Textdaten
<<< >>>
Autor: unbekannt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die bemalte Haut
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 241–247
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[241]
81. Die bemalte Haut

In Taiyüanfu lebte ein Mann namens Wang. Er ging eines Morgens aus, da traf er ein Mädchen, die trug ein Bündel am Arm und war einsam unterwegs. Sie kam mit ihren kleinen Füßen nur schwer voran. Er beschleunigte den Schritt und holte sie ein. Da war es ein entzückendes Mädchen von etwa sechzehn Jahren.

Sie gefiel ihm recht gut, und so begann er: „Was geht Ihr in dieser frühen Morgenstunde so einsam Euren Weg?“

Das Mädchen sprach: „Fremde können einander nicht ihren Kummer erleichtern. Was bemüht Ihr Euch zu fragen?“

Der junge Mann sprach: „Was habt Ihr für ein Leid? Wenn ich Euch helfen kann, so bin ich gern bereit dazu.“

Das Mädchen antwortete traurig: „Meinen Eltern lag sehr am Geld. Sie verkauften mich als Sklavin an einen reichen Mann. Seine Frau war eifersüchtig, des Morgens schalt sie, und des Abends schlug sie mich. Ich hielts nicht länger aus und lief davon.“

„Und wohin wollt Ihr nun?“

„Verlorene Menschen haben keine Heimat.“

Da sprach der Jüngling: „Mein Haus ist nicht fern von hier. Wollt Ihr Euch hin bemühen und es Euch ansehen?“

Das Mädchen war mit Freuden einverstanden. Der junge Mann nahm ihr das Bündel ab und brachte sie nach Hause.

Das Mädchen sah, daß niemand in dem Zimmer war und fragte: „Habt Ihr denn keine Frau?“

„Das ist nur mein Studierzimmer“, war die Antwort.

„Der Platz ist schön und gut“, sprach das Mädchen. „Wenn Ihr Mitleid mit mir habt und mir das Leben retten wollt, so dürft Ihr niemand etwas sagen, daß ich hier bin.“

Der junge Mann versprach es ihr, und er verbarg sie in dem abgelegenen Zimmer. Tage vergingen, ohne daß jemand [242] etwas davon erfuhr. Schließlich machte er seiner Frau einige Andeutungen. Die hatte Argwohn, daß es eine Sklavin sei aus einem mächtigen Hause und ermahnte ihn, sie fortzutun. Er aber hörte nicht darauf.

Einst ging er auf den Markt. Da traf er einen Priester, der sah ihn an und war erstaunt. Er fragte ihn, wer ihm begegnet sei.

„Niemand“, gab er zur Antwort.

Der Priester sprach: „Ihr seid rings von unheilvollem Hauch umgeben. Was sagt Ihr denn niemand?“

Der junge Mann leugnete nochmals hartnäckig.

Da ging der Priester und sagte: „Seltsam, daß es Menschen auf der Welt gibt, die ihrem Tod entgegengehen und sich nicht zur Besinnung bringen lassen!“

Dem jungen Manne wurmten diese Worte, und das Mädchen kam ihm etwas verdächtig vor. Dann aber wandten sich seine Gedanken: „Sie ist doch klar und deutlich ein hübsches Mädchen. Wie sollte sie mir Unheil bringen! Ich denke, der Priester hat wohl sich durch Beschwörungen ein bißchen Geld erjagen wollen.“

So kam er an das Tor seines Hauses. Es war von innen verriegelt, man konnte nicht hinein. Er fragte sich, wer es wohl getan habe. Dann stieg er über die Mauer. Aber auch die Zimmertür war verschlossen. Da schlich er sich ans Fenster und spähte hinein. Er erblickte einen greulichen Teufel, blaugrün im Gesicht, dem die Zähne wie eine Säge im Maule standen. Der hatte eine Menschenhaut auf dem Bett ausgebreitet und einen Pinsel mit Farbe in der Hand, mit dem er sie bemalte. Als er fertig war, warf er den Pinsel hin, nahm die Haut auf wie ein Kleidungsstück und zog sie an. Da verwandelte er sich in das Mädchen.

Der junge Mann, der diesen Vorgang sah, geriet in große Furcht und kroch auf allen vieren zum Hofe hinaus.

Eiligst suchte er nach dem Priester. Niemand wußte, wo er hingegangen. Er folgte allenthalben seinen Spuren, da [243] traf er ihn endlich auf dem Feld. Er warf sich vor ihm nieder und flehte ihn um Rettung an.

Der Priester sprach: „Wir wollen sie vertreiben. Dieses Wesen ist auch in rechter Not. Eben ist sie im Begriff, einen Stellvertreter zu finden, und ich bringe es nicht über mich, ihr Leben zu verletzen.“

Damit gab er ihm seinen Zauberwedel und befahl, ihn an der Tür des Zimmers aufzuhängen. Beim Abschied bestimmte er ein Wiedersehen im Tempel des grünen Herrn.

Der junge Mann kam heim. Er wagte sich nicht in das Studierzimmer, sondern schlief im innern Zimmer. Den Zauberwedel hängte er auf.

Es mochte wohl um die erste Nachtwache sein, da hörte man vor der Tür ein klirrendes Geräusch. Er selbst getraute sich nicht nachzusehen, sondern schickte seine Frau. Die sah das Mädchen kommen. Als es aber den Wedel erblickte, wagte es nicht einzutreten, sondern blieb stehen und knirschte mit den Zähnen. Es dauerte lang, dann ging es.

Nach einer kleinen Zeit kam es wieder und schalt: „Der Priester will mir bange machen, aber ich laß mir’s nicht gefallen. Lieber will ich ihn erst mal fressen und ihn nachher wieder ausspucken.“

Es nahm den Wedel und zerbrach ihn. Dann schlug es die Tür ein und kam. Geradewegs ging es nach dem Bett des Mannes, riß ihm den Leib auf, packte sein Herz und verschwand.

Die Frau rief der Dienerin. Man machte Licht; aber der Mann war schon tot. Das Blut quoll ihm wild aus der Brust. Die Frau war entsetzt und schluchzte leise. Am andern Morgen schickte sie den Bruder ihres Mannes, um den Priester zu benachrichtigen.

Der Priester war ergrimmt. „Ich habe Mitleid mit ihr gehabt, und nun ist der Teufel von solch einer Frechheit!“ Mit diesen Worten folgte er dem Bruder in das Haus. Das Mädchen war verschwunden. Der Priester hob den Kopf und blickte sich nach allen Seiten um.

[244] „Zum Glück ist sie noch nicht weit“, sprach er. „Wer wohnt denn in dem Südhof?“

Der Bruder sprach: „Es ist meine Wohnung.“

„Dort ist sie jetzt“, sagte der Priester.

Der Bruder war erstaunt; denn er wußte nichts davon.

Der Priester fragte: „Ist nicht jemand Fremdes zu Euch gekommen?“

„Ich war eben im Tempel, um Euch zu suchen, ich weiß es nicht. Ich muß erst gehen und fragen.“

Nach einer Weile kam er zurück: „Richtig ist jemand dort. Heute morgen kam ein altes Weib und suchte eine Stellung als Magd für unsere Diener. Die Leute haben sie behalten, und sie ist noch da.“

„Das ist sie“, sagte der Priester.

Dann ging er mit hinüber, ergriff ein hölzernes Schwert, stellte sich in die Mitte des Hofes und rief: „Teufelsbrut, gib mir meinen Wedel wieder!“

Die Magd im Zimmer wurde aufgeregt und erblaßte. Sie kam zur Tür heraus und wollte entfliehen. Da schlug der Priester nach ihr. Die Magd fiel hin. Die Menschenhaut löste sich spröde von ihr ab, und sie verwandelte sich in einen Teufel, der grunzend wie ein Schwein am Boden sich wälzte. Der Priester schlug ihm mit dem Holzschwert den Kopf ab. Da verwandelte sich die Gestalt in einen dicken Rauch, der in dichten Schwaden am Boden aufwirbelte. Der Priester zog eine Melonenflasche hervor, öffnete sie und stellte sie mitten in den Rauch. Der geriet in wogende Bewegung, und wie man mit dem Mund die Luft einzieht, war im Augenblick der Rauch in der Flasche verschwunden. Der Priester schloß sie wieder und steckte sie in seine Tasche. Alle betrachteten die Menschenhaut: Augenbrauen, Augen, Hände und Füße, alles war vollständig und deutlich vorhanden. Der Priester rollte sie zusammen, und es raschelte, wie wenn man ein Bild aufrollt. Dann steckte er sie auch zu sich und wandte sich zum Gehen.

[245] Die Frau hielt ihn an der Türe auf und bat ihn unter Tränen, ihrem Mann das Leben wiederzugeben. Der Priester entschuldigte sich, das gehe über seine Macht. Die Frau begann noch heftiger zu klagen, warf sich zur Erde und blieb so vor ihm liegen.

Der Priester dachte lange nach, dann sprach er: „Meine Kunst reicht nicht aus, Tote zu erwecken; aber ich will Euch einen Mann sagen, der es vielleicht kann. Wenn Ihr hingeht und ihn bittet, werdet Ihr sicher Erfolg haben.“ Auf die Frage, wer es sei, antwortete er: „Auf dem Markt ist ein Verrückter, der beständig im Kote herumliegt. Ihr könnt einmal versuchen, ihn durch Eure Bitten zu rühren. Wenn er Euch schmäht und mißhandelt, dürft Ihr nicht zornig werden.“ Der Schwager der Frau hatte den Verrückten auch schon gesehen, so verabschiedete sich der Priester denn.

Der Schwager ging mit der Frau zusammen hin. Da begegneten sie einem Bettler, der auf der Straße wie ein Irrsinniger sang. Der Schleim floß ihm aus der Nase, und er starrte vor Schmutz, daß man ihm nicht nahen konnte. Die Frau rutschte auf ihren Knien zu ihm hin. Der Bettler lachte: „Schätzchen, hast du mich gern?“ Die Frau klagte ihm ihr Leid. Da begann er zu lachen: „Es gibt doch genug Männer für dich, warum soll man den einen wieder lebendig machen?“ Die Frau fuhr fort, ihm zu klagen. Da sprach er: „Komisch, wenn einer tot ist, von mir zu verlangen, ich soll ihn wieder lebendig machen. Bin ich denn der Höllenfürst?“ Dann tat er böse und schlug mit seinem Stock nach der Frau. Die verbiß den Schmerz und ließ es sich gefallen. Allmählich sammelten sich die Marktleute und standen dicht wie eine Mauer umher. Der Bettler räusperte sich, spuckte in die Hand. Das hielt er ihr an den Mund und sagte: „Iß es!“ Da stieg der Frau die Röte ins Gesicht, und es schien, als würde es ihr zu schwer. Doch eingedenk der Worte des Priesters, bezwang sie sich und schluckte es hinunter. Sie fühlte etwas Hartes die [246] Kehle hinabgleiten wie ein runder Klumpen, das in der Brust steckenblieb.

Da brach der Bettler in lautes Gelächter aus: „Wirklich, Schätzchen, du hast mich gern!“ Mit diesen Worten stand er auf, ging weg und bekümmerte sich nicht mehr um sie. Sie folgten ihm. Er ging in einen Tempel. Sie folgten ihm nach, auch dorthin, ihn zu suchen. Er war verschwunden. Man forschte vorn und hinten nach ihm. Keine Spur war vorhanden.

Beschämt und unwillig kehrte sie heim. Voll Trauer über den grausamen Tod ihres Gatten und voll Reue über die Schmach, der sie sich nutzlos unterzogen, brach sie in verzweifeltes Weinen aus, nur den Tod herbeisehnend.

Die Leiche des Mannes sollte gereinigt und zur Beerdigung vorbereitet werden. Die Leute im Haus standen abseits und sahen zu und wagten sich nicht heran. Die Frau aber umarmte die Leiche, ordnete die Eingeweide und weinte dabei. Sie weinte so heftig, daß ihr die Stimme im Halse steckenblieb und würgte. Plötzlich fühlte sie, wie der Klumpen in ihrer Brust nach oben stieg und herauskam, und ehe sie sich abwenden konnte, war er schon in die Brusthöhle des Toten gefallen. Entsetzt sah sie ihn an, da war es ein Menschenherz, das in der Brust hin und her zuckte. Der heiße Lebensatem strömte wie eine Rauchwolke hervor. Sie war aufs äußerste überrascht und schloß mit beiden Händen die Wunde der Brust. Mit aller Macht mußte sie drücken. Ließ sie auch nur ein wenig los, so kam die Luft zur Ritze strömend hervor. Da riß sie ihr seidenes Tuch auseinander und schlang es um ihn. Als sie dann mit der Hand den Leichnam befühlte, da erwärmte er allmählich. Sie deckte ihn mit einer Decke zu. Und als sie um Mitternacht wieder nach ihm sah, da war Atem in seiner Nase, und bei Tagesanbruch war er zum Leben zurückgekehrt. Nur sagte er, er habe ein verschwommenes Gefühl wie im Traum. Auch fühlte er einen dumpfen Schmerz in der Herzgegend. Die Wunde hatte sich geschlossen. [247] Eine Narbe von der Größe eines Geldstückes hatte sich gebildet. Schließlich ward er wieder ganz gesund.

Anmerkungen des Übersetzers

[401] 81. Die bemalte Haut. Vgl. Liau Dschai.

„Verlorene Menschen haben keine Heimat“: Mit diesen Worten deutet der Geist seinen Zustand an. Damit, daß der Jüngling dennoch an ihr festhält, begibt er sich in ihren Bann.

Stellvertreter: Dadurch, daß der Geist einen andern Menschen ins Verderben lockt, wird er selber frei zu neuer Geburt. Vgl. Die Geister der Erhängten, Nr. 66.

Im Tempel des grünen Herrn: Der grüne Herr ist derselbe wie der Königvater des Ostens, vgl. Nr. 15.

Zauberwedel: Die Taoisten haben an einem Holz befestigte Roßhaarwedel zur Vertreibung der bösen Geister.