Die Wengernalpbahn im Berner Oberland

Textdaten
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Autor: Alexander Francke
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Titel: Die Wengernalpbahn im Berner Oberland
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 539–542, 545
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Wengernalpbahn im Berner Oberland.

Von Alexander Francke.

Wer ein fremdes Land bereisen will, sollte sich nach einem Ausspruch Riehls zu Hause so gut vorbereiten, daß er den Einheimischen über ihr eigenes Land und dessen Bewohner Auskunft geben könnte. Ebenso sollte der Beuncher des Berner Oberlandes nicht geradeswegs ins Herz desselben, nach Interlaken, fahren, sondern einen oder zwei Tage in Bern Halt machen, um von hier aus mit spähendem Auge die Gebirgszüge zu gliedern, die den südlichen Horizont so unvergleichlich schön begrenzen. Alle die Größen, die uns im Oberland in ihrer Einzelwirkung oder in kleinen Gruppen imponieren – von Bern aus erscheinen sie als ein harmonischer Gesamtbau, wie von schöpferischer Künstlerhand angeordnet. Vorberge, die, vom Thunersee aus gesehen, so hoch ragen, daß die viel höheren Eisberge völlig hinter ihnen verschwinden, rücken für den Berner Beobachter in ihr richtiges Größenverhältniß und schmiegen sich bescheiden an den Fuß des Riesenwalles, der die Grenze zwischen Bern und Wallis bildet. Wer von einem der zahlreichen schönen Punkte in Berns Umgebung, der Kleinen oder Großen Schanze, dem Schänzli, der Enge oder gar von dem tausend Fuß über der Stadt gelegenen Gurten dieses Alpenpanorama genießt und an einem wolkenlosen Sommerabend das Glück hat, jene wunberbare Farbenskala zu sehen: das Grün der nahen Matten, das Blauschwarz der bewaldeten Höhenzüge, das lichte Braun der Vorberge und endlich das immer tiefer werdende Roth der Firnen und Gletscher, der wird diesen Anblick zu den erhebendsten Naturgenüssen zählen, die ihm je zu theil geworden sind, aber er wird auch ein unwiderstehliches Verlangen spüren, die Berge, die sich ihm so herrlich gezeigt, aus der Nähe kennenzulernen.

Vor allem ist es die Mittelgruppe, welche die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Jungfrau, Mönch und Eiger. Während am Westende Altels, Dolbenhorn und Blümlisalp, im Osten Wetterhorn, Schreckhorn und Finsteraarhorn jedes einzeln zum Himmel aufstreben, bilden die genannten Drei ein zusammenhängendes Ganzes von majestätischer Ruhe und vollendetem Ebenmaß der Linien. Von dieser dreizackigen, alles überragenden Krone aus ergiebt sich die Gliederung der Gebirgszüge und Gipfel, deren Zahl dem Fremden anfänglich verwirrend groß erscheint, fast von selbst. Rechts die nahezu senkrecht erscheinende, mächtige Eiswand ist dieselbe, welche man in Mürren zum Greifen nahe vor sich hat: von dem Einschnitt des berüchtigten Lawinenthors bis zur Kuppe des Breithorns, welches das Lauterbrunner Thal abschließt. Etwas vorgelagert, erheben sich die nur dem Kletterer zugänglichen Thürme des Gspaltenhorns, die blendend weißen Schneemassen der Blümlisalp, das seinen Fuß im Oeschinensee badende Doldenhorn und ganz im Osten das Balmhorn mit der Altels, deren mächtiges Schneedreieck bis auf den Gemmipaß hinunterreicht. Die schöne dunkle Pyramide zur Rechten der Blümlisalp ist der Niesen, dessen im Albristhorn bei Adelboden gipfelnde Kette das Kandel- und Simmenthal voneinander trennt. Er wetteifert an Schönheit der Aussicht mit seinem Nachbar, dem Stockhorn. Diesseit vom Niesen weitet sich das Becken des Thunersees. Jener Felskamm, der Sigriswyler Grat, über den die Zacken der Höhen von Beatenberg, das Gemmenalphorn, hervorlugen, steht bereits am Nordufer des Sees, während die beiden unter der Jungfrau sichtbaren Höhenzüge seine südliche Einfassung bilden. Der höhere derselben, das breite Dach der Sulegg, die wilde Schwalmeren und das Schilthorn, bergen an ihrem Südabhang auf grüner Terrasse über jäher Felswand die Aussichtsjuwele Eisenfluh und Mürren; der niedrigere, der Leissigergrat, trägt auch zwei Berühmtheiten auf seinem Rücken, den Abendberg und die Heimwehfluh, die, von Interlaken aus leicht zugänglich, einen köstlichen Ausblick auf das Böbeli, die beiden Seen und das Hochgebirge gewähren.

Ich merke es schon, der geneigte Leser möchte nun, unversehens am Eingang des Lauterbrunner Thals angelangt, schnurstracks hinauf „zu der Berge dunkelschattiger Wand, wo sie blüh’n, die Alpenrosen“. Nur noch einen Augeblick Geduld, damit wir auch im östlichen Theil des Oberlandes uns schnell orientieren können. Hier auf dem Aussichtshügel der Großen Schanze bei Bern, zu unseren Füßen die ehrwürdige Zähringerstadt mit ihrem machtvoll aufwärts strebenden Münsterthurm, verlohnt sich’s wohl, noch etwas zu weilen und, wiederum von der Jungfraugruppe ausgehend, die Augen links hinüberschweifen zu lassen. An zwei Eiszacken den Viescherhörnern, vom Eiger herunterkletternd gelangen wir zum höchsten der von Bern aus sichtbaren Berge, dem Finsteraarhorn (4275 Meter) und zu dem ebenso unnahbar aussehenden Schreckhorn, neben welchem das Wetterhorn einen schier gemächlichen Eindruck macht. Ganz im Osten schimmert es weiß über den Brienzergrat herüber: das Triftgebiet, die Grenze des Kantons Bern gegen Uri bezeichnend. Die dunkle Linie vor dem Wetter- und Schreckhorn ist die Faulhorngruppe mit dem Gipfel gleichen Namens und dem Schwarzhorn und WIldgerst. Von dieser Höhe stürzt, durch den vorgelagerten Brienzergrat für uns verdeckt, der Gießbach in sieben tannenumrahmten Absätzen in den Brienzersee, den träumerischen Genossen des Thunersees, die miteinander, ein seelenvolles Augenpaar, dem Oberland Reiz und Leben verleihen.

Folgt man mit den Blicken der schräg nach links verlaufenden Linie des Eiger, so würde man, auf den Thalboden gelangt, nach Grindelwald kommen, und steigt man am Westabsturz der Jungfrau über das sogenannte „Rothe Brett“ senkrecht in die Tiefe, so befindet man sich in Lauterbrunnen. Lauterbrunnen und Grindelwald, das sind Ausgangs- und Zielpunkt einer Fahrt, zu der ich heute den Leser einladen möchte. Ganz so schnell wie soeben mit den Blicken wird es zwar nicht gehen, aber doch viel schneller und müheloser, als es bisher möglich war. Zwischen beiden Orten liegt nämlich [540] ein breiter Bergrücken von mehr als 2000 Metern Höhe, den man bisher entweder umgehen oder umfahren oder im Schweiße seines Angesichts übersteigen oder überreiten mußte. Wer hätte nicht schon von diesem Bergrücken gehört! Wengernalp und Kleine Scheidegg sind Namen, an die jeder Schweizerreisende mit Entzücken, jeder, der Reisepläne macht, mit Sehnsucht denkt. Und doch vielleicht nicht alle mit Entzücken. Die erste Stunde Wegs, von Lauterbrunnen nach Wengen, ist einer der steilsten Zickzackpfade weit und breit, heiß beim Hinansteigen, eine „Kniebrechete“ beim Herunterkommen, und auch die dann folgenden anderthalb Stunden bis zur Wengernalp auf vom Regen ausgewaschenen Wegen waren manchmal recht mühsam. Und erst auf der Grindelwalder Seite, unterhalb Alpiglen! Bei trockenem Wetter ging es allenfalls noch an, bei Regenwetter aber betrachteten sämtliche Rinnsale den grabenartigen Fußweg als ihren Hauptabzugskanal, den der Wanderer nun mit dem Wasser und schiefrigem Schlamm theilen mußte, Für das stärkere Geschlecht bis zu einem gewissen Alter sind das zwar nur kleine Leiden, die vielleicht zur Kategorie der angenehmen Strapazen gerechnet werden können. Aber eben so groß, wenn nicht noch größer, ist wohl die Zahl derer, denen durch Mühseligkeiten dieser und anderer Art der Einblick in die Großartigkeit der Hochgebirgswelt, das Einathmen der belebenden Bergluft verwehrt war. Sagt der Naturfreund mit einer gewissen Berechtigung: die jungfräuliche Schönheit der Natur soll nicht durch den Rauch und Lärm der Lokomotive entweiht werden, so darf der Menschenfreund dem entgegenhalten, daß auch dem Schwachen und Erholungsbedürftigen die körperliche und geistige Erfrischung ermöglicht werden soll, welche der Gesundbrunnen der Alpen in unversieglicher Fülle ausströmt.

Darum hat man, meiner Ueberzeugung nach, alle Ursache, sich des Unternehmungsgeistes zu freuen, der die finanziellen und technischen Mittel fand, um über die Kleine Scheidegg einen Schienenweg zu legen. Bereits im vergangenen Herbst war der Bahnbau so weit vollendet, daß am 1. Oktober eine Probefahrt ohne Unterbrechung von Lauterbrunnen bis Grindelwald ausgeführt werden konnte, und jetzt, im Juni 1893, ist die Linie dem öffentlichen Verkehr übergeben worden.[1] Um sich über die Bedeutung dieses Ereignisses klar zu werden, ist es nöthig, sich das Gelände zu vergegenwärtigen.

Damit wir eine ihrer vollkommensten Schöpfungen aus nächster Nähe bewundern können, hat die Natur selber zu Füßen der Jungfrau eine Art Aussichtswarte errichtet. Es ist der Höhenzug, der mit seinem Südende sich ans Hochgebirge anlehnt, im Norden schroff gegen Zweilütschinen abfällt. Am Fuße ein massiger Bau, verschärft er sich oben zu einem zackigen Grat, dessen Westseite von vielen Runsen durchfurcht ist. Drei aussichtsreiche Gipfel krönen den Kamm, das Lauberhorn, zunächst den Hochalpen, der wilde Tschuggen und der Männlichen. Letzterer ist einer der schönsten Punkte des Berner Oberlandes, ja vielleicht der Schweiz. Auf der Scheide zweier großartiger Thäler, des Lauterbrunner und des Grindelwalder Thales, stehend, überschaut man beide wie mit einem Blick. Den Silberbändern der schwarzen und weißen Lütschine folgend, schauen wir links in den grünen, häuserübersäten Thalkessel von Grindelwald, majestätisch überragt vom Wetterhorn, dem die Gletscher wie weiße Locken vom Haupte wallen, rechts in das von senkrechten Felsen eingefaßte Lauterbrunner Thal, in das aus den Tannenwaldungen vor Mürren der Staubbach hinabschwebt, dem im Hintergrunde, vom Gletscher des Breithorn genährt, der Schmadribach seine Wasser über die Felsen zuwälzt. Und gerade vor uns, da stehen die drei, deren Schönheit zu schildern meine Feder sich zu schwach fühlt, Altmeister Gottlieb Studer, der in seinem 86jährigen Leben soviel zur Ausbreitung und Vertiefung der Alpenkunde gethan, hat ein treffliches Panorama vom Männlichen gezeichnet, das deutlicher spricht. Und drei Genfer Maler, Furet, Baud-Bovy und Burnand, die den malerischsten Aussichtspunkt der Schweiz suchten, um ein Kolossal-Panorama für die Ausstellung in Chicago zu malen, entschieden sich für den Männlichen.

Der Schienenweg nun, der die Schönheiten dieses Bergrückens leichter zugänglich machen soll, läßt den Männlichen völlig unberührt. Am entgegengesetzten Ende, bei der Scheidegg, am Fuße des Eiger, ist die Station, wo man die Bahn verlassen muß, um nahezu ebenen Wegs zum Männlichen zu gelangen. Aber nicht einmal auf der Scheidegg oder auf der Wengernalp kann die Eisenbahn als ein störendes Element betrachtet werden. Wer es nicht gesehen hat, macht sich keinen Begriff davon, zu welcher Liliputerscheinung der Mensch und seine Werke im Hochgebirge zusammenschrumpfen, wie sie erst recht dazu dienen, uns einen Maßstab für die gewaltigen Größenverhältnisse zu liefern, von denen wir hier umgeben sind. Als ich im vorigen Jahre nach Mürren wanderte, da hatte ich beim Hinüberblicken nach der anderen Thalseite meine Freude an den schöngeschwungenen, soliden Steinbögen, welche an den Felswänden hin die neue Bahnlinie nach Wengen bezeichneten, und ich fragte mich, ob dieselben dereinst nach Jahrhunderten, wenn man nur noch im Luftballon Bergfahrten macht, ebenso sehr die Bewunderung unserer Nachkommen hervorrufen werden, wie wir heute z. B. die römischen Aquaedukte an den hohen Thalwänden des Val Tournanche bewundern. Plötzlich ein schriller Pfiff. Ein kleiner dunkler und ein etwas längerer heller Gegenstand bewegen sich langsam im Thal vorwärts, kriechen über eine Brücke, die ich früher nie gesehen hatte, und steuern gerade auf die Felswand los. Es ist ein Arbeitszug der Wengernalpbahn, eine Lokomotive und drei mit Balken beladene Wagen, von ersterer aufwärts geschoben. Sah das aber aus wie ein Bahnzug? Eine Ameise ist’s, die einen Holzsplitter oder sonst einen Fund dem Bau zuträgt, ein Spielzeug, welches das Riesenfräulein von Burg Nydeck gerade so vergnügt ihrem Vater in der Schürze heimbringen würde wie den Bauer mitsamt seinem Pflug Anno dazumal.

Lassen wir also unsere Vorurtheile zu Hause und steigen wir unbefangen in einen der hübschen luftigen Wagen, die zur Abfahrt von Lauterbrunnen bereit stehen. Giebt es etwas Herzerfreuenderes als dieses lachende Wiesengrün von Lauterbrunnen? Eben fuhren wir noch durch das enge Thal hin unter der dunklen Hunnenfluh, da plötzlich thut sich’s auf. Rechts aus luftiger Höhe schweben die aufgelösten Wellen des Staubbachs hernieder, umwoben von zarten Schleiern, in deren Wasserstäubchen sich ein Regenbogen wölbt, links steigen die Wellenlinien saftiger Matten vom Ufer der schnell dahinrauschenden Lütschine empor nach Wengen, übersät mit malerischen Wohn- und Vorrathshäuschen und schattigen Ahornbäumen, und oben drüber glänzt in wolkenloser Reinheit die Königin der Berge, die Jungfrau. Hinauf, zu ihr! Welch wohliges Gefühl, dem Staub und Getriebe der Straße entronnen zu sein und nun leicht wie ein Vogel aufwärts zu schweben in die Gefilde reiner Bergluft! Sogar dem leidenschaftlichen Fußgänger gefällt es nicht übel, einmal zur Abwechslung mühelos zu genießen, was ihm die Natur beut. Wie mag erst dem Schwachen, dem bisher solcher Genuß ganz versagt war, zu Muthe sein!

Unser Miniaturzug hat das Thal durchquert und rollt in gleichmäßig ruhigem Lauf unter einer senkrechten Felswand hin bergauf. Wir kreuzen den Zickzack des Fußweges. Noch einige Minuten und wir erreichen, in weitem Bogen nach rechts schwenkend, die Terrasse von Wengen. Das lieblich gelegene Dörfchen birgt verschiedene Pensionen, die von Schweizern und Deutschen gern zu längerem Aufenthalt benutzt werden. Die Gebäude im Thalgrunde haben schon das zierliche Format der Häuschen angenommen, wie man sie in den Schnitzereiläden ausgestellt sieht. Drüben auf der jenseitigen Terrasse schauen die Gasthöfe von Mürren behäbig ins Thal, Riesengebäude, und doch wahrscheinlich schon bald wieder zu klein, um alle die Gäste zu beherbergen, welche die Drahtseilbahn unermüdlich hinaufbefördert. Alle wollen hinauf, wenige wieder herunter von diesem entzückenden Punkt.

Unsere Maschine hat nach der steilen Anfahrt einen tiefen Zug aus dem Wasserreservoir gethan und setzt nun, vor Feuereifer schnaubend, ihren Weg fort. Einige mit Bergstöcken bewaffnete junge Leute sind ausgestiegen, um in unmittelbarem Anlauf die Warte des Männlichen zu erklimmen. Die meisten ziehen vor, erst der Wengernalp einen Besuch zu machen unb dann von [541] der Scheidegg aus zum „Rigi des Berner Oberlands“, auf dem ein Wirthshaus auch zum Uebernachten einladet, hinüberzuwandern. Die nun kommende Strecke ist vielleicht die schönste der ganzen Bahn. Das dieser Schilderung beigegebene ganzseitige Bild (S. 545) ist etwas unterhalb Wengen aufgenommen und zeigt vorwiegend den Charakter des Lieblichen. Oberhalb Wengen kommen schon einige ernstere Linien in dieses Bild. Von dem Felskamm, der dem Gebirgszug entragt wie der Kiel eines gescheiterten Schiffes, sind vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden mächtige schwarze Blöcke herabgestürzt, hoch und fest genug, um jetzt Ziegenställen, die sich zwischen ihnen angesiedelt haben, als Schutz gegen neue Geschosse zu dienen. Dunkler Tannenwald nimmt uns auf. Auf seinem Untergrund erscheint der Firnschnee der Jungfrau noch weißer und die Pyramide des Silberhorns strahlt so blendend am tiefblauen Himmel, daß unser Auge den Glanz kaum zu ertragen vermag. Ist es nicht merkwürdig? Je höher wir kommen, desto höher erscheint die Jungfrau! Der Tannenwald lichtet sich. Im Wettlauf mit der Lokomotive bleibt ein Baum nach dem anderen zurück. Nur die kleinen haben noch eine Zeitlang Athem genug. Dann bleiben auch sie ermattet am Wege sitzen, und siegesgewiß stößt der Dampfhahn einen schrillen Jauchzer aus: wir sind auf der Wengernalp! – – Ist das die bräutliche Jungfrau, die wir von Bern aus bewunderten, rosig erglühend im Kuß der Abendsonne? Wohl ist es die Jungfrau, aber im Helm und Panzer Minervas, eine hehre, Achtung gebietende Göttin. Furchtbare Felswände warnen vor der Annäherung und droben in den Schießscharten blinken überhangende Eisstücke, bereit zum Schuß. Horch, was ist das? Am ganzen Himmel kein Wölkchen und doch unverkennbares Donnerrollen. Es nimmt zu, wächst von Sekunde zu Sekunde – seht ihr denn nicht? Da drüben, dort an der hohen, senkrechten Wand! Alles folgt mit den Augen der angegebenen Richtung: eine Lawine! Breit und schwer wie ein Wasserfall stürzt es herab, immer neue Massen folgen nach – Schnee mit Eisstücken untermischt – lagern sich auf der mittleren Terrasse, wachsen auf dieser an, bis sie gefüllt ist, und stürzen noch eine Stufe tiefer, bis sie endlich im Trümletenthal anlangen und hier den Bach nähren, der, in einem Spalt verschwindend, eine halbe Stunde von Lauterbrunnen mit wahrhaft höllischer Gewalt aus den Felsen hervorbricht: der berühmte Trümletenfall.

  Eiger.   Mönch.   Jungfrau. 0 Silberhorn.

Blick auf die Jungfraukette bei der Station Scheidegg.

Hier sollte man mindestens einige Stunden Rast machen. Gemächlich auf der Terrasse vor dem Gasthof sitzend, kann man ohne Erhitzung, ohne Anstrengung die Großartigkeit eines Hochgebirgspanoramas aus nächster Nähe genießen. Ebenso sehr wie die Jungfrau verdienen 1hre Nachbarn Mönch und Eiger mit ihren Gletschern Bewunderung. Besonders der Eiger zeigt von hier aus einen überraschend kühnen Bau, und es gehört gar nicht zu den Seltenheiten, daß man hier eine Besteigung dieser herrlichen Pyramide von A bis Z mit dem Fernrohr verfolgen kann. Noch ist aber unser Sehnen nicht ganz gestillt. Die Kleine Scheidegg (2069 m), der Scheitelpunkt zwischen Lauterbrunnen und Grindelwald, liegt so verlockend nahe, daß wir keine Ruhe haben, bis wir droben sind. In einer guten Viertelstunde ist die Höhe erreicht, und nun hegen wir wirklich für den Augenblick keinen Wunsch mehr als: hier bleiben. Zu dem bisher Geschilderten ist mit einem Ruck eine mächtige Erweiterung der Aussicht hinzugekommen. Unser Berg, der auf der Lauterbrunner Seite so schroff abfällt, dacht sich nach der Seite, die sich nun aufgethan hat, sanft ab. Nur der unterste Theil ist etwas steiler und verdeckt noch den Thalgrund von Grindelwald, während es drüben ebenso allmählich wieder ansteigt zur Großen Scheidegg, der Wasserscheide zwischen Grindelwald und Meiringen. In einer Reihe mit dem Eiger halten der Mettenberg, der Fuß des Schreckhorns, und das Wetterhorn gegen Süden und Osten Wacht, während im Norden die Faulhornkette das Thal gegen rauhe Winde schützt.

Welche Bedeutung man hier oben der Wengernalpbahn beimißt, mag man daraus ersehen, daß im vergangenen Herbst das noch sehr gut erhaltene Scheidegghotel niedergerissen und durch ein neues größeres ersetzt wurde. Und in der That, wenn man bedenkt, daß schon bisher eine förmliche Völkerwanderung zu Fuß, zu Pferde und mit Sänfte auf diesem Saumpfad einherzog, so darf man wohl erwarten, daß infolge des neuen, angenehmeren und billigeren Verkehrsmittels der Besuch ganz außerordentliche Verhältnisse annehmen wird. Für diejenigen, welche es vorziehen und vermögen, die Berge auf eigenen Füßen zu ersteigen, giebt es noch bahnlose Gipfel genug, ja sogar hier oben winken ihnen noch solche von verschiedenster Höhe und Schwierigkeit: die Spaziergänge auf das Lauberhorn und den Männlichen, die schon Uebung erfordernde Besteigung des Tschuggen, die Wanderungen zu der interessanten Eishöhle des Eiger und zur Klubhütte am Guggigletscher und endlich die nur unter guter Führung und bei genügender eigener Leistungsfähigkeit anzurathenden Touren auf Eiger, Mönch, Jungfrau oder Silberhorn. Die Jungfraubesteigung ist von dieser Seite außerordentlich schwierig und gefährlich. Man lese die Beschreibung von Güßfeldts Abstieg („In den Hochalpen“, S. 170 u. ff.). Spräche der Erzähler nicht in der Ich-Form, so würde man kaum glauben, daß er aus solchen Fährnissen lebend davongekommen ist.

Die Sonne rüstet sich zum Untergang. Wer nicht auf der [542] Scheidegg übernachten will, muß Abschied nehmen. In demselben ruhigen Geleise wie die Auffahrt vollzieht sich die Niederfahrt. Alpenrosen schmücken die Hänge. Die Baumregion naht wieder. Aus der tief eingerissenen Schlucht zu unserer Linken tauchen Arven auf, jene malerische, wetterfeste Kiefernart, die leider in unseren Alpen immer seltener wird. Hier finden sie sich noch in großer Zahl. Auch der Ahorn erscheint wieder. Wir fahren zwischen Obstgärten und den freundlich dreinschauenden Bauernhäusern von Itramen hindurch, überschreiten die schäumende Lütschine, noch ein letztes Pusten der Lokomotive, um die Höhe des jenseitigen Ufers zu erreichen, und wir sind in Grindelwald, dem grünen Gletscherthal. Diese beiden Worte bezeichnen die Lage: nach allen Seiten üppig grüne Matten und unmittelbar daneben die Hochgebirgswelt im ewigen Eiskleide. Hier ist es gut sein. Aus dem Schutt des großen Brandes, der im vorigen Sommer einen Theil des blühenden Dorfes vernichtete, erheben sich neue Wohnungen. Die schwer heimgesuchte Bevölkerung hat den Muth nicht sinken lassen und hofft, daß die neue Bahn den Verkehr und ihren Verdienst vermehren werde.

Wie nun der Leser seine Weiterreise einrichten, ob er nach Interlaken fahren oder über die Große Scheidegg nach Rosenlaui und Meiringen wandern oder ob er vorläufig gar nicht weiter will, das muß ich ihm überlassen. Schön ist’s im Oberland überall, wenn man vom Landregen verschont bleibt. Glückliche Reise!


[545]

 Der „Schwarze Mönch“. Großhorn. Breithorn. Staubbachfall.

Ansicht der Wengernalpbahn bei Lauterbrunn.
Nach einer Photographie von A. Gabler in Interlaken.


  1. Die Wengernalpbahn ist eine Zahnstangenbahn, Leitersystem Riggenbach nach Patent der Maschinenfabrik Bern, und hat 4½ Millionen Franken gekostet. Größte Steigung 25%. Spurweite 80 cm. Kleinster Kurvenradius 60 m. Fahrgeschwindigkeit 7 bis 9 km in der Stunde. Fahrzeit etwa 2½ Stunden. Stationen: Lauterbrunnen 799 m, Wengen 1277 m, Wengernalp 1877 m, Kleine Scheidegg 2069 m, Alpiglen 1618 m, Grund 946 m, Grindelwald 1037 m. Direktor der Bahn ist Hans Studer, derselbe, der auch die Oberländer Thalbahnen und die Mürrenbahn (Seilbahn und elektrische Bahn) leitet, ein um die Hehung seines engeren Vaterlandes sehr verdienter Mann. Der Bau selbst stand in der Hauptsache unter der Leitung des Ingenieurs Koller aus Interlaken.