Die Zeidler im Nürnberger Reichswald
Der Wanderer, welcher die Umgegend des altberühmten Nürnberg durchstreift, stößt auf der Nord-, Ost- und Südseite in geringer Entfernung von der Stadt auf eine ausgedehnte Waldfläche, den Reichswald, der durch den langsam dahin schleichenden Pegnitzfluß in zwei ungleiche Theile getrennt wird. Die Partie auf dem linken Pegnitzufer nimmt eine Fläche von 55,000, die auf dem rechten von 36,000 bairischen Tagwerken oder Morgen ein; erstere führt den Namen St. Laurenzer, letztere St. Sebalder Forst. Ehemals, als sie noch wirklich Reichswaldungen waren, hatten sie eine viel größere Ausdehnung.
Der Anblick der dem großenteils unfruchtbaren Sand- und Kiesboden entstammenden Kiefern, die am Waldessaume meist als Krüppelholz auftreten, der mächtigen Flächen von Haidekraut (Erica vulgaris) und dichten Gebüsche von Brombeersträuchern und Besenginster erweckt in Jedermann ein unbeschreiblich melancholisches Gefühl. Nur selten unterbricht ein rieselndes Bächlein, ein schmälendes Reh, ein singendes Vöglein die traurige Waldesstille. Umsonst ersehnst du im heißen Sommer in den meisten Abtheilungen dieser Wälder den wohltuenden Schatten der Laub- und Tannenhölzer, suchst umsonst nach dem erquickenden Naß aus klarer Quelle. Diese Forste stoßen dich ab. Und doch waren sie einst ein halbes „Canaan“, darinnen [379] Milch und Honig floß, und noch heute treiben die im Waldreviere hausenden Dorfbewohner große Viehheerden, gestützt auf uraltes Herkommen, in diese Wälder zur Weide auf Waldgras und Haidebeeren. Besonders lohnend und ergiebig aber war hier der Betrieb der Bienenzucht oder bloßen Bienenjägerei, und deshalb wurden diese Forste von den alten deutschen Kaisern mit dem poetischen Beinamen „Unser und des Reichs Bienengarten“ ausgezeichnet.
Schon vor dem Jahre 1000, ehe der Reichsstadt Nürnberg selbst noch urkundlich gedacht wird, wurden diese Reichsforste von den römisch-deutschen Kaisern der Jagd wegen sehr häufig besucht. Zu der niedern Jagd rechnete man auch das Ausnehmen der Waldbienen (Waldimmen), die in den zahlreichen hohlen Bäumen, in den Felsen- und Steinhöhlen daselbst ihren Wohnsitz aufgeschlagen, und auf den ausgedehnten Haideflächen und zahlreichen Haselstauden, Spurkeln, Weiden, Erlen, Brom-, Schwarz- und Preißelbeersträuchern vom Schöpfer einen reichlich gedeckten Tisch erhalten hatten.
[Ξ] Bei dem in früheren Zeiten herrschenden Zucker- und Leuchtstoffmangel begriff man bald, daß man die „Waldbienenjagd“ aufgeben müsse, wenn diese nützlichen Insecten nicht gänzlich ausgerottet werden sollten. Sie wurden nun von Kaiser und Reich in Aufsicht und Pflege genommen und hiezu eigene Wärter angestellt, die von dem altdeutschen Worte Zeidl (Honig) den Namen „Zeidler“, das ist Honigausschneider erhielten. Die Kaiser nahmen sie aus den Bewohnern der Orte, die an und in diesen Reichsforsten lagen, räumten ihnen bedeutende Rechte ein und belehnten sie mit nicht unbedeutenden Landgütern, die heute noch unter dem Namen „Zeidelgüter“ bekannt sind. Der größere Theil derselben bestand aus Bauern, der kleinere aus nürnbergischen Patriziern; doch befanden sich in ihren Händen die bedeutendsten dieser Zeidelgüter. Die Zeidler bildeten unter sich eine geschlossene Zunft, die zu den interessantesten Instituten des Mittelalters gehörte.
Die Beschaffenheit der Reichswälder erlaubte Wald- und Hausbienenzucht zugleich. Rings um die Wohnungen der Zeidler lagen ihre Gärten, Aecker und Wiesen, und in nächster Nähe befand sich der Wald. Bei der Culturfähigkeit der germanischen Race und der überaus großen Wichtigkeit der Bienenproducte in früherer Zeit ist anzunehmen, daß bald die Hausbienenzucht bei den Zeidlern noch weit mehr als die Waldbienenzucht in Flor kam. Die Biene wurde Hausthier. So findet man schon im frühen Mittelalter bei den Häusern der Zeidler Bienen in ausgehöhlten Baumstämmen und in Strohkörben. Zur Zeit der Hohenstaufen befanden sich beispielsweise auf einem Hofe bei Heroldsberg (zwei Stunden von Nürnberg entfernt) zweiundsiebzig Immenvölker, deren Zahl nicht gemindert werden durfte. Vom zwölften bis fünfzehnten Jahrhundert stand das Zeidelwesen in seiner höchsten Blüthe. Es dürfte hier am Platze sein, über die Wichtigkeit der Bienenproducte im Mittelalter Einiges mitzutheilen.
[380] Vor Allem muß in’s Auge gefaßt werden, daß bis zur Entdeckung der neuen Welt in Europa überall der Zucker mangelte. Womit konnten nun damals die Hausfrauen irgend einen bittern Thee versüßen, saure Früchte (Eingemachtes) genießbar machen, als mit Honig? Gewiß werden sie sich und ihre Kinder auch nicht dabei vergessen haben; auch als Arzneimittel war Honig in Gebrauch. Dies Alles tritt jedoch zurück vor der massenhaften Verwendung des Honigs zur Methbereitung und Lebkuchenbäckerei. Die Culturgeschichte sagt uns, was unsere Vorfahren auf das süße Meth-Gebräu hielten. Es war ihr Götter- und Heldentrank, und im Sprüchwort sagte man von ihm:
„Innen Meth und außen Oel,
Stärkt den Leib und frischt die Seel.“
Ueberall im nördlichen Europa ließen sich Fürsten, Ritter, Bürger und Geistliche gar gerne in förmliche Trinkwettkämpfe ein, und es wurden dabei eminente Proben von Tapferkeit im Meth-Trinken abgelegt. Und nun gar die Pfeffer-, Honig- oder Lebkuchen! Wer denkt hiebei nicht an die spendenreiche Weihnachtszeit? Welches Kind wäre nicht geneigt, sein Scherflein zu einem Denkmale für den Erfinder derselben mit Freuden beizutragen, wenn er nur bekannt wäre?! Möglicherweise wurde die Erfindung in Nürnberg gemacht, um den dortselbst so gern weilenden deutschen Kaisern das Regieren zu versüßen.
Das Wachs fand eine ausgedehnte Verwendung in Kerzenform, als Material zum Siegeln und Bossiren und in der Heilkunde. Wachskerzen ohne Zahl funkelten oft bei den nächtlichen Gelagen weltlicher und geistlicher Zecher. Sie zierten oft zu Hunderten die christlichen Altäre. Die wunderthätigen Heiligen der Kirche waren ebenfalls große Wachsfreunde. Nicht nur ließen sie sich gerne in Wachs modelliren, sie beliebten auch den Kranken erst dann zu helfen, wenn ihnen deren kranke Gliedmaßen in Wachs verehrt worden waren.
Der Zeidler geschieht, nach bisheriger Geschichtsforschung, urkundlich zum ersten Mal Erwähnung in einer Verordnung Kaiser Otto’s des Dritten vom Jahre 993. Ausführlich wird der Zeidler und ihrer Gerechtsame erst in einem Documente Karl des Vierten vom Jahre 1350 gedacht. Außer dem Ertrage der ihnen verliehenen Zeidelgüter waren ihnen folgende Rechte verliehen:
Niemand, außer dem über sie gesetzten Oberforstmeister und den Förstern, letztere jedoch nur in beschränktem Maße, durfte Bienen im Walde haben, und alle Schwärme, die in denselben flogen, gehörten ihnen. Alles Holz, das sie zu Bienenständen, Bienenwohnungen und zu ihrem eigenen Häuserbau bedurften, mußte ihnen unentgeltlich aus dem Reichswald verabreicht werden. Brennholz durften sie wöchentlich zwei Fuder abholzen und, was sie davon nicht selbst brauchten, verkaufen. Gleich den Förstern hatten sie das Recht zu pfänden, besonders diejenigen, die sich an den Bienen und an zur Bienenweide geeigneten Bäumen und Sträuchern vergriffen. In allen Städten des Reichs waren sie zollfrei und hatten endlich noch ihre eigene Gerichtsbarkeit.
Diesen Rechten entsprachen natürlich auch die Pflichten. Zunächst waren sie schuldig und verbunden, an Kaiser und Reich ein genau festgesetztes Quantum Honig – später ein bestimmtes „Höniggeld“ – abzuliefern. Die Größe dieser Abgabe richtete sich nach der Größe der Zeidelgüter und betrug von je einem derselben zwei bis zweiunddreißig Nürnberger Maß Honig.
Ihre meiste Sorgfalt mußten sie jedoch dem Walde selbst zuwenden. Schon ums Jahr 1300 war derselbe durch Kohlenbrenner und Pichler (Pechsieder), durch Ausreuter und schlechte Bewirthschaftung äußerst heruntergekommen. Alle Kaiser von Heinrich dem Siebenten an befahlen in nachdrücklichster Weise den Förstern und Zeidlern für die Wiederaufforstung desselben bei Verlust ihrer Rechte unausgesetzt thätig zu sein. Man scheint sich jedoch zur damaligen Zeit wenig um die kaiserlichen Befehle gekümmert zu haben.
Die Zeidler (und mit ihnen die Reichsförster) waren endlich dem Kaiser und Reich zu gewissen außerordentlichen Diensten verbunden, doch so, daß solche auf einen gewissen Raum eingeschränkt waren und vom Reiche belohnt werden mußten. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter, „Zeidelmeister“ genannt, mußte ihnen im Dienste des Reiches vorfahren und erhielt dafür außer der Kost und den üblichen Rechten seinen „Weißpfennig“.
Der oberste Lehnsherr der Zeidler war der Kaiser. Bis zum Jahre 1350 stand das ganze Zeidelwesen unmittelbar unter ihm. Als Pfandobject kam die Zeidlerei gegen zweihundert Mark löthigen Silbers wegen der Geldbedürftigkeit der römisch-deutschen Kaiser nach und nach in die Hände der Edlen von Seckendorf, der Burggrafen von Nürnberg und endlich 1427 an die Reichsstadt Nürnberg.
Zweihundert Mark löthigen Silbers waren für jene Zeit schon eine ansehnliche Summe. Die Zeidlerei gerieth in Verfall, als durch die Cultur der neuen Welt Europa mit Zucker aus Westindien versorgt wurde. Noch im Jahre 1583 kostete ein Bienenvolk drei Gulden, eine Kuh fünf Gulden; aber schon 1543 sank der Werth eines „Immen“ auf zwei Gulden; 1548 auf einen und 1555 unter einen Gulden, während eine Kuh dieses ganze (16.) Jahrhundert hindurch um fünf Gulden verkauft wurde. Im 17. und 18. Jahrhundert lag die Bienenzucht ganz darnieder, doch hielten die Zeidler noch streng auf ihre Gerechtsame und versammelten sich bis 1796 alljährlich sechs Mal in ihrem Hauptorte Feucht zu Gericht, um ihre Verhältnisse zu ordnen.
Zu den mittelalterlichen Sonderbarkeiten gehört die Bewilligung besonderer Gerichtsbarkeiten für einzelne bevorzugte Classen und Stände. Eines solchen Privilegiums erfreuten sich unter Anderen die Geistlichen, Forstbeamten, Studiosen und auch die Zeidler. Wahrscheinlich hatten Letztere ihr Gericht schon vor dem Jahre 1000. In der Bestätigung Karl’s des Vierten vom Jahre 1350 wird ausdrücklich auf das hohe Alter der Zeidlergerechtsame hingewiesen. Auch der Vorsitzende dieses Gerichts hatte ursprünglich den Titel „Zeidelmeister“. Es scheint, daß diese Würde anfangs nicht erblich gewesen. Seitdem aber 1223 das Geschlecht der „Waldstromer“ von den Hohenstaufen mit der Oberforstmeisterei über den St. Laurenzer Wald erblich belehnt war, ging dieses Amt auch erblich an sie über.
Die Waldstromer sollen nach ihrem Herkommen reiche Bauern gewesen sein, die im Nordgau und Rieß bedeutende Güter besaßen. Einer ihres Geschlechts soll dem Kaiser Otto dem Dritten auf dem Reichstage zu Nürnberg eine große Menge Stroh und andere Victualien zugeführt und verehrt haben, woher ihm der Name „Strohmeier“ geworden. Als dieser Bauer vor dem Kaiser erschienen, hat sich derselbe über des Bauers Bescheidenheit und Höflichkeit sehr verwundert und ihm eine Gnade auszubitten erlaubt, worauf derselbe gebeten, von allem Zoll, allen Schatzungen und aller Steuer im Reiche befreit zu sein. Der Kaiser soll ihm das bewilligt und ihn geadelt haben. Nach Diesem haben die Strohmeier ihre Bauerngüter verlassen, sind nach Nürnberg gezogen und hier in kurzer Zeit zu großem Ansehen gelangt. Etliche von ihnen sollen an fürstlichen Höfen, besonders am kaiserlichen Hofe, gedient und viele Gnaden und Freiheiten, sonderlich das Forstamt von dem St. Laurenzer Walde, erlangt, davon sie den Namen „Waldstromer“ erhalten haben.
Im Jahre 1396 traten sie ihre Rechte auf den Wald an Nürnberg ab, blieben aber noch geraume Zeit die Vorsitzenden des Zeidelgerichts, natürlich in reichsstädtischem Dienste und unter dem Titel „Oberrichter“. Wenn ein Zeidler den Zeidelmeister selbst belangen wollte, ging er zu dem Butigilarius, dessen Titel von einer Butte oder einem Bottich, darin man den Honig aufbewahrt, abgeleitet sein soll. Diese Würde war keine erbliche und scheint schon vor 1300 erloschen zu sein. Nach altem Herkommen hatten das Zeidelgericht und der Zeidelmeister ihren Sitz in Feucht, einem ziemlich bedeutenden alten Marktflecken, drei und eine halbe Stunde von Nürnberg, mitten in „des Reichs Bienengarten“ an der sonst sehr frequenten Handelsstraße von Nürnberg nach Regensburg gelegen. Für die frühere Bedeutung dieses Fleckens spricht der Umstand, daß Kaiser Siegismund im Jahre 1431 verordnete: „denselben mit Gräben, Zäunen, Tüllen und anderer Wehre zu umbfahen, zu befrieden und zu befestigen.“ Der ehemalige Herrensitz der Waldstromer dortselbst ist noch in gutem Zustande vorhanden. Das Gerichtslocal in dem dermaligen Postgebäude, ebenfalls noch gut erhalten und decorirt mit den Wappen und Bildern der Zeidelmeister, Oberrichter und Walddeputirten, hat die Alles profanirende Zeit in einen Tanzsaal verwandelt.
Neben den Zeidlern, welche die Mehrzahl der begüterten Bewohner Feuchts bildeten, waren die sämmtlichen übrigen Ortsangehörigen dem Zeidelgerichte unterworfen und hatte der Vorsitzende desselben über die Feuchter Gemeindeordnung zu wachen. Vor das Zeidelgericht gehörten aber nicht allein die an den [381] Bienenstöcken und Waldungen verübten Frevel, sondern auch alle anderen die Zeidelgüter, Forsthuben oder Waldungen betreffenden Irrungen, sogar daß, wenn Einer dieser Sachen halber bei einem andern Gerichte klagte, er seines Waldrechts beraubt wurde. Ueber das Zeidelgericht konnte kein anderes Gericht erkennen. Es übte seine Jurisdiction Jahrhunderte hindurch unbestritten aus, bis die preußische Occupation vom Jahre 1796 diese und alle andere privilegirte Gerichtsbarkeit beschränkte und behinderte.
Sechsmal im Jahre war der Gerichtshof in Thätigkeit. Ohne besondere Feierlichkeiten ging es im Mittelatter dabei nicht ab. Der geneigte Leser wolle mich im Geiste zu einer solchen Gerichtssitzung begleiten.
Es ist um’s Jahr 1588. Der ehrbare Rath der Stadt Nürnberg hat decretirt, daß am Dienstag nach Walpurgis das erste der sechs jährlichen Zeidelgerichte in Feucht abgehalten werden solle. Alle hierbei Betheiligten sind davon verständigt, alle Vorbereitungen getroffen worden. Die Herren Walddeputirten, sechs an der Zahl, und zwei Consiliarii verlassen in fünf herrschaftlichen Wagen, deren jeder mit vier prächtigen Rossen bespannt war, am Dienstag Morgen gleich nach Oeffnung der Thore die Stadt. Auf sehr primitiver Straße wird die Richtung nach Feucht eingeschlagen. Zwei mit Ober- und Untergewehr bewaffnete reichsstädtische Soldaten von der Nobelgarde der Einspännigen, ein städtischer Wagenmeister und ein Förster, sämmtlich beritten, bilden die übliche Bedeckung und reiten theils voran, theils hinterdrein. Neugierige sind schon in Menge auf den Beinen und lassen unter Vivatrufen den Zug an sich vorbeiziehen.
Bald jedoch ist er den Augen der Zuschauer entschwunden. Der Reichswald, der damals weit vor dem jetzt fleißig besuchten Vergnügungs- und Fabrikorte Dutzendteich seinen Anfang nahm, hat ihn aufgenommen. Nach nahezu einstündiger Fahrt kommt man zu dem freundlich in einer Waldoase gelegenen Dörfchen Altenfurt, das dem Kaiser Karl dem Großen seinen Ursprung und seine Capelle verdanken soll, und nachdem noch eine längere Strecke im Walde zurückgelegt und man um eine Straßenecke gebogen – da hört man Pferdegetrappel und sieht eine zahlreiche berittene Schaar in geringer Entfernung zu beiden Seiten der Straße aufgepflanzt. Es sind Feuchter Bürger, geführt von ihrem Förster, dem Postmeister und seinem Sohne, die zur Verherrlichung des Empfanges noch vier Postillons mitgebracht haben, die nun auf ihren Hörnern aus Leibeskräften blasen. Nach erfolgter respectvoller Begrüßung schließen sie sich den vorreitenden Einspännern an und geleiten die Gerichtsherren vollends nach Feucht. Unter dem Geläute sämmtlicher Kirchenglocken wird hier Einzug gehalten. Der Zeideloberrichter, nämlich der jedesmalige Waldamtmann von St. Laurenzerforst, der sich Tags vorher schon mit dem Gerichtsschreiber an Ort und Stelle eingefunden, empfängt die Herren und geleitet sie zu einem frugalen Frühstück in die zu Wirthschaftsräumen eingerichteten oberen Nebenzimmer im Gerichtsgebäude.
Mittlerweile sind auch die sämmtlichen Zeidler der benachbarten Orte, soweit sie nicht durch „rechtlich Ehehaft“ am Erscheinen verhindert waren, eingetroffen und lassen sich in den unteren Localitäten des Gerichtsgebäudes eine Kanne Weißbier schmecken. Meist sind es intelligent aussehende Bauersleute mit spitzigen „Dreimastern“ auf ihren Köpfen und langen, bis auf die Knöchel reichenden blauen Röcken. Sie scheinen eine Art Vorberathung zu halten, doch wird dabei mehr geflüstert als laut gesprochen.
Nach Verfluß einer Viertelstunde wird auf Verordnung des Oberrichters wieder mit sämmtlichen Kirchenglocken geläutet und in wohlgeordneter Procession geht es nun in die uralte Feuchter Kirche, wo nach Gesang und Gebet die Wichtigkeit des Tages und namentlich die Heiligkeit des Eides den Anwesenden zu Gemüth geführt wird; dann begiebt sich der Zug in der vorigen Ordnung in das Post- respective Gerichtsgebäude zurück und wird in den Gerichtssaal eingelassen. Der Oberrichter, die sechs Waldherren und die Consiliarii nehmen mit dem Gerichtsschreiber an einer langen Tafel Platz. Die Zeidler harren nach stehend der Dinge. Da erhebt sich der Oberrichter, empfiehlt sich den Herren vom Rathe zu fernerer hochgeneigter Unterstützung und Gewogenheit und ordnet die Besetzung des Gerichtes an, worauf sämmtliche Zeidler sich wieder aus dem Saale zurückziehen.
Zunächst werden nun die vier Feuchter Führer, gewöhnlich „Vierer“ genannt, berufen, die im Vorjahre mit dem Unterrichter die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten zu Feucht besorgten. Sie werden von den gesandten Herren gefragt, wie sich in diesem Jahre der „Unterrichter“ gehalten. Da sie sich mit seiner Amtsführung einverstanden erklären, wird er für’s laufende Jahr wieder zum Unterrichter bestellt, worauf man ihn eintreten und an der Seite des Oberrichters Platz nehmen heißt. Die „Vierer“ aber treten wieder ab. Hierauf werden vier der namhaftesten Zeidler aus der Gemeinde Feucht in den Saal berufen, um mit dem Unterrichter und den Rathsherren die Wahl der Vierer vorzunehmen. Auch hier wird keine Neuwahl nöthig. In dritter Reihe werden nun die zwölf Schöffen gemeinschaftlich von dem Oberrichter, den Rathsherren und dem Unterrichter erwählt und schließlich auch der bisherige Gerichtsschreiber und der Büttel bestätigt.
Nach der Beendigung der Wahlgeschäfte läßt man die Gewählten sämmtlich in den Saal treten, nimmt den Neuen einen förmlichen Eid ab und erinnert die früher schon Gewähltgewesenen durch Anrühren des schwarzen Richterstabes an ihre Pflicht. Ebenso wird mit den übrigen Zeidlern, die man nun herein läßt, bezüglich der Eidleistung verfahren und dann vom ältesten Rathsherrn folgende kurze Anrede gehalten:
„Liebe Freundt! Nachdem man von alter Zeit gutter gewohnheit herkommen nach St. Walburgentag, das Zeidelgericht unnd anderes zu befehen, zu ordnen unnd zu besetzen, Derhalben ich unnd meine Herren Collegen von einem erbern (ehrbaren) Rate, unsern Herren, bei solchem zu seyn, herausgeschickt worden, um deshalb nach unserm vermögen unnd gut bedünken helffen zu ordnen – Demnach bevelh ich euch anstat unserer Herren – Richter und Unterrichter in sachen ihres Ampths betreffend, gehorsam zu seyn.“
Nach Verlesung der Namen sämmtlicher Zeidler wurde dem Büttel befohlen, das Gericht zu verpönen, und dem Gerichtsschreiber die Bäcker-, Bierbrauer-, Wirths-, Metzgers- und Gemeindeordnung zu verlesen, worauf man zu den eigentlichen Verhandlungen schritt.
Angeklagt waren diesmal:
Die Ehefrau des Schneiders Sebastian Burkhardt zu Feucht und zwar deswegen, daß sie am Tage St. Sebaldi, den 19. August 1587, mit der Köchin des Schneiders Peter Balsam, ebenfalls in Feucht, einen Hader gehabt, dieselbe geschunden, geschmäht, … gescholten und dabei geflucht habe. Bei der Zeugenvernehmung stellte sich jedoch heraus, daß Beide sich gescholten, Schneider Balsam’s Köchin aber geflucht habe, was bei der etc. Burkhardt nicht der Fall gewesen.
Das Gericht erkannte zu Recht:
1) daß beide Parteien ernstlich sollen Frieden angeloben;
2) daß jede, insonderheit der ausgegossenen Schmachrede halber, zwei Tage und Nächte an die Bank mit dem Eisen gestraft werden solle; und
3) Balsam’s Köchin, weil sie geständigermaßen geflucht, zwei Sonntage nach einander vor die Kirche gestellt werden solle.
Angeklagt war ferner Herr Wolfgang Luder, Pfarrer zu Feucht, daß er am Sonntag vor Bartholomäi der Ordnung zuwider zu Linharden Thümbler’s gehaltener Kindtauf gegangen und allda gegessen und trunken hat.
Dagegen wußte der Herr Pfarrer Folgendes vorzubringen: „Ob man mir wohl von Alters her von jeder Kindtauf zehn Kreuzer zu Lohn zu geben schuldig – so ist mir doch in langen Jahren nie nichts an Geld gegeben worden, sondern ich bin dafür von Jedermann zu der Mahlzeit erfordert worden, wie Solches auch diesmal geschehen. Zudem ist an dem Ort nichts Unchristliches vorgegangen, daher ich denn unterthänigst gebeten haben wollt’, mich bei solchem Herkommen zu belassen; wo nit, den Unterthanen aufzulegen, mir fürder meinen Lohn, wie es von Alters Herkommen, (in Geld) zu geben.“
Auf diese Selbstvertheidigung hin wurde er der wider ihn aufgebrachten Rüge aus „angezeigter Ursachen“ für diesmal erlassen. Dagegen wurden zwölf Feuchter Bürger, die an der nämlichen Kindtaufe Theil genommen hatten, je mit einem halben Gulden gestraft. Endlich beschwerten sich die Feuchter „Vierer“ über die Ruinirung der Raine, die unordentliche Vorlegung der jedesmaligen Brodraitung, mangelhafte Fleischbeschau und Bieraich. Der Unterrichter erhielt gemessenen Befehl, diese Uebelstände [382] abzustellen. Da weiter nichts vorkam, wurde das Zeidelgericht unter Abläutung der Glocken geschlossen.
Nach solcher Mühe und Arbeit erwartete die Deputirten, Richter, Vierer, Schöffen und Zeidler ein kräftiges Mahl, das auf Kosten der Herrschaft, das ist des Rathes der Stadt Nürnberg, ausgerichtet wurde. Solche Liberalität bewies der Rath jedoch nur bei der ersten der jährlichen Sessionen. Bei den übrigen fünf bezahlte die „Herrschaft“ nur für die Rathsherren, Richter, Vierer, Schöffen, den Gerichtsschreiber, Büttel und die Fuhrleute; die Zeidler hatten für sich selbst zu sorgen. Während der Mahlzeit zogen die Feuchter und Wendelsteiner Schützen mit klingendem Spiel vor das Postgebäude und feuerten drei Mal ihre Musketen ab. Der Schluß des Tages entsprach dem Anfang desselben. Den Abgesandten des Raths und dem Oberrichter wurde von berittenen Feuchter Zeidlern und vier blasenden Postillons eine Viertelmeile weit das Geleite gegeben.
Die Kosten, die der Rath damals für eine Session aufzuwenden hatte, beliefen sich auf fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig Gulden.
Hiermit ist eines der wenigen in unsere Zeit hereinragenden urdeutschen Volksgerichte wahrheitsgetreu geschildert. Niemals konnte Eine Person für sich allein Richter sein; immer mußten Schöffen beigezogen werden. Daß diese Einrichtung auf ganz gesunder Basis beruht, beweiset der Umstand, daß man allenthalben auf diese Einrichtungen, sei es in der Form von Geschwornen- oder Schöffengerichten, wieder zurückkommt.
Es gab allerdings Zeiten, wo die Volksbildung auf so niedriger Stufe stand, daß die Schöffen ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren. Wir finden in einer Urkunde von 1570 die Klage, daß die elf Schöffen aus dem Bauernstande sehr unwissend gewesen seien, und daß sie blindlings „dem pro Interesse eines erbern (ehrbaren) Raths sitzenden (zwölften) Schöffen nachgebetet haben“, wie denn die verlustigen Parteien hierüber geäußert hätten: „Es wäre an dem Zeidelgericht nur eine Gans, wie dieselbige schnatteret, so datteren die andern hienach.“ Allein man darf hierbei nicht vergessen, daß in jener Zeit, namentlich durch die Rechtsgelehrten, unsere deutsche Sprache durch Beimengung lateinischer Brocken dem gemeinen Manne ganz unverständlich gemacht worden war.
Wie beliebt das Zeidelgericht gewesen, beweist der Umstand, daß man noch Anno 1806 hoffte, dasselbe werde, wenn auch in verbesserter Gestalt, wieder erstehen. Diese Hoffnung ist nun freilich nicht in Erfüllung gegangen. Dafür sind, wie bekannt, seit 1848 allenthalben Schöffen- und Geschwornengerichte in zeitgemäßer Form entstanden, und es liegt wohl im Geist der Zeit, daß das deutsche Volk bald in noch größerer Ausdehnung zur Rechtsprechung beigezogen werde.