durchschnittlich dreißig bis zweiunddreißig Meter über den Nullpunkt des Elbpegels erhebt, ein. Die ganze Anlage ist, so weit man dies in der Nähe einer großen Stadt überhaupt beanspruchen kann, zu klimatologischen und wissenschaftlichen Beobachtungen sehr geeignet; denn die Isolirtheit des Stintfanges gewährt genügende Sicherheit für die notwendigen Beobachtungen über die Elemente des Erdmagnetismus, sowie für Compaßuntersuchungen, da größere Eisenmassen in der Umgebung nicht vorhanden sind; sie bietet ferner, Dank ihrer freien Lage, einen günstigen Beobachtungspunkt für die Messung der Windstärke und Windrichtung, sowie eine weite Rundsicht zur Prüfung von Sextanten, endlich aber gestattet die Nähe des Hafens stets den Verkehr der Schifffahrttreibenden mit dem Institute.
Treten wir durch den Haupteingang an der Südwestseite des Gebäudes ein, so überblicken wir vom Erdgeschosse aus fast die ganze innere Anlage. Sämmtliche Räume der drei Stockwerke laufen um einen mittleren quadratischen mit Glas gedeckten Hof und sind mit einander durch Corridore verbunden, die sich wiederum gegen den Hof in Arcaden öffnen. Das Erdgeschoß enthält die Wohnung des Directors Neumayer und die unter dem bekannten Nordpolfahrer, Capitain Koldewey, stehende zweite Abtheilung der Seewarte mit der dazu gehörenden Sammlung von Instrumenten und Modellen. Es ist bekannt, welche Wichtigkeit die nautischen Instrumente für den Schiffer auf hoher See haben, wie er den Compaß nöthig hat, um die Richtung der Fahrt, den Sextanten, um den Stand der Gestirne und dadurch den Ort des Schiffes, Baro- und Thermometer, um die Veränderung des Wetters zu erkennen etc. Da nun schon ein kleiner Fehler des Meßinstrumentes bei den ungeheuren Entfernungen die auf See vorkommen, große Irrthümer über die Lage des Schiffes hervorbringen kann, so hat die zweite Abtheilung der Seewarte die Aufgabe der Beschaffung und Prüfung der nautischen meteorologischen und magnetischen Instrumente übertragen erhalten. Vom ersten Momente an, wo diese Thätigkeit begann, haben die Mechaniker, welche sich mit Anfertigung derartiger Apparate beschäftigt, die Bedeutung der wissenschaftlichen Prüfung erkannt und von Jahr zu Jahr immer mehr davon Gebrauch gemacht. Bis zum Schlusse des Jahres 1879 sind mehr als dreitausend derartige Untersuchungen durch Herrn Koldewey mit Hülfe seiner Assistenten H. Eylert und A. Lauenstein ausgeführt worden.
Eine ganz besondere Thätigkeit entfaltet die Abteilung in Bezug auf die Deviationsbestimmung, das heißt die Untersuchung der Ablenkung, welche die Nadel des Compasses an Bord eiserner Schiffe erfährt. Was die Sammlung von Modellen und Instrumenten betrifft, so ist dieselbe in acht Gruppe geordnet und umfaßt Alles, was zur wissenschaftlichen Schifffahrtskunde in Beziehung sieht. Es ist hier leider nicht der Raum vorhanden, auf die einzelnen Gegenstände einzugehen, deren specielle Instandhaltung dem Mechaniker der Seewarte, Herrn Frank von Liechtenstein, übertragen ist, das Eine darf aber hervorgehoben werden, daß die Beschaffung der Instrumente einen außerordentlichen Aufwand von Arbeit und Erfindungskraft gekostet hat. In erster Linie vertrat hierbei die Direction den Standpunkt, daß sie nach Möglichkeit deutsche Mechaniker und Fabrikanten zur Lieferung heranzog, wie dies überhaupt jetzt unsere staatliche wissenschaftlichen Institute thun, und es kann gar nicht genug betont werden, welchen Aufschwung seitdem die Präcisionsmechanik bei uns genommen hat.
Das erste Stockwerk enthält die Directorialräume und die erste Abtheilung der Seewarte. Zu den erstere gehört unter Anderem ein Conferenzsaal, ein Zimmer für den Meteorologen des Instituts, Dr. W. Köppen, welcher, unabhängig von den einzelnen Abtheilungen, sich wissenschaftlichen Spezialuntersuchungen einschlägiger [608] Art hingiebt und schon eine Reihe werthvoller Abhandlungen publicirt hat, ferner ein Zimmer für die persönlichen Assistenten des Directors, Dr. R. Kleemann etc. Vorsteher der ersten Abteilung ist Capitain Dinklage, seine Assistenten Capitain Haltermann, Capitain Hegemann, der Nordpolfahrer, und Capitain Pust. Der Arbeitskreis dieser Abtheilung umfaßt die maritime Meteorologie, und bedarf die Seewarte hierzu der Unterstützung von Mitarbeitern zur See. Die Schiffsführer, welche sich aus der Handelsmarine hierzu bereit erklären, erhalten die Vortheile der Benutzung aller Einrichtungen der Seewarte unentgeltlich. Ihre Chronometer, Compasse, Sextanten und meteorologischen Instrumente werden geprüft; die Benutzung der Bibliothek und Kartensammlung der Anstalt ist ihnen freigestellt und bereitwilligst wird ihnen schriftlich und mündlich Rath ertheilt über die Ausführung der zu machenden Reisen und in sonstigen nautischer Angelegenheiten. Die Unterstützung, welche die Schiffscapitaine dafür der Seewarte zu leisten verpflichtet sind, besteht nun darin, daß sie alle sechs Stunden während der Fahrt die gemachten Beobachtungen in meteorologische, von der Seewarte ausgegebene Journale eintragen müssen.
Nach Schluß der Reise wird das Beobachtungsmaterial von der ersten Abtheilung systematisch verwerthet und zusammengestellt.
Auch werden an die Mitarbeiter zur See die erforderlichen Instrumente leihweise ausgegeben und solche Capitaine, die sich durch besonderen Eifer in der Förderung der Ziele des Instituts hervortun erhalten eine besondere Prämie. Während bisher als Geschenke für diesen Zweck Uhren, Atlanten, Bücherwecke etc. verwendet wurden, ist die jetzt gestiftete, oben genannte Medaille, welche nach Director Neumayer’s Angaben von dem Medailleur der Hamburger Münze, Herrn Lorenz, ausgeführt wurde, in Gold, Silber oder Bronze nunmehr dazu bestimmt.
Die Verwertung des eingegangenen Materials geschieht nach mehreren Seiten hin, indem auf Grund desselben erstens Publicationen über die Witterungsverhältnisse des Oceans veröffentlicht werden, zweitens aber das sehr großartige Unternehmen der Herausgabe der sogenannten synoptischen Karten ausgeführt wird. Man kann nämlich jedes Schiff auf See für den Moment, wo es Beobachtungen macht, als eine meteorologische Station betrachten und da sich dies für jedes Schiff sehr oft wiederholt, so gewinnt man nach und nach für fast alle Punkte des Oceans eine Menge Material, welches gestattet, aus allen diesen Beobachtungen nachträglich die Witterungsverhältnisse für jeden Tag oder Monat zusammenzustellen und Karten über die Vertheilung des Luftdruckes etc. zu entwerfen. Indem man diese Verhältnisse alsdann später mit den damals auf dem Lande vorherrschenden, die gleichfalls registrirt sind und bekanntlich von einigen Zeitungen sogar täglich als Wetterkarten herausgegeben werden, vergleicht, wird man nach und nach in die Lage versetzt, den Gang der Witterung auf der Erde nachträglich zu verfolgen und die nöthigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Da nun ein einziges Institut diese Riesenarbeit nicht bewältigen kann, so hat in Folge internationaler Vereinbarung die deutsche Seewarte als specielles Arbeitsgebiet einen Theil des Nordatlantischen Oceans übernommen, und zwar denjenigen, welcher sich zwischen dem dreißigsten und fünfzigsten Grad nördlicher Breite erstreckt. Dieses Gebiet wird wieder in Felder von zehn Grad Länge und zehn Grad Breite eingetheilt, und jedes Feld erhält eine besondere Nummer. Beispielsweise führt das Quadrat zwischen vierzig bis fünfzig Grad nördlicher Breite und zehn bis zwanzig Grad westlicher Länge die Bezeichnung: Nummer 146. Ueber dieses „Zehngradfeld 146“ waren bis zum 1. April 1878 nicht weniger als 44,813 Beobachtungssätze von Schiffen eingegangen, welche klimatologisch verarbeitet und publicirt wurden. So wird ein Quadrat nach dem anderen bearbeitet, bis man quer über den Ocean gelangt ist, was etwa sieben bis zehn Jahre dauern wird.
Im zweiter Stockwerk befindet sich die dritte Abtheilung der Seewarte, welcher Dr. von Bebber mit seinen Assistenten Dr. A. Sprung und Capitain C. Felberg vorsteht; hier finden wir auch die Wohnung des Vorstehers, ein Zeichenzimmer, ein Telegraphenzimmer, ein Instrumentenzimmer etc. Die Arbeit dieser Abtheilung umfaßt die Pflege der Witterungskunde, und zwar besonders der Küstenmeteorologie und des Sturmwarnungswesens in Deutschland. Es ist ein weitverzweigter Mechanismus, der hier wirkt und arbeitet. Von allen Seiten strömen hier die telegraphischen Nachrichten zusammen, blitzschnell den Funken mit der Nachricht von den Wetterverhältnissen von Land zu Land, von Ort zu Ort tragend, und, zu einem übersichtlichen Ganzen geordnet, gehen sie von hier an die Häfen und in das Binnenland als Wetterberichte, Wetterkarten und Prognosen, oder sie gehen, wenn es nöthig ist, als Sturmwarnungen an die zahlreichen meteorologischen Stationen und Signalstellen, welche die deutsche Seewarte an den Küsten der Nord- und Ostsee besitzt. Im großen Publicum ist dieser Theil der Thätigkeit der Seewarte bisher am meisten bekannt geworden.
Die vierte Abtheilung der Seewarte, das Chronometer-Prüfungs-Institut, befindet sich nicht im Gebäude selbst, auch nicht auf dem Territorium des Stintfang, sondern vielmehr in einem selbstständigen, gleichfalls von den genannten Architekten erbauten eigenen Hause unmittelbar neben der Hamburger Sternwarte, weil der Director der letzteren George Rümker, gleichzeitig Vorsteher dieser vierten Abtheilung ist. Zweck der Abtheilung ist die Hebung und Förderung der Chronometer – Industrie und die Anfertigung von Correctionen für die Chronometer der Handelsmarine.
Hiermit ist die Zahl der zur deutschen Seewarte gehörenden Gebäude noch nicht erschöpft; sie verfügt noch über ein Compaßobservatorium, das etwa zwanzig Meter von der Südwestfront des Hauptgebäudes entfernt liegt und durch einen unterirdischem Gang mit dem Keller desselben verbunden ist. Auch fungirt in einiger Entfernung von der Nordostfront ein magnetisches Observatorium.
In wenigen Tagen wird nun die deutsche Seewarte unter der erfreulichen Zunahme des Interesses nicht nur des großen Publicums, sondern auch des direct am meisten beteiligten Seemannsstandes in ihre neue Centralstelle unter Beibehaltung ihres bisherigen Arbeitsplanes mit allen Kräften eintreten. Möge es ihr beschieden sein, auch in Zukunft der Mittelpunkt für die Pflege der wissenschaftlichen Nautik und der praktischen Witterungskunde zu bleiben!