Textdaten
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Autor: Gustav Diercks
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Titel: Die Zigeuner
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 460–464
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Zigeuner.

Von Gustav Diercks.

Es giebt Menschen, die unter allen Umständen, an allen Orten und in jeder Gesellschaft durch ihre Persönlichkeit und die scharf ausgeprägte Eigenart ihres Wesens die Aufmerksamkeit auf sich lenken und auf Alle, mit denen sie in Berührung kommen, einen eigenthümlichen entweder anziehenden oder abstoßenden Eindruck machen. Die Stelle solcher absonderlicher Einzelindividuen vertritt in der europäischen Völkergesellschaft der wunderbare Stamm der Zigeuner, deren Eigenart, deren Lebensumstände, deren Charakter nun schon seit Jahrhunderten das Interesse nicht nur der Völker Europas, sondern auch der gelehrten Welt auf sich gelenkt haben.

Die rapide Culturentwickelung der letzten Jahrzehnte hat ja nun allerdings der civilisirten Welt eine völlig neue Physiognomie gegeben, die frühere Weltanschauung völlig umgestaltet und selbst an den Zigeunern schon theilweise mit Erfolg ihre unfehlbare Kraft erprobt, trotzdem aber erweckt auch heute noch das Erscheinen von Zigeunern selbst bei manchen Gebildeten Regungen, bald von Verachtung, bald von Mitleid, hier von Scheu, dort von Furcht, und das einfache Wort Zigeuner beschwört heute noch – in der Hauptsache natürlich nur in den niederen Schichten der Gesellschaft – alle jene thörichten Vorstellungen von Kinderraub, von der Kraft des „Besprechens“, von Zauberei etc. herauf, die man früher damit verband und die noch in der Kindheitsperiode des jetzigen Geschlechts die herrschenden waren.

Das Verfahren, das man heute noch in manchen Culturländern den wandernden Zigeunern gegenüber beobachtet, die rücksichtslose Vertreibung der armseligen Banden, trägt freilich auch nicht gerade dazu bei, die Anschauungen von den Zigeunern zu bessern, wie diese strengen Maßnahmen auch nicht geeignet sind, auf diese Leute erziehlich und wohlthätig zu wirken; sie machen im Gegentheil die Heimathlosen, für kurze Zeit Obdach und Unterhalt Suchenden zu Dieben, zu verstockten Lügnern; sie fordern dieselben auf, alle Schattenseiten ihres Wesens hervorzukehren. Nachdem wir durch die Völkerkunde und Culturgeschichte hinlänglich über das Wesen der Zigeuner und die Ursachen desselben aufgeklärt worden sind, sollte man nach dem Satze: „Alles verstehen, heißt Alles dulden“ annehmen, daß die Gebildeten und in erster Linie die Behörden veraltete Vorurtheile und die Anwendung falscher und veralteter Mittel zur Besserung der Zigeuner aufgeben würden –

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Fahrende Zigeuner.
Nach dem Oelgemälde von F. Streitt.

[462] in dieser Beziehung aber muß man wieder die Erfahrung machen, daß Vorurtheile leichter geschaffen, als beseitigt werden.

Allerdings haben ja die gegen die Zigeuner gehegten Vorurtheile auch heute noch einen Schatten von Berechtigung, insofern als der Zigeuner von heute noch völlig dem des fünfzehnten Jahrhunderts gleicht, wenn er nicht etwa schon durch Culturländer gewandert und von der Civilisation berührt worden ist. Ueberall zu Hause, wo sie die Bedingungen für eine kurze Rast, für ihre anspruchslose Existenz fanden, aber vor der Niederlassung, vor der Begründung eines festen Heims zurückschreckend und daher stets auf der Wanderschaft, ihren Empfindungen in Tönen Ausdruck gebend, ohne andere Habe, als die der kleine Wagen birgt, vor den der Familienvater sich, in Ermangelung eines Pferdes, selbst spannt, ohne andere Kleidung und Kostbarkeiten, als die jeder tragen kann, bald sorglos und heiter, bald melancholisch und ernst, stets ruhig und gemessen und meist nur durch den Zauber ihres Blickes wirkend, unempfindlich gegen die Unbill des Wetters, gegen den heftigsten Temperaturwechsel: so werden uns diese fahrenden Leute, als sie zuerst europäischen Boden betraten, in alten Urkunden geschildert – so zeigen sie sich uns noch heute.

Die Voraussetzungen sind also die gleichen geblieben; der Unterschied in der Beurtheilung liegt nur darin, daß das im Aberglauben befangene Mittelalter die ihm entsprechenden Eigenschaften und Charakterzüge in’s Auge faßte und die Zigeuner wegen der von ihnen betriebenen Wahrsagekunst zu einem Volke von Zauberern stempelte, während die kühle, verstandesmäßig denkende Gegenwart sie als Diebe, Heuchler, Lügner und Betrüger betrachtet, behandelt und – schließlich dazu macht.

Das geheimnißvolle Dunkel aber, das über der Herkunft dieses ohne Gleichen dastehenden, im Grunde harmlosen Wandervölkchens ruht, umgiebt es mit einem Nimbus, der ja in jedem Falle dem Gegenstande, dem er anhaftet, besonderen Reiz verleiht. Wohl hat die moderne Sprachwissenschaft auch hier, wie in so vielen anderen Fällen, Pionnierdienste geleistet und mit Sicherheit erwiesen, daß die Sprachen aller Zigeuner der verschiedensten Länder der Erde – und man unterscheidet in Europa allein dreizehn Mundarten – aus demselben Boden erwachsen, in dem Aufbau alle gleich und sehr nahe mit dem Indischen verwandt sind, woraus sich weiter schließen läßt, daß die Zigeuner ein arischer Stamm sind, der seinen Ursprung in Indien hat; wohl hat die Völkerkunde in dem Stamme der Tschangar, die im Pendschab und im Sindh leben, genau dasselbe Wanderleben führen, wie die europäischen Zigeuner, auch denselben physischen Typus aufweisen, ihre nächsten Verwandten ermittelt, aber noch ruht ein undurchdringliches Dunkel über der Zeit, wann, über den Ursachen, in Folge deren einzelne Familien und Sippen den heimischen Boden verließen. Die Zigeuner selbst aber haben keine historischen Erinnerungen, keine nationalen Dichtungen aus der fernen östlichen Heimath mitgebracht, nichts, was einen zweifellosen Anhalt für den Historiker böte. Wie bei allen ihren indischen Verwandten ist der Sinn für die Geschichte bei ihnen nie entwickelt worden; die ihrem Wesen einzig und allein entsprechende natürliche Ausdrucksweise ist zu allen Zeiten die Musik gewesen, die ja unter allen Umständen am ehesten im Stande ist, dem instinctiven Naturgefühl Ausdruck zu verleihen, und wer, der den Zigeuner auf seiner Geige die nationalen Melodien spielen und phantasiren hörte, hätte nicht die Macht seiner Beredsamkeit, die Tiefe seiner Empfindungen kennen gelernt und bewundert!

Daß die Zigeuner in Indien zur Kaste der Parias gehörten, deren Berührung, ja deren Anblick die Angehörigen der höheren Kasten für verunreinigend hielten, und die, von den letzteren nicht als Menschen anerkannt, wie unreine Thiere verfolgt wurden, ergiebt sich weiter aus der Vergleichung mit ihren nächsten indischen Verwandten, die sich immer noch in derselben Lage befinden.

Als Ursache der Auswanderung von Zigeunerstämmen kann also das zu irgend einer Zeit auch im Geknechtetsten einmal erwachende Bewußtsein verletzter Menschenwürde angesehen werden. Die Culturgeschichte lehrt uns ferner, daß indische Wanderstämme von den kriegführenden Völkern und in moderner Zeit noch von den Engländern benutzt worden sind, die Gebiete der Gegner zu verwüsten, das Vernichtungswerk der Kriegführenden zu vollenden, und dieser Umstand giebt Veranlassung zu der Vermuthung, daß die Zigeuner zuerst im Gefolge solcher Kriegsvölker und Helden, hauptsächlich der muhammedanischen, dann später Dschingis-Khan’s und der Türken ihre Heimath verlassen und auf diese Weise wohl schon zur Zeit der Kreuzzüge nach Europa gekommen seien; ihre Sprache deutet ebenfalls auf jene Zeit hin, in der das Sanskrit in Indien nicht mehr lebende Sprache, sondern den Dialekten gewichen war.

So entzieht sich selbst das erste Auftreten der Zigeuner in Europa der Kunde der Menschheit und wird wohl kaum jemals sicher zu ermitteln sein; denn da dieses Volk sich nie in die Politik, in die inneren Angelegenheiten der Staaten mischte, in denen seine Sippen sich vorübergehend niederließen, da die Zigeuner nie eine Rolle in der politischen Geschichte Europas spielten, so hatten die Chronisten keine Veranlassung, der Fremdlinge Erwähnung zu thun. Die ersten Nachrichten über sie datiren daher aus verhältnißmäßig später, aus einer Zeit, die unzweifelhaft weit jünger als die ihres thatsächlichen ersten Auftretens ist; da war denn natürlich nichts mehr über ihr frühestes Erscheinen zu ermitteln.

Wenn man von den Athinganoi absieht, die unter Kaiser Nicephoros um 810 im byzantinischen Reiche erschienen, traten die Zigeuner nach den historischen Urkunden zuerst im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts auf und verbreiteten sich während des fünfzehnten und sechszehnten über ganz Europa, in Ungarn und Bulgarien aber sind sie offenbar schon im zwölften Jahrhundert aufgetaucht, und zwar wird ihrer von vornherein als vorzüglicher Musiker Erwähnung gethan, in welcher Eigenschaft sie später bei Hoffesten und anderen feierlichen Gelegenheiten stets Dienste leisten mußten. Ungarn ist überhaupt von jeher ihr Lieblingsaufenthalt gewesen, und dort haben sie auch am meisten und besten ihre natürliche musikalische Begabung entfalten können, weil die Ungarn ihnen volle Gastfreiheit gewährten.

Der Dank, den die Zigeuner den Ungarn dafür zollten, war die Schöpfung der ungarischen Musik, die im Grunde nur zigeunerischen Ursprungs ist und den Typus der Zigeunermusik durchweg aufweist. In allen übrigen Ländern, mit Ausnahme der maurischen Reiche, wurden die dunkelfarbigen fremdländischen Wanderer jedoch kaum anders behandelt, als die Parias Indiens, und die Gesetzsammlungen aller übrigen Staaten haben zahlreiche Verordnungen der schrecklichsten Art gegen die armen Fremdlinge aufzuweisen.

Ueber das erste Erscheinen der Zigeuner an gewissen Orten werden uns ganz sonderbare Mittheilungen gemacht; es heißt darüber in alten Schriften, es seien im ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts fahrende Leute nach Deutschland, Frankreich und Italien gekommen, die sich als ägyptische Büßer ausgegeben hätten und deren Beschreibung genau auf die Zigeuner paßt. So seien am 17. August 1427 zwölf Fürsten, aus einem Grafen, einem Herzog und zehn Rittern bestehend und in phantastische Tracht gekleidet, vor Paris erschienen und hätten sich als Aegypter und zwar als Nachkommen Derer bezeichnet, die der heiligen Familie bei ihrer Flucht nach Aegypten und dem Aufenthalte daselbst jede Unterstützung verweigert hatten. Sie seien nun deshalb von den Saracenen vertrieben worden und hätten vom Papst unter der Bedingung Absolution erhalten, daß sie sieben Jahre in allen Landen umherirren sollten, ohne inzwischen in Betten oder festen Häusern zu schlafen. Der Bischof von Paris duldete diese Fremden, die durch ihre Physiognomien und ihr Aeußeres ganz Paris in Erstaunen und Aufregung versetzten, nicht lange in Chapelle, wo man ihnen Aufenthalt gewährt hatte, sondern vertrieb sie, weil er in ihnen Zauberer und Diebe vermuthete, und excommunicirte sogar alle Diejenigen, die mit diesen fahrenden Rittern in Beziehung getreten waren, sich hatten wahrsagen lassen u. dergl. m.

Die gleiche Fabel finden wir in mehreren alten Urkunden wieder, und das europäische Mittelalter glaubte natürlich, was einige schlaue Zigeuner, die im Verkehr mit den Christen gewitzigt worden waren und den herrschenden religiösen Zeitgeist zu benützen verstanden, über sich und ihre Stammesgenossen verbreiteten. Der Umstand, daß die Zigeuner sich als ägyptische Büßer ausgaben, verlieh ihnen dem Volke gegenüber Ansehen und gewährte ihnen Schutz, lenkte aber gleichzeitig auf sie das Auge des Clerus, der in ihnen Verkörperungen des Antichrist sah, um so mehr, als sie sich von Anfang an mit allen Gattungen von Zauberei befaßten und daraus eine Einnahmequelle machten, die in jener Zeit sehr ergiebig war und den Säckel der Kirchendiener schädigte – und das zog natürlich Verfolgungen nach sich.

Die Annahme, daß die Zigeuner ägyptischen Ursprungs seien, erhielt sich zum Theil bis in dieses Jahrhundert hinein, und die [463] Namen, die man ihnen z. B. in England und in Spanien gab: Gipsy und Gitano, deuten auf diesen Glauben hin.

Das spätere Mittelalter suchte die Zigeuner auch mit den Juden und Mauren zu identificiren. Nachdem nämlich der Maurenherrschaft in Spanien durch die Einnahme von Granada 1492 ein Ende gemacht worden und die Zigeuner damit ihre Beschützer verloren, nachdem vollends die furchtbaren Maßnahmen der Christen gegen die Mauren und Moresken, Juden und Maranos in großem Stil betrieben wurden, die unerhörten Massenaustreibungen begannen, flüchteten auch zahllose Zigeunerfamilien, ehe noch die strengen Verordnungen gegen sie erlassen wurden, und dann in Folge derselben, in die angrenzenden Länder Europas, in denen man sie nun vielfach für Mauren und Juden hielt.

Die Folgen dieser Verwechslung wurden ebenfalls verhängnißvoll; denn nun wurden die Glieder des armen Bettelvolkes nicht allein als Verkörperungen des Teufels, als Zauberer, sondern auch als Ketzer verfolgt; wie den Juden, wurde auch ihnen die Fähigkeit zugeschrieben, durch den Blick, durch die Berührung Pest und andere ansteckende Krankheiten zu erzeugen. Nebenbei machten sie sich durch ihre diebische Natur in empfindlicher Weise bemerkbar, und weil endlich alle Mittel, sie des Umherirrens in den Ländern, des Lebens vom Hab und Gut Anderer zu entwöhnen, fehlschlugen, so wurden auch aus diesen Gründen harte Gesetze gegen sie erlassen, die freilich keine andere Folge hatten, als daß die Zigeuner sich denselben auf jede nur mögliche Weise zu entziehen suchten und sich immer wieder auf Irrfahrten begaben.

Wenn man die ungeheure Reihe von Gesetzen, die gegen dieses Wandervolk erlassen wurden, überblickt, wenn man sieht, mit welcher Strenge dieselben im Allgemeinen gehandhabt wurden, so kann man nur erstaunen, wie die Zigeuner sich und ihre Unabhängigkeit bis in die neuesten Zeiten hinein haben bewahren können und daß sie nicht völlig ausgerottet wurden. Einer der hauptsächlichsten Gründe für diese Thatsache ist jedenfalls die Ausübung der Wahrsagekunst von Seiten der Frauen, die in ihrer Blüthe so viele Reize, so viel Anmuth besitzen, daß sie Jeden für sich einnehmen und wohl durch ihre Schönheit hohe und mächtige Gönner gewannen, welche die Strenge der Gesetze zu mildern wußten.

Die außerordentlich feine und scharfe Beobachtungsgabe, eine gewisse Kenntniß der Welt und der Menschen befähigten die Zigeunerin, mit erstaunlicher Sicherheit aus den Mienen der die Zukunft Erforschenden ihre Vergangenheit und ihre Hoffnungen auf die Zukunft abzulesen, und da sie ihre Aussprüche meist mit geheimnißvollen Ceremonien begleitete, die auf die im religiösen Mysticismus erzogenen mittelalterlichen Menschen einen ungeheuren Eindruck machen mußten, so konnten Anklagen wegen Schwarzkunst, Hexerei etc. leicht genug erhoben werden.

Dabei blieb es aber natürlich nicht, und sobald sich die Inquisition mit den Zigeunern befaßte, mußten diese noch für vieles Andere herhalten: sie sollten wie die Juden ihre Freude daran haben, Kinder zu stehlen, sich an ihrem Blut zu berauschen; sie sollten Menschenfresser sein, und mit Hülfe der Tortur wurden selbstverständlich auch entsprechende Geständnisse, die Alles als unzweifelhaft wahr bestätigten, den unglücklichen Opfern entlockt. So wurde durch Anwendung der Tortur z. B. erwiesen, daß 1629 einige solche cannibalische Zigeuner Reisende, hauptsächlich Mönche, überfallen, getödtet und gehörig gebraten und gewürzt und unter großen Ceremonien verspeist hätten. Im Jahre 1782 wird von Frankfurt am Main berichtet, daß fünfundvierzig Zigeuner und Zigeunerinnen wegen Menschenfresserei hingerichtet, hundertfünfzig andere in Kerkern gefangen gehalten wurden. So weit ging die Verblendung noch am Ende des vorigen Jahrhunderts.

Daß den Zigeunern in den verschiedenen Ländern der Gebrauch ihrer eigenen Sprache und Tracht verboten wurde, ist hiernach kaum des Erwähnens werth, aber auch die auf die Sprache bezügliche Verordnung hatte keinen dauernden Erfolg: die Zigeuner haben bis auf diesen Augenblick noch ihre Mundarten beibehalten; nur wurden in den einzelnen Ländern viele Wörter aus den Sprachen derselben in die ihrige aufgenommen, der Art jedoch, daß z. B. das Caló der spanischen Zigeuner weit davon entfernt ist, spanischer Dialekt geworden zu sein, sondern immer noch die ursprüngliche grammatikalische Structur des Indischen bewahrt hat.

Der Charakter und das Wesen des Zigeuners mußten im Mittelalter noch um so mehr Anstoß erregen, als jene Zeit keine Entschuldigung für das Abweichende im Wesen des Zigeuners hatte. Der Ungebildete mißt eben Alles nur an sich, erkennt als richtig und gut nur das ihm Bekannte, von den Vätern Ererbte, von den Priestern Vorgeschriebene an. Die Hinterlist, die Neigung zum Diebstahl, der Trieb zum Vagabondiren, der Widerwille gegen jede bestimmte Thätigkeit sollten durch Gesetzesmacht ausgetrieben, die freien Kinder der Natur sollten zur Stetigkeit gezwungen, ihre Eigenart mit Gewalt vernichtet werden. Durch die Macht des Glaubens und des Schwertes vermeinte man Alles wirken zu können. Wie sehr man aber in der Wahl der Mittel gegenüber den Zigeunern irrte, hat selbst die hochgebildete Maria Theresia bewiesen, die, von lebhaftestem Interesse für die Fremdlinge erfüllt, die Aufbesserung ihrer Existenz auf das energischste erstrebte.

Als Mittel dazu erkannte sie die zwangsweise Ansiedelung, die dem Wesen des unruhigen Wandervolkes durchaus entgegenstand. So blieb denn nicht aus, daß die gutgemeinten humanitären Maßregeln der Kaiserin die entgegengesetzte Wirkung ausübten, den passiven Widerstand der Zigeuner steigerten und diese endlich zur Flucht zwangen, was die Kaiserin natürlich als Undank betrachtete. Karl der Dritte von Spanien war in seinen Maßnahmen glücklicher: Er verordnete zunächst, daß die Zigeuner, wenn sie irgend ein Gewerbe trieben, als spanische Staatsbürger betrachtet und in der Ausübung ihrer selbsterwählten Thätigkeit in keiner Weise gestört werden durften; er schrieb also den Zigeunern nicht bestimmte Gewerbe vor, sondern überließ dieselben ihrer eigenen Wahl. Sie konnten somit die ihnen inwohnenden Fähigkeiten nach ihrem Belieben entwickeln und daneben alle Rechte der spanischen Staatsbürger und viel größere Freiheiten als diese genießen, da der Glaubenszwang, der sich an ihnen als völlig nutzlos erwiesen, nicht streng gehandhabt wurde.

Aehnlich waren auch die Verhältnisse, unter denen die Zigeuner in Ungarn lebten. In allen übrigen Ländern aber setzten sie dem Drucke, der gegen sie ausgeübt wurde, zähe Passivität und unüberwindlichen Indifferentismus entgegen und suchten das Wenige, was sie zu ihrer Existenz brauchten, zu erlangen, wo und wie es möglich war. Der Zigeuner ist seinem Wesen nach ein zügelloses Naturkind, das keine Fessel ertragen kann, die ihm den Genuß der unbeschränktesten Freiheit beeinträchtigt. Er ist im Grunde von der größten Harmlosigkeit und Gutmüthigkeit; wie überall der Ohnmächtige dem ungerechten Drucke des Mächtigen erst passive Duldung, dann Hinterlist und endlich Rachsucht entgegensetzt, so that und thut es unter den gegebenen Verhältnissen auch der Zigeuner; er wurde und wird gerade so wie der Indianer schlecht in Folge der schlechten Behandlung. Viele der Vorwürfe, die gegen seinen Charakter erhoben werden, fallen daher Denjenigen zur Last, die mit ihm im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende verkehrten; die meisten der an ihm gerügten Charaktereigenschaften haben ihren Ursprung allerdings in der Paria-Existenz, die seine Vorväter ungemessene Zeiten hindurch in Indien zu erdulden hatten. Der an ihm getadelte Leichtsinn ist freilich allen Naturkindern eigen; sie wissen den Besitz nicht zu schätzen; sie leben von Augenblick zu Augenblick und folgen lediglich den Eingebungen ihres momentanen Empfindens. Wenn man dem Zigeuner Treulosigkeit zur Last legt, so trifft dies nur da zu, wo man ihn durch falsche Behandlung treulos gemacht hat. Die Feigheit liegt nicht von Natur in seinem Wesen, sondern ist durch jahrhundertelange unwürdige Unterdrückung erzeugt worden; so findet man z. B. in Spanien und Ungarn viele sehr bemerkenswerthe Ausnahmen; der spanische Stierfechter kann, wenn er Feigling ist, nie Ruhm erlangen; es gehört dazu die größte Unerschrockenheit, Ruhe und Kaltblütigkeit, Eigenschaften, die mit der Feigheit unvereinbar sind – unter den spanischen Stierfechtern sind aber manche der namhaftesten zigeunerischen Ursprungs.

Die Neigung zum Diebstahl ist dem Zigeuner nicht abzusprechen; auch sie wie die Heuchelei, die scheinbare Demuth und die Rachsucht sind die Folgen des indischen und europäischen Pariathums. Seine Abgeschlossenheit gegen alles Fremde ist ebenfalls nur die Reaction gegen die Behandlung, die ihm von den Mitmenschen zu Theil geworden ist. Er lebt nur sich, seiner Familie, seinem Stamme und meidet die Berührung mit andern als seinen Rassegenossen. Dies gilt besonders von den Zigeunerinnen, und da wieder vorzugsweise von denen Spaniens; eine granadinische Zigeunerin würde es für ein Verbrechen an ihrem [464] Stamme, für eine Entehrung desselben halten, einen Spanier zu heirathen; so zahlt sie, die das Herz des Spaniers unfehlbar zu fesseln und zu entflammen weiß, dem Volke die Behandlung, die unwürdigen Verfolgungen heim, denen ihr Stamm dort so lange ausgesetzt worden ist. Bis vor wenigen Jahrzehnten galt dies als völlig unverbrüchlich; bis dahin lebten die Zigeuner überall nach ihren ungeschriebenen, althergebrachten einfachen Satzungen, und besonders die Sittengesetze waren sehr streng; nichts vermochte sie zu bestimmen, dem Wanderleben zu entsagen, Boden und Besitz zu erwerben.

Was die Gefühle der mittelalterlichen Menschen, den Zigeunern gegenüber, besonders verletzen und manche Verordnungen gegen dieselben hervorrufen mochte, war vornehmlich auch der völlige Mangel an Religiosität bei den Letzteren. Schon die Orientalen bezeichneten frühzeitig die Religion der Zigeuner als eine halbe; in der That kann man im günstigsten Falle nur von einem wenig entwickelten Naturcultus sprechen; hier und da zeigen sich Spuren buddhistischen Einflusses; auch solche eines Gestirncultus sind bemerkbar, von einer ausgebildeten selbstständigen Religion kann aber bei den Zigeunern nicht die Rede sein.

Ueberall, wohin die Zigeuner kamen, nahmen sie äußerlich – zum Theil dazu gezwungen, zum Theil, weil sie darin ihren Vortheil erkannten – den herrschenden Glauben und Cultus des Landes an, lebten darum aber doch in alter Weise, in absoluter Glaubenslosigkeit und nur die Moralgesetze ihres Stammes anerkennend, fort; sie dürfen trotzdem, z. B. in Spanien, als entschieden sittlich betrachtet werden, und auch in manchen anderen Beziehungen stehen sie höher als die vom orthodoxesten Glauben erfüllten niedern Schichten der spanischen Gesellschaft.

Woher die eigenthümliche Erscheinung, daß dieses wunderbare Volk im Allgemeinen keine der Religionen annahm, mit denen es in Berührung kam?

Auch dies ist auf die Existenz ihrer indischen Vorväter zurückzuführen. Ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, durften sie keinen Glauben haben; der innige Anschluß an die Natur machte ihnen das Product priesterlicher Speculation überflüssig; überall, wohin sie kamen, fanden sie anderen Glauben vor, Vorstellungen, die ihnen fremd waren, und die sie, weil eben nicht zigeunerisch, verachteten; so lebten sie, auf ihre alten Satzungen vertrauend, ruhig hin, unbekümmert um die Culte, die sie sahen, und an denen ihnen höchstens der Glanz imponiren konnte, da sie wie alle Naturmenschen an bunter Farbenpracht, an Putz und Schmucksachen Gefallen finden und solche zu besitzen streben.

Wie die Sprache, so waren auch die Gewerbe, die sie betrieben, allen Zigeunern gemein; überall finden wir die Männer als Pferdehändler, als Schmiede, Kesselflicker, Verfertiger von hölzernem Hausrath, als Bärenführer und Goldwäscher, wozu in Spanien noch die Stierfechter und Wollscheerer kommen. Die Frauen traten überall als Wahrsagerinnen, als Zauberfrauen, als Sängerinnen in Rußland, als Tänzerinnen in Spanien auf; an sie wandte man sich, wenn man heilsame Zauber- und Liebestränke, wenn man Medicamente verschiedenster Art brauchte. Die musikalische Befähigung war und ist das Gemeingut aller Zigeuner und kommt bei jedem in irgend welcher Form zum Ausdruck. Aus den ungarischen Zigeunern sind viele Geigenvirtuosen, aus den russischen berühmte Sängerinnen, aus den spanischen die besten Tänzerinnen hervorgegangen.

Was nun endlich ihre physische Beschaffenheit anbetrifft, so ist dieselbe in Folge des Umstandes, daß in vielen Ländern die Zigeuner nur unter sich heirathen, daselbst noch so rein erhalten worden, wie sie war, als ihre Ahnen von Indien auswanderten, so rein, wie wir sie heute noch an ihren Verwandten finden. Die dunkle Hautfarbe, die großen lebhaften, von langen Wimpern beschatteten, meist dunklen Augen lassen auf den ersten Blick den fremdländischen orientalischen Ursprung erkennen.

Die Gestalten sind stets wohlproportionirt, mittelgroß, die Füße und Hände fein und zierlich, und so lange die Körperkräfte noch nicht durch schwere Arbeit, durch klimatische Einflüsse geschwächt sind, darf man die Zigeuner für schön erklären, und wenn auch die körperlichen Reize nicht lange andauern, so bleiben doch selbst dem Alter noch die hohe geistvolle Stirn, die schön geschnittenen Gesichtszüge und das feurige Auge eigen.

Ihre Eigenart haben die Zigeuner auch heute noch in vieler Beziehung am reinsten in Spanien bewahrt, wie auch die Verhältnisse, unter denen sie daselbst leben, zu den eigenthümlichsten gehören, die der Reisende auf dem Boden des europäischen Continents finden kann. Besonders Granada, wo sie sich in großer Zahl aufhalten und wo sie wie Troglodyten in unterirdischen Höhlen hausen, bietet in dieser Hinsicht des Interessanten sehr viel, wie auch die granadinischen und sevillanischen Zigeunerinnen als die schönsten und als die vorzüglichsten Tänzerinnen gelten können. Aber selbst dort fangen die charakteristischen Stammeseigenthümlichkeiten an, unter dem nivellirenden Einfluß der Civilisation zu schwinden, und es wird vielleicht nicht mehr lange dauern, bis in Spanien und Ungarn wie in allen anderen Ländern die Zigeuner sich völlig mit den Nationen amalgamiren, deren Feindschaft sie lange genug empfunden haben, deren Dichtern, darstellenden und bildenden Künstlern sie so vielen dankbaren Stoff geboten haben, der auch in ergiebigster Weise ausgenutzt worden ist.