Die Wahrzeichen der deutschen Kaiserstadt

Textdaten
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Autor: Ferdinand Meyer
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Titel: Die Wahrzeichen der deutschen Kaiserstadt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 241–243
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[241]
Die Wahrzeichen der deutschen Kaiserstadt.
Von Ferdinand Meyer.
1. Der „Neidkopf.“ – Die „Rippe.“


„Berlin hat keine Geschichte!“ So lautete noch vor wenigen Jahren das geflügelte Wort, wenn man von einer historischen Vergangenheit der heutigen Kaiserstadt im Hinblick auf jene Städte des deutschen Vaterlandes sprach, die im grauen Alterthum als mächtigere Zeitgenossinnen auf die kleine, unbedeutende Schwesterstadt an der Spree vornehm herabblickten.

Freilich reden die Steine hier nicht von Karl dem Großen, wie in Aachen; eben so wenig zeugen gothische Dome von geistlichen Herren und mächtigen Bischöfen, wie in Straßburg, Köln und Magdeburg, ja selbst in Brandenburg. Aber wenn seine Geschichte auch nicht aus solchen Denkmälern spricht, so bleibt Berlins Vergangenheit doch eine mächtige, deren richtigeres Verständniß und größere Würdigung erst seit einem Decennium durch den „Verein für seine Geschichte“ herbeigeführt worden ist.

Zu den Dingen nun, die dem Aeußeren einer Stadt ein historisches Gepräge verleihen, gehören auch jene Wahrzeichen, deren die älteren Städte noch viele besitzen, und die mit den sich daran knüpfenden Sagen und Ueberlieferungen gleichsam als dämmernde Sterne aus dem Dunkel der Vergangenheit herüberleuchten. Auch Berlin hat solche Wahrzeichen noch aufzuweisen, obgleich Unverstand und Pietätlosigkeit mit einem Theil derselben, als vermeintlichem „altem Gerümpel“ aufgeräumt – zuletzt mit der Gerichtslaube und ihrem ältesten Stadtzeichen, dem Kolk. Wir lassen denselben außer Betracht, weil er, der Stadt entfremdet, von dem durch Kaiser Wilhelm auf dem „Babelsberge“ wieder errichteten Lobium herabschaut.

Ein anderes Wahrzeichen ist der sogenannte „Neidkopf“ an dem Hause Nr. 38 der Heiligegeiststraße. Zwei Ueberlieferungen knüpfen sich an das einem Medusenhaupt ähnliche, von Schlangen statt der Haare umwundene Zerrbild, dessen neidischer Blick und ausgereckte Zunge nach dem gegenüberliegenden Hause Nr. 11 gerichtet sind.

König Friedrich Wilhelm der Erste, dieser wunderbare Natursohn, dessen Bestreben darauf gerichtet war, aus seinen Unterthanen gute Hauswirte und Soldaten zu machen, liebte es, die Stadt zu durchstreifen, um das Leben und Treiben seiner Berliner zu beobachten, nicht unerkannt in schlichter Kleidung, sondern in voller Uniform, zu der auch jener verhängnißvolle Rohrstock gehörte – ein Schrecken aller Faullenzer und Müßiggänger in den Straßen der Residenz. Auf diesen seinen Streifzügen war dem Monarchen in der Heiligegeiststraße ein Goldschmied aufgefallen, dessen Werkstatt in dem Parterre eines elenden, baufälligen Hauses sich befand. Hier saß der fleißige Mann oft bis spät in die Nacht hinein, mit seiner Kunst sich beschäftigend.

Eines Abends, als der geschäftige Hammerschlag des Meisters noch weithin durch die lautlose Stille der Straße ertönte, trat plötzlich der König in die Werkstatt. Anfänglich eingeschüchtert durch den unerwartet hohen Besuch, schwand die Befangenheit des schlichten Meisters bei des Königs herablassenden Fragen nach seinen Verhältnissen. In offener Weise schilderte er seine bedrängte Lage, die ihn oftmals zwinge, größere Arbeiten wegen mangelnder Auslagen für edles Metall zurückweisen zu müssen. Diese Offenheit gefiel dem Monarchen; er bestellte bei dem Meister ein goldenes Tafelservice, zu dessen Anfertigung das erforderliche Metall aus der Schatzkammer geliefert wurde. Der glückliche Goldschmied begab sich sofort an die Arbeit, und öfter besuchte ihn der König, um sich von dem Fortgang des unter den Händen des Künstlers sich gestaltenden Werkes zu überzeugen. Als das Service vollendet war, bemerkte [242] der hohe Auftraggeber unter anderen Verzierungen auf einer der Schüsseln einen zur abscheulichen Fratze gestalteten weiblichen Kopf. Auf Befragen erzählte der Meister, wie in dem gegenüber gelegenen Hause ein anderer, reicher Goldschmied wohne, dessen Frau und Töchter, aus Aerger über das unverhoffte Glück ihres Nachbarn, ihm die sonderbarsten Grimassen und Fratzen von den Fenstern ihrer Wohnung aus geschnitten. Da habe er es denn nicht unterlassen können, neben den Arabesken eine dieser Fratzen nachzubilden.

Um den strebsamen Fleiß zu belohnen, dem hämischen Neid aber die ihm gebührende Strafe zu ertheilen, ließ der Monarch das armselige Haus niederreißen und ein stattlicheres für seinen nunmehrigen Hofgoldschmied errichten. Inmitten der Front aber, zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk, befahl der königliche Baumeister die Anbringung jenes Zerrbildes, dem die Berliner alsbald den Namen „der Neidkopf“ beilegten. Diese Benennung hat das Haus im Volksmunde bis auf den heutigen Tag behalten.

Der „Neidkopf“.

Die zweite Erzählung, neueren Ursprungs, führt uns in die Zeit des letzten brandenburgischen Kurfürsten und ersten Preußenkönigs zurück.

Es war am 18. August des Jahres 1695. Die Glocken der Domkirche auf dem Schloßplatze verkündeten den Beginn der feierlichen Grundsteinlegung zur Parochialkirche in der Klosterstraße. Kurfürst Friedrich der Dritte war mit seinem ganzen Hofstaat anwesend und wohnte zunächst dem unter einem Zelte durch den berühmten Kanzelredner Ursinus (später als Ursinus von Bär in den Adelsstand erhoben) abgehaltenen Gottesdienste bei. Nach Beendigung desselben legte der Kurfürst eine Bibel mit schwer vergoldeten Beschlägen und den Heidelbergischen Katechismus nebst einer Büchse mit Münzen und Medaillen in den Grundstein, der dann in üblicher Weise auch von den Mitgliedern der fürstlichen Familie mit Kalk bedeckt wurde. Darauf sprach Ursinus abermals ein Gebet, und die Schüler des grauen Klosters stimmten den 101. Psalm, David's Regentenspiegel, an. Während der Worte: „Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande, daß sie bei mir wohnen,“ drängte ein Jüngling sich durch die Versammlung und überreichte knieend dem Kurfürsten ein Schriftstück. Dieser winkte ihm, er solle ihm unter das Zelt folgen, und hier erzählte der Fremdling, ein Goldschmied Namens Beyrich, wie ihm im Traume der Auftrag geworden, eine silberne Königskrone zu fertigen und sie am Tage der kirchlichen Grundsteinlegung dem Kurfürsten an dem Orte zu überreichen, wo einst dessen Ahn (Friedrich der Erste von Hohenzollern) die Huldigung der Mark im „Hohen Hause“ empfangen. Obwohl nur arm, habe er doch gethan, wie der Traum ihm geboten. Und mit dem Hinzufügen, daß dieses sein geringes Werk, wie die Traumesverheißung ebenfalls lautete, mit in den Grund gesenkt werden möge, überreichte er dem Kurfürsten eine kleine silberne Krone. Friedrich der Dritte, eingedenk wohl der Prophezeiung am Tage seiner Taufe, daß er dereinst die Königskrone tragen werde, blickte nachdenklich auf die ihm dargereichte hin, und brach dann in die Worte aus: „Es ist Gottes Wille und ein Geheimniß vor der Welt.“

Beyrich empfing darauf von dem Kurfürsten die erforderlichen Geldmittel, um sich eine eigene Werkstatt einzurichten. Als dann sechs Jahre später Friedrich der Dritte als König Friedrich der Erste in Berlin einzog, erinnerte er sich jener Begebenheit bei der Grundsteinlegung und sandte dem Meister Beyrich ein Gastmahl in sein Haus, damit auch er sich erfreue an der Königskrone. Wieder sechszehn Jahre später – Friedrich der Erste war inzwischen

Die „Rippe“.

zu seinen Ahnen versammelt – besuchte Friedrich Wilhelm der Erste den strebsamen Meister und bestellte sich bei ihm ein goldenes Service. – Hier nun beginnt der Fortgang der Erzählung mit der ersten in Uebereinstimmung zu treten, nur daß der König bei seiner öfteren Anwesenheit in des Künstlers Werkstatt die darüber neidischen Fratzen am Fenster des reichen Goldschmieds selbst erblickte.

Soweit die Sage. Auf dem Gebiete der Forschung nun ist durch den Geheimen Hofrath L. Schneider festgestellt, daß das Haus Nr. 38 in der Heiligegeiststraße in den Jahren 1711 bis 1746 einem Goldschmied, Namens Lieberkühn, eigenthümlich war. Dagegen hat ein goldenes Tafelservice am Hofe des haushälterischen, jedem Luxus abholden Königs niemals existirt. Christian Lieberkühn wurde an Jahre 1738 mit der Herstellung des silbernen Chores[1] im Rittersaale des Schlosses betraut und mußte, was von seiner Wohlhabenheit zeugt, zweiundvierzigtausend Thaler, sowie sein Haus, als Caution für das ihm zur Anfertigung des Chores gelieferte Silber stellen.

Hierdurch wird die Sage in Betreff des Services und der Armuth unseres Goldschmiedes hinfällig, wie denn auch ein anderer Goldschmied eines der gegenüberliegenden Häuser zur damaligen Zeit nicht besessen hat. Bezüglich der Grundsteinlegung [243] der Parochialkirche hat Küster eine ausführliche Beschreibung derselben, doch ohne Erwähnung jenes Vorfalls, so daß auch in diesem Punkte das Poetische der Sage den Kern der Wahrheit vermissen läßt. Immerhin aber kann an den Vorgängen und an dem Scherze des Königs etwas Wahres sein, was die Sage ausgeschmückt und, wie bei der „historischen Windmühle“ bei Sanssouci, gerade das Gegentheil von dem ursprünglichen Sachverhalt herausgekehrt hat.

Was ferner das eigenthümliche Bildwerk betrifft, so scheint dasselbe bei seiner vorzüglichen Technik aus dem Ende der Regierungszeit Friedrich’s des Ersten, oder auch von Lieberkühn selbst herzustammen, welcher „tüchtige Zeichner und Bildner an der Hand“ hatte. Ursprünglich soll das aus Sandstein gearbeitete Wahrzeichen vergoldet gewesen, bei einem Abputz des Hauses aber mit Kalk überstrichen worden sein.

Bis zum Jahre 1841 stand der Neidkopf ungestört an seiner Stelle, bis er am 4. Juli jenes Jahres von der Besitzerin des Hauses abgenommen, und die Nische, in welcher er stand, zugemauert wurde. Sechszehn Jahre hindurch blieb das den Berlinern lieb gewordene Bildwerk verschwunden, bis der Geheime Hofrath Schneider am 27. December 1857 in Erfahrung brachte, daß dasselbe bei dem Antiquitätensammler May für sechs Friedrichsd’or zum Verkaufe ausgestellt sei.

An demselben Abend noch vom König zur Vorlesung nach dem Charlottenburger Schlosse befohlen, nahm der Hofrath Cosmar’s „Sagen und Miscellen“ (denen wir die erste Erzählung entlehnt haben) mit sich und lenkte das Gespräch auf die alten Wahrzeichen Berlins, von deren Geschichte und Sagen Friedrich Wilhelm der Vierte vollständig unterrichtet war. Bei der besonderen Vorliebe desselben für Berlinische Alterthümer konnte es nicht fehlen, daß der König den sofortigen Ankauf des Neidkopfes, und die Wiederaufstellung desselben an der alten Stelle zu veranlassen befahl. Auf die hingeworfene Bemerkung, daß der Eigenthümer des Hauses sich dessen weigern könnte, entgegnete der Monarch nach kurzem Besinnen:

„Nun, so werde ich den Neidkopf über der Thür des Hinterhauses der Kriegsschule anbringen lassen. Ich weiß, daß sich dort ein Architrav an der Supraporta befindet, aber schräg, halb gegen Nr. 11, und halb gegen Nr. 38 gerichtet, damit die moderne Mißgunst ihr Sinnbild vor Augen hat; so schräg, daß es jedem Vorübergehenden auffallen muß. Die bloße Erkundigung nach der Veranlassung zu einer solchen Aufstellung wird schon die rechte Antwort hervorrufen – da kann ich mich auf meine Berliner verlassen.“

Dazu kam es indessen nicht. Der Eigenthümer des Hauses, Goldrahmenfabrikant Schultze, erklärte sich nicht nur bereit, dem Wunsche des Königs nachzukommen, sondern ließ auch in das Hypothekenbuch eintragen, daß der jedesmalige Besitzer das Bildwerk ohne Zustimmung des königlichen Fiscus nicht von seiner Stelle entfernen dürfe.

So wird denn der „Neidkopf“, als ein charakteristisches Bild vergangener Zeiten, in der Volkssage noch zu den Nachkommen sprechen von dem belohnten Fleiße und von der Bestrafung des Uebermuthes durch den König.

Ein nicht minder volksthümlich gewordenes Wahrzeichen ist die sogenannte „Rippe“ an dem Eckhause Nr. 13 des Molkenmarktes, wenngleich, oder vielmehr weil die daran haftende Romantik dem Schooße der Fabel entstiegen ist.

Als Berlin in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts aus einem unbedeutenden Fischerdorfe, dessen Hütten unfern der Nicolaikirche, also bis zu dem vorerwähnten Hause standen, zu einer Stadt erhoben wurde, bildete der heutige Molkenmarkt den alleinigen Marktplatz, nach welchem auch die wendischen Bewohner des benachbarten Stralow ihre Fische zum Verkaufe brachten. In der Gegend der „Rippe“, und wahrscheinlich auch vor dem ältesten Rathhause der Stadt, erhob sich der Roland als Symbol der selbstständigen Gerichtsbarkeit und als Hüter des Marktfriedens, bis Friedrich „der Eiserne“, nach dem Aufstande der Berliner im Jahre 1448, das Rolandsbild umstürzen ließ und dadurch der Stadt auch das äußere Wahrzeichen ihrer einstigen Selbstständigkeit entzog.

In jenen frühesten Zeiten nun – so lautet das Märchen – soll Berlin von einem Riesen erobert worden sein, welcher in dem Hause am Molkenmarkte residirte. Ueber Nacht aber hätten einige beherzte Männer den gefürchteten Recken erschlagen und so die Stadt von ihrem Widersacher befreit. Zum Gedächtnisse dieser Heldenthat sei das Haus mit dem Schulterblatte und einer Rippe des Riesen geschmückt worden.

So liegt denn der Sage ein schmeichelhaftes Zugeständniß der mit einer gewissen List verbundenen Geistesgegenwart und des persönlichen Muthes der Berliner zu Grunde.

Realistischer tritt die Annahme auf: Rippe und Schulterblatt rühren von einem urweltlichen Thiere her und seien im Baugrunde des Hauses gefunden worden, wie man ja auch neuerdings im Sande des Kreuzbergs den Riesenzahn eines solchen Thieres, oder mindestens eines Elephanten zu Tage gefördert.

Cosmar dagegen verwandelt das Wahrzeichen in ein hölzernes Aushängeschild, das in früherer Zeit zur Kennzeichnung eines Wirthshauses gedient habe. Dieser Annahme müssen wir entgegentreten. Denn zunächst sind uns die heraldischen Abzeichen und Namen jener ältesten Gasthöfe oder Wirthshäuser mit ihren oft historischen Reminiscenzen bekannt geblieben. So der „Güldene Arm“ und die „Weiße Taube“ in der Heiligegeiststraße, die „Alte Ruppiner Herberge“ und der „Gasthof zum Hirsch“ in der Spandauerstraße Nr. 79 und 30. Ein Gasthof „Zur Rippe“ aber ist nicht bekannt geworden.

Nach den von uns angestellten Ermittelungen soll vielmehr ein tief verschuldeter Kaufmann der Stadt den Rücken gekehrt haben, um sein Heil jenseits des Oceans zu versuchen. Er legte sich auf den Walfischfang, und das Glück begünstigte ihn. Hierher zurückgekehrt, ließ er zum Gedächtnisse an die Quelle seines Wohlstandes jene Theile eines Walfisches an der Façade des von ihm erworbenen Hauses aufhängen.

Bei der in jüngster Zeit vorgenommenen Erneuerung desselben ist das alte Wahrzeichen nicht nur an der ursprünglichen Stelle verblieben, sondern leuchtet auch in frischem Silberglanze dem Beschauer entgegen.


  1. Friedrich der Große ließ denselben einschmelzen, um Gelder zur Kriegsführung zu erlangen, und an Stelle seiner einen hölzernen, stark versilberten errichten.