Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts
[856] „Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ von Rudolf von Gottschall (Breslau, Trewendt) hat in den letzten zehn Jahren zwei neue Auflagen – die dritte und die vierte – erlebt und ist soeben in der fünften zur Versendung gekommen. Wir begrüßen diese Thatsache als ein erfreuliches Symptom des wachsenden literarhistorischen Interesses in Deutschland, als einen Beweis dafür, daß die Antheilnahme des deutschen Leserpublicums speciell an der zeitgenössischen literarischen Production nach wie vor eine rege und nachhaltige ist und daß gerade die Anschauungen und Ueberzeugungen, für welche das vorliegende bedeutsame Werk eintritt, im literarischen Zeitbewußtsein eine immer breitere Basis gewinnen. Diese Anschauungen und Ueberzeugungen der Gottschall’schen Literaturgeschichte gipfeln bekanntermaßen in zwei Forderungen, in dem Hochhalten des Idealismus und in dem „modernen Princip“ denn fordert Gottschall einerseits aus allen Gebieten des geistigen Schaffens das Ausgehen von idealistischen Gesichtspunkten, so stellt er andererseits dem schaffenden Dichter die Aufgabe aus dem Geiste seiner Zeit heraus zu produciren und alles akademische Experimentiren bei Seite zu lassen. Neben diesen beiden Forderungen, die in so ausgesprochener und überzeugend begründeter Weise kaum in einer anderen Geschichte der Literatur unseres Jahrhunderts zum Ausdruck kommen, ist es besonders eine ungemein geist- und lichtvolle Darstellungsart, welche dieses Werk charakterisirt. Gottschall erweist sich in seiner „Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ ebenso geschickt in der Charakterisirung großer geistiger Strömungen, wie in der Portraitirung der einzelnen Vertreter solcher Strömungen – er ist ebenso glücklich in der scharfsinnigen Interpretirung der Zeit wie in derjenigen ihrer Menschen. Die jüngste Auflage des hervorragenden Werkes bietet dem Leser ein erschöpfendes Bild der Entwickelung unserer Nationalliteratur vom Beginn dieses Jahrhunderts an bis in unsere Tage und zieht – ein nicht hoch genug anzuschlagender Vorzug – auch das wissenschaftliche Leben der Gegenwart, namentlich die philosophische und historische Literatur, in den Kreis seiner Betrachtung, sodaß es mit Recht ein Gesammtgemälde des modernen deutschen Geisteslebens genannt werden kann.