Die beiden kühnsten Gebirgsreiterinnen

Textdaten
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Autor: F. B.
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Titel: Die beiden kühnsten Gebirgsreiterinnen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 462–463
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[462] Die beiden kühnsten Gebirgsreiterinnen. Schamyl, der Müridenhäuptling, hatte sich, wie es genau doch nur Wenigen bekannt sein dürfte, im höheren Daghestan gegen die Heerschaaren, welche der nordische Koloß mit seinen thönernen Füßen aus dem Erdboden stampfte und in die Steinwüsten des Kaukasus emportrieb, dergestalt verschanzt, daß es nur den ungeheuersten Anstrengungen der Söhne Rurik’s und der Straßenbaukunst gelang, zu dem Schlupfwinkel des Tapfersten der Tapfern vorzudringen. Schwindelig jäh abfallende Hänge, reißende Gebirgsströme, gesteinverrammte, versteckte Saumpfade, Schurren, Geröllberge, Gräten, Zacken und Felsenmeerklippen mußten chaotisch überwunden werden, um den auf der Lauer liegenden, sprungbereiten Leuen in der eigenen Höhle anzugreifen. Das schlimmste Stück war die Bezwingung des gefährlichen, über den etwa achttausend Fuß hohen Kodorr führenden Klippenpasses. Knochenbrüche, Arm und Beinverrenkungen, Stürze in die Tiefe, Keulenhiebe und aus dem Hinterhalt jählings gezückte Tscherkessendolche harrten derer, die es unternahmen, die Felsenleiter nach Weden und dem Berge Gunib zu Schamyl’s Horst emporzuklimmen, Und dennoch haben einmal zwei Damen, deren Ahnentafel das Fürstenwappen schmückt, den Ritt durch das Felsenlabyrinth zu dem geradezu unzugänglichen Gunibkegel empor machen müssen. Dies zu erzählen und besonders jenen Schönen als Spiegelbild vorzuhalten, welche mittels Sänfte oder Maulesel die breiten Schweizerpässe besiegen, ist die Aufgabe dieser Skizze.

Zu der Zeit, als sich um Schamyl, den Müridenhäuptling, immer mehr Anhänger schaarten, mußten auch die Excursionen oder Raubzüge vom Berge Gunib in die Thäler und Schluchten hinab immer weiter ausgedehnt werden. Die Steinwüste hoch oben bot nichts. Daselbst konnte die Gemse nicht einmal einen dürftigen Halm nagen. Es mußte aber doch täglich in dem Felsenlabyrinth ein großer Mittagstisch gedeckt werden, denn die Gäste vermehrten sich stündlich. Umfaßten anfangs die Raubzüge nur zehn Meilen im Umkreise, so mußten sie schließlich bis auf zwanzig und doppelt so viel erweitert werden. Sie erstreckten sich sogar bis in das von Schamyl’s Horst Tagereisen entfernte, fruchtbare Alassan-Thal. Nicht weit davon wohnte am schattigen Hange des Gebirges auf ihrem Sitze Isinandal die Fürstin Orbeljani mit ihrer Schwester. Beide waren an in russischen Diensten stehende georgische Fürsten verheirathet. Die Männer waren nicht daheim, sondern standen als Generale an der Spitze zweier [463] Streifcorps, welche dem Vordringen Schamyl’s über den Kodorrpaß und weiter in das Alassangebiet Einhalt gebieten sollten.

„Fürchtest Du Dich nicht, meine Liebe,“ sagte nach einer stürmischen, schlaflosen Nacht die Fürstin Orbeljani zu ihrer Schwester, „vor einem - zudringlichen, unheimlichen Besuch? Ich habe in der vergangenen Nacht ein marmorblasses Gesicht mit einen, langen flatternden Turban gesehen. Das Gesicht verzerrte sich zuweilen und der flatternde Turban schlug an mein Gesicht, wie im Sturm die Fahne an den Helm des Fahnenträgers schlägt.“

„Wer sollte uns jetzt besuchen!“ entgegnete die Schwester und liebkoste ihr einige Monate zählendes Kind. „Unsere Nachbarn stehen alle vor dem Feinde und Frauen kommen ohne ihre Männer nicht.“

„Nun, die Nachbarn und Freunde meinte ich nicht. An sie erinnert nicht der flatternde Turban und das blasse Antlitz. Es mahnt vielmehr daran, auf der Hut vor den Feinden zu sein,“ sagte die Fürstin Orbeljani, öffnete das Schlafzimmer ihrer Kinder und weckte ihre Lieben früher als gewöhnlich.

Die Schwester der Fürstin antwortete nur mit einem Lächeln, wie es die Lippen der schönen Grusinerinnen so oft und so schelmisch umspielt. Dann setzte sie sich in ihrem reizenden Morgengewande bequemer in die schwellenden Kissen des Divan.

Während diese wenigen Worte zwischen den beiden Schwestern gewechselt wurden, näherte sich ein glänzender Reiterzug unhörbar, denn die Hufe der Rosse waren umwickelt, dem Sitz der grusinischen Edelfrauen. Der Nebel, welcher auf Thal und Hang lagerte, entzog den Trupp den Blicken etwaiger Späher. Er hatte den Wind von vorn, und die vielen ledigen Handpferde, welche er mitführte, deuteten auf einen Ueberfall. Sämmtliche Rosse galoppirten so vorsichtig thalab, als wäre der Weg mit rohen Eiern gepflastert. Kaum war Isinandal, der Sitz der beiden abwesenden georgischen Fürsten, in Sicht, als der Trupp plötzlich lautlos hielt. Der Naib Schamyl’s, denn dieser befehligte das Corps, ertheilte einige Befehle, und sofort sprengte der Troß in drei, vier Colonnen auseinander. Im Nu war Schloß Isinandal im Besitz des Unterfeldherrn Schamyl’s. Keine Maus konnte ungesehen daraus entschlüpfen oder sich unentdeckt hinein schleichen. Alle Zugänge waren besetzt. Die Reiter schwangen sich, nachdem sie abgesessen, über die Mauer, wie sich der geschmeidigste Turner über eine Barrière schwingt. Die Thore wurden lautlos geöffnet, die Handpferde auf den Schloßhof gezogen, Haupt- und Nebeneingänge des Wohnhauses blitzschnell besetzt, Treppen, Fenster, Galerien erstiegen.

Plötzlich, wie das Gespenst der vergangenen Nacht, aber nicht mit marmorblassem Antlitz und langem flatternden Turban, sondern roth von dem Morgenritt und in russische Uniform gehüllt, stand der Naib Schamyl’s vor den beiden grusinischen Fürstinnen, deren erste Bewegung – sie waren ja im leichten Nachtgewande – der Flucht galt.

„Sie werden überall auf Hindernisse stoßen, meine Schönen! Fliehen Sie nicht, sondern folgen Sie mir so leicht, wie sich der Schmetterling auf Blumen wiegt!“ sagte der Naib statt des üblichen Morgengrußes und verneigte sich vor den Damen.

Leider mußte der Abgesandte des Müridenhäuptlings, der ausgesucht höflich sein konnte und es auch war, so lange sich seine Sitte und zarter Anstand mit seiner Dienstvorschrift und eigenen Sicherheit in Einklang bringen ließen, die Bitte der Damen, sich erst ankleiden zu dürfen, ganz entschieden abschlagen. Im leichten Ueberwurf, den Säugling auf dem Arm, folgte die Schwester der Fürstin Orbeljani dem Naib, welcher ihr noch auf wiederholte Bitte gern mittheilte, daß sie als Geisel für ihren gegen Schamyl kämpfenden Gatten dienen und in das Gebirge emporreiten müsse. Dasselbe galt auch der Schwester, welche bereits unten auf dem Kreuz eines Gebirgsrenners hinter dem Reiter und fest an seinen Gürtel geschnallt saß. Sie brauchte keinen Säugling zu halten. Ihre Kinder hatten schon das Roß getummelt und saßen schon weinend je hinter einem Reiter. Die arme Fürstin mit dem Säugling zitterte wie Espenlaub. Nicht das leichte, nur von einem dünnen Ueberwurf verhüllte Nachtkleid, das der kalte Thauwind neckend zu lüften suchte, ließ sie wie im Todesfrost erbeben, nein, die Angst um ihren Säugling schüttelte sie. Mit der Taille und dem linken Arm an den Gürtel des Naib gebunden, hielt sie weinend mit der Rechten das Kind, und drückte es an die mütterliche Brust. „Pascholl!“ (Fort!) befahl der Naib, der auf seinen Streifzügen nur Russisch sprach und oft den Feind gründlich damit täuschte. Der Zug setzte sich in Bewegung, und die Handpferde nachziehend, welche mit geraubten Lebensmitteln und geplündertem Silberzeug belastet waren, sprengten die Reiter die Thalsohle hinauf.

Die beiden grusinischen Fürstinnen waren vortreffliche Reiterinnen. Wer sie früher im blitzenden Reitkleid, den Falken auf der Faust, in den Bergen einhersprengen und über Schlucht und Kluft setzen sah, beneidete sie nicht nur um das schöne sichere Roß, sondern auch um die seltene Fertigkeit und Anmuth, mit welcher sie ritten und die schwersten Hindernisse spielend besiegten. Sie legten auch jetzt in der kümmerlichen erzwungenen Sitzung hinter dem Reiter auf dem Kreuz des Pferdes die erste Tagereise ohne Beschwerde zurück, obschon der Weg meilenweit über Geröll empor, durch finstere Schluchten hinab und an schroff abfallenden, bewaldeten Thalhängen entlang führte. Am zweiten und dritten Tage vermehrten und vergrößerten sich aber die Hindernisse dergestalt, daß die Reiterinnen oft einen jähen Angstschrei ausstießen und den Naib inständig baten, einen andern Weg einzuschlagen. Ihre Bitten konnten natürlich nicht erfüllt werden, weil die Müriden ihrer eigenen Sicherheit wegen nur die heimlichsten verstecktesten Schlupfwege wählen mußten. Bald ging es über einen reißenden Gebirgsstrom, der von den zu Thal tosenden hundertarmigen Gießbächen gebildet wurde, welche der Thauwind aus Schnee und Eis entfesselte. Nicht selten drehte der Strom das Roß wirbelnd im Kreise herum, und der Reiter mußte seine ganze Kraft und Gewandtheit aufbieten, um sich und die kostbare Geisel, welche Schamyl lebend zu überliefern war, aus den Fluthen zu retten. Bald mußte der Reiter auf dem schmalen Grat eines bodenlosen Abgrundes, in dessen Tiefe das wildeste Gebirgskind kochte, zischte und emporschäumte, stundenlang dahinreiten. Ein Fehltritt des Pferdes überlieferte Roß und Reiter unrettbar dem Untergange. Hier war eine Kluft zu überspringen, vor welcher das gewandte Gebirgsroß selbst scheu zurückbäumte. Ein Hieb mit der Peitsche mußte das Roß zur äußersten Kraftanstrengung treiben, und der Todtensprung wurde mit schnaubenden Nüstern, funkelnden Augen und stampfendem Huf gewagt. Er gelang, gelang wiederholt, aber noch harrten weit gräßlichere Abgründe, schroffere Klippen, steilere Abstürze des Renners. Da schäumte aus dunkler waldüberragter Gebirgsschlucht ein Wildbach so reißend und unzugänglich, daß selbst der Naib Schamyl’s davor zurückbebte. Der Bach war geschwollen und raste gleich einem Wütherich, der die Ketten gesprengt, durch das Thal. Hochauf zischte, leckte der Gischt der tosenden Wässer. Die beiden Fürstinnen rangen die Hände und flehten um Erbarmen. Die Schwester der Orbeljani drückte den halb erstarrten Säugling krampfhaft an sich und hüllte ihn dichter in ihre Kleider, welche zerfetzt, durchnäßt herniederhingen. Da hatte das spähende Auge des Naib eine Stelle entdeckt, die dem Uebergange kein unbesiegbares Hinderniß in den Weg legte. Er klopfte auf die Mähne des treuen Thieres. Das Roß verstand die Liebkosung, hob den Kopf, schüttelte sich, und stand dann regungslos, mit spielenden Nüstern, ohne ein Schweifhaar zu bewegen.

„Dir bangt? Vorwärts!“ und die schwere Peitsche sauste auf den Kopf des Thieres hernieder. Ein Sprung! Das Roß lag in der tosenden Fluth und kämpfte gegen die im rasenden. Wirbel es umzischenden Wogen an. Ein Schrei entrang sich der Brust des gequälten geängstigten Mutterherzens. Das Roß bäumte, suchte Fuß zu fassen, die Felsen zu erklettern. Da sprang es hoch empor. Durch die jähe mächtige Erschütterung entsank das Kind den Armen der Mutter. Es wurde augenblicklich vom Strudel hinweggeschwemmt. Der Schrei der Mutter verhallte im Tosen des Gießbachs. Sie glitt vorn Pferde, um dem Kinde nachzustürzen. Vergebliche Mühe! Der Naib, an den sie gefesselt, zog sie empor, umklammerte sie. Roß und Reiter hatten die jenseitige Anhöhe erreicht, um in ein finster trotziges, wild zerrissenes Felsenlabyrinth hinabzusteigen.

Ueber eine Woche dauerte der entsetzliche haarsträubende Ritt Nachts wurde nur wenige Stunden gerastet, oft aber auch in stockfinsterer Nacht geritten. Halb erstarrt, nur in wenige feuchte modernde Lumpen gehüllt, langten die grusinischen Fürstinnen in dem Felsenhorst Schamyl’s, dem inmitten einer schauerlichen Einöde und Wüstenei gelegenen Weden, an. Der Müridenhäuptling bot Alles auf, um die Unglücklichen, die sofort nach dem Todtenritt auf das Siechbett sanken, zu retten. Es gelang ihm in Folge der emsigen Geschäftigkeit, mit welcher er sie pflegte und mit welcher vor allen Dingen die Frauen Schamyl’s sich um die seltenen Gäste bemühten. Die Gefangenen erhielten das beste Frauengemach in der entlegenen Veste des Gunibkönigs, aber es war niedriger, feuchter und dumpfer, als der schlechteste Keller in Isinandal. Die Auslieferungsangelegenheit zog sich auch in die Länge. Monate verstrichen, und den Armen konnte die Stunde der Erlösung nicht angekündigt werden. Schamyl forderte für die beiden Schönen ein Lösegeld, wie es nur als großes Loos in einer preußischen Lotterie gewonnen werden kann. Die Unterhandlungen, darin die Russen ihre bekannte sprichwörtlich gewordene Zähigkeit mit dem Motto: „Eile mit Weile“ entwickelten, zogen sich so sehr in die Länge, daß der Aar Rutheniens, der doppelhäuptige, oder mit andern Worten der Kaiser selbst die Fäden mit abwickeln helfen mußte. Er stellte eine bedeutende Summe und den Sohn Schamyl’s, der im Petersburger Cadettencorps Exercitien machte, zur Verfügung. Die Unterhandlungen wurden jetzt etwas nachdrücklicher weiter geführt. Sie gelangten aber doch erst zum Abschluß, als die beiden kühnen Gebirgsreiterinnen weit über ein halbes Jahr in der unzugänglichen Steinwüste vertrauert hatten. Endlich wurden sie befreit und der Ritt von den Bergen in das Thal ging auf geebneteren Pfaden vor sich. Er war zwar noch etwas gefährlicher, als ein Ritt über die Gemmi nach dem Leukerbad oder über die Furka nach Reichenbach im Haslithale, hätte aber von den kühnsten Schweizer Reiterinnen immerhin in seinem untersten Abschnitt, namentlich etliche Meilen vor Isinandal, gefahrlos zurückgelegt werden können – besonders m einem bequemen Gebirgssattel, wenn der mit seinen stark benagelten Sohlen sicher tretende Führer den Gaul am Zaume führt.

Die Fürstin Orbeljani hatte sich durch den Ritt ein so hartnäckiges Augenleiden zugezogen, daß sie die Gräfe’sche Klinik in Berlin besuchen mußte.

F. B.