Die Wahrheit in aller Erziehung
Die Wahrheit in aller Erziehung.
Es ist eine bemerkenswerthe Thatsache, daß Aeltern und Erzieher es für eine so heilige Pflicht halten, die Jugend mit „Illusionen“ aufwachsen zu lassen. Ich habe mich dieses fremden Wortes bedienen müssen, weil man gewöhnlich in der Unterhaltung in dem hier angedeuteten Sinne Gebrauch davon macht. Wollte man dasselbe in unsere Muttersprache übersetzen, so böte sich dafür zunächst „Täuschung“ oder „falsche Vorspiegelung“ und beide Ausdrücke würden wie Beleidigungen klingen. Die Aeltern verlangen: man solle ihrem Kinde keine „Illusionen“ nehmen; darunter verstehen sie den Glauben an Dinge, die, in einem falschen Lichte gesehen, sich nicht übel ausnehmen. Wollte ein Lehrer sich dagegen anmaßen, ihnen vorzuschlagen, daß es weise sei, die Kinder mit „falschen Vorspiegelungen“ zu erziehen, so würden sie vor solcher Zumuthung empört zurückschrecken.
In unserm conventionellen Leben sind wir in vielen Beziehungen auf den Punkt gelangt, die Dinge nicht beim rechten Namen nennen zu dürfen, und wo es geschieht, da rennen die Menschen wie entsetzt davon.
„Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus. Die Antwort hierauf ist man ihm bis heute schuldig geblieben. Es giebt allerdings keine eigentliche positive Wahrheit, in sofern diese unsern Erkenntnissen entspringt, die durch Klima und Organisation bedingt werden. Nur das, was die Wissenschaft im gegenwärtigen Augenblicke als erwiesen hinstellt, dürfen wir mit diesem Namen benennen. Sollten wir nun diese Errungenschaften unsern Kindern vorenthalten, oder sie zurückweisen, wenn sie uns wißbegierig mit einer Frage entgegentreten?
Man hört so oft die Aeußerung: daß es nicht poetisch sei, der Natur in ihrem Walten nachzuspüren, man dürfe die Dinge nicht bei ihrem wahren Namen nennen, es trete jeder idealen Auffassung entgegen. Gerade Frauen sind am häufigsten mit solchen Befürchtungen bei der Hand. Was berechtigt sie zu denselben?
Ist nicht jede Wahrheit schön, hat nicht jede Wahrheit einen goldenen Boden, die sie über allen bunten Flitter des Lebens hoch erhebt, ist nicht Wahrheit die Grundbedingung zu aller Poesie, zu aller Idealität, und kann man endlich irgend etwas schön nennen, das nicht zugleich auch wahr ist? – Warum wollen wir denn durchaus den Schein verehren, und der schönen Realität stets schnöde den Rücken wenden?
Die Männer hegen sonderbarer Weise für sich und unter sich keine solche Furcht vor der Wahrheit. Diese hat bei ihnen nie des Dichters Begabung vernichtet, wie seine poetischen Träume gestört, ihn nie in einer idealen Auffassung des Lebens gehemmt. – Die Herren der Erde dulden nicht, jede Sache bei ihrem richtigen Namen zu nennen, und in allen Fächern richtige Kenntnisse zu erwerben; die Frauen aber behandeln sie, wie die ägyptischen Priester das Volk, sie hängen den Dingen einen Mantel um, und lassen sie fürchten, daß, wenn dieser abgenommen würde, das ganze Menschenleben unschön, unpoetisch, in fürchterlicher Nacktheit dastehe. und für sie nicht zu ertragen sei. – Welch eine Anklage gegen die Natur liegt in dieser Voraussetzung, welch ein Tadel aller Einrichtungen, die so weise aus des Schöpfers Hand hervorgingen, daß kein klügelnder Verstand bis jetzt etwas zu ersinnen vermochte, wodurch der Vollkommenheit des großen Uhrwerks auch nur ein Jota zugefügt werde! Und die weibliche Hälfte der Menschheit sollte hier Nase rümpfend den Rücken wenden? – Sie sollte verächtlich auf das blicken, was die Gottheit so wunderbar gefügt hat, und auch in dem Kleinsten nicht die Meisterhand verehren und anbeten, die sie, je tiefer sie blickt, zu je größerer Bewunderung hinreißt? –
Weil man die Frauen nicht unterrichtet hat, wurden sie verleitet, sich dieser Art der Gottlosigkeit häufig schuldig zu machen. Weil man keine Wahrheit für sie hatte, so hatten sie auch keine Wahrheit für ihre Kinder, und die Folge war, daß sie denselben gegenüber jenes Heiligenscheines der höchsten, unfehlbaren Autorität entbehrten, den die Mutter vor ihrem Kinde tragen soll. „Meine Mutter hat es gesagt!“ das ist für das Kind das Gesetz und die Propheten. „Meine Mutter hat es gesagt;“ bleibt eine goldene Mahnung, auch wenn sie, die dieselbe ergehen ließ, schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Die Würde der Mutter wird beeinträchtigt, sobald das Kind mit seinem Instinkte und seinem gesunden Sinne wahrnimmt, daß sie auf Täuschung ausgeht; sobald es in ihrem Auge liest – denn des Kindes Auge richtet sich stets gerade auf das des von ihm Befragten, als wolle es neben den Worten noch eine zweite Antwort aus diesem Spiegel der Seele gewinnen, – daß sie nicht ausspricht, was sie denkt; sobald es erräth, daß es Absicht sei, ihm die Belehrung vorzuenthalten, die es sucht. Und wer vermöchte [138] in das ehrliche Auge des Kindes zu blicken, indem man es unehrlich täuschen will?
Die jüdischen Gemeinden in London beten noch heute: „Ich danke Dir, Gott, daß Du keine Frau aus mir gemacht hast.“ Man kann den Männern Israels den Wunsch nicht verargen. Das ganze Leben hindurch auf Täuschungen angewiesen sein, ist sicherlich wenig begehrungswerth.
Ein besonderes Vergnügen finden die Herren der Erde noch darin, den Frauen die größte Abneigung gegen eine Kenntniß der Organisation ihres eigenen Körpers einzuflößen. Auch die innere Einrichtung von diesem ist ihnen unschön und unpoetisch, ja mehr als das, sie ist den zarten Wesen sogar häufig Ekel erregend. Und doch ist der Mensch das Meisterwerk der ganzen Schöpfung, das Vollendetste, was aus der Hand der Natur hervorging. Auch hier müssen wir die Ursache in der Unwissenheit suchen, die stets die Grundbedingung aller Verkehrtheit ist. Wäre den Frauen bekannt, wie wundervoll ihr ganzer innerer Bau ist, so würden sie die Ehrfurcht davor empfinden, die jedes vollendete Kunstwerk uns abgewinnt, und den Körper zu einem geheiligten Tempel ihrer selbst machen.