Die Wallfahrtscapelle „Schüsserlbrunn“ am Hochlantsch in Steiermark
[72] Die Wallfahrtscapelle „Schüsserlbrunn“ am Hochlantsch in Steiermark. (Mit Abbildung S. 69.) Tiefe Stille herrscht in der erhabenen Natur. Die sinkenden Strahlen des Abendlichtes geben den klaren himmelhohen Kalkwänden den letzten rosigen Schimmer, einem entweichenden Leben vergleichbar. An dem umdüsterten Abendhimmel steigt der Vollmond empor; sein zitterndes Licht kämpft mit den auf- und niederwallen Thalnebeln. Wir befinden uns in Obersteiermark in einsamer Felsschlucht an jener Stelle, wo der nach Norden gekehrte Gipfel des sechstehalbtausend Fuß hohen Hochlantsch wild zerrissen, theils senkrecht, theils überhangend, abstürzt. Solche Terrains müssen vereinsamt sein; sie bieten weder dem Menschen noch der Thierwelt Schutz und gesicherten Aufenthalt. Trotz des Verlassenseins gewährt diese wilde Einöde dem forschenden Auge des Touristen eine liebliche Unterbrechung und dem Naturfreund ein Bild abgeschiedenen stillen Friedens.
Wenn wir auf der Sohle der Thalschlucht drunten vor jenen gigantischen Steinzinnen des Hochlantsch stehen, so finden wir, von hier aus freilich unnahbar, in beiläufig zwei Drittel der Höhe eine schüsselartige Aushöhlung inmitten der Felsenwände. Klein in der Anlage, gegenüber den Größen und der Erhabenheit der Natur, ist diese Felsenschüssel von Menschenhand auch kleinlich benutzt. In winziger Form an und auf dem Felsen klebend, überrascht uns eine Wallfahrtscapelle mit einigen Miniaturhütten und dem Bilde des Gekreuzigten, von einem roh gezimmerten Tisch nebst Bank umgeben. Eine keineswegs regelrecht in den Felsen gehauene Stiege führt von schwindelnder Höhe herab zu diesem sonst allerwärts abgeschlossenen und völlig unnahbaren Punkte. Ein schneidender Contrast mit den umgebenden Bergriesen, schwebt das schmucklose Kirchlein mit armseligen Hütten droben auf seichter, windumbrauster, wahrscheinlich durch herabsickernde Feuchtigkeit entstandene Nische.
Durch viele Jahre lebte in dieser Einsamkeit ein alter Einsiedler, bei dem der ermüdete Wanderer oder die während des Sommers zahlreich dort verkehrenden Wallfahrer nothdürftige Erquickung bei köstlichem Trinkwasser und Brod fanden. Aber auch dieses fromm abgeschiedene Höhenleben schützt nicht vor den Segnungen der Cultur. Der gegenwärtige Nachfolger jenes Eremiten entbehrt des romantischen Beigeschmacks seines Vorgängers: der Mann schenkt außer dem Krystallnaß des hier sprudelnden Felsenquells auch – Branntwein, wahrscheinlich um einen Theil der frommen Besucher in gehobene Stimmung zu versetzen. Ebenso wenig wie mit seinem Eremitencharakter, bringt ihn dieser Umstand in Conflict mit seiner gleichzeitigen Stellung als Meßner und Vorstand der ihm anvertrauten Andachtsstätte. Wer je diese Stelle betreten hat, dem wird der Blick in die grausig schwindelnde Tiefe und die durch einander wogende Bergwelt für immer unvergeßlich sein.
Schüsserlbrunn ist von der Südbahnstation Mixnitz ab am leichtesten zu erreichen. Ein zweistündiger Marsch durch das herrliche grüne Gebirgsthal führt zum Fuße des Hochlantsch, eines jener steierischen Berge, welche von Localunkundigen, selbst wenn sie die geübtesten Bergbesteiger sind, nie ohne Führer betreten werden sollten. Der jähe Absturz des Berges auf der Nordseite, von weiten, trichterförmigen Rissen bis in den Gipfel hinauf durchzogen, bietet ohne sichere Leitung dem Wanderer ungewöhnliche Gefahr. Was den Aufstieg und Besuch der Wallfahrt Schüsserlbrunn von fast allen Alpenpartien wesentlich unterscheidet, ist der Umstand, daß die Erreichung des Ortes unmittelbar vom Thale aus von keiner Seite möglich ist. Will man die unvergleichlichen Reize dieser Partie genießen, so darf man sich die Mühe nicht verdrießen lassen, einen ansehnlichen Aufstieg bis unter den Berggipfel zu unternehmen, um von da ab zu der der Frömmigkeit geweihten Felsennische in luftiger Höhe zu gelangen.