Die Wüstenburg Dschodpur

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Titel: Die Wüstenburg Dschodpur
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 769, 771–772
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[769]

Die Burg Dschodpur in Indien.
Aus dem Prachtwerke „Orientreise des Großfürsten-Thronfolgers von Rußland “.
Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[771] Die Wüstenburg Dschodpur. (Zu dem Bilde S. 769.) Südöstlich von dem Indusstrome erstreckt sich die weite Landschaft Radschputana, die in ihrer Flächenausdehnung dem Königreich Preußen nahezu gleichkommt, aber, dünner bevölkert, nur 10 Millionen Einwohner beherhergt. Kein Wunder, denn dieses Gebiet ist nicht so fruchtbar wie die gesegneten Ufer des Gangesstromes; die indische Wüste greift in die Landschaft hinein und vielfach ist die Bevölkerung beim Bebauen des Bodens auf künstliche Bewässerung angewiesen. Das Land hat den Namen von dem Stamme der Radschputen erhalten, der zu den tapfersten und kühnsten der Hinduvölker zählt. Die Reiterscharen dieser Nomaden hatten sich einst über die Nordebenen Indiens ergossen und gründeten eine Reihe kleiner Fürstenthümer, die sich untereinander befehdeten und mit den Nachbarn in ewigen Kriegen lebten. Sie selbst nennen sich „Sonnenkinder“, „Söhne des Gottes Indra“, und blicken noch heute als Mitglieder der Kaste der Kschatriyas, als indischer Kriegeradel, geringschätzig auf die friedlicheren Bewohner herab, zu deren Beherrschern sie sich aufgeschwungen haben. Trotz dieser angeborenen Tapferkeit mußten die Radschputen wiederholt ihren Nacken unter fremde Herrschaft beugen, denn die Uneinigkeit, die zwischen den kleinen Fürsten herrschte, schwächte ihre Macht. So sind auch heute die neunzehn zwischen Gebirgen und auf weiten Steppenebenen zerstreuten Radschputenstaaten England tributpflichtig.

Zu der Burg eines dieser Vasallen der Kaiserin von Indien möchten wir heute die Leser führen. Auf Flügeln des Dampfes eilen wir an die Grenzbezirke der Salzwüste Marwar, der „Gefilde des Todes“; dort erhebt sich über einer indischen Stadt, auf einem nackten gewaltigen Felsen, die Adlerburg des Fürsten von Dschodpur, hinter den schützenden Mauern eine Stadt von Palästen, die wie so viele Bauten Indiens von entschwundener Macht erzählt.

Es ist eine Fürstenburg im vollsten Sinne des Wortes. Sie war bis jetzt in Europa wenig bekannt, aber im Jahre 1891 erschien vor ihren Thoren ein glänzender Aufzug. Der Großfürst-Thronfolger von Rußland stattete auf seiner Weltreise dem Fürsten von Dschodpur einen Besuch ab, und man trug den Sohn des weißen Zaren in einer mit silbernen Pfauen geschmückten Sänfte die steilen Treppen zu der alten Burg hinauf. Trotz des zahlreichen Besuches war es lautlos und menschenleer im Adlerhorst der „Nachkommen des Tagesgestirnes“ und die Schritte der Fremden hallten dumpf auf dem Flur im Schatten der majestätischen, braungoldigen Prunkgemächer wieder. Aber welche Erinnerungen weckte der Anblick dieser langen Flucht von verödeten Sälen und Schlafgemächern mit einsamen Thronsesseln, seidengepolsterten Ruhelagern und zahlreichen Pfeilern, mythologischen Wandgemälden, Spiegeln und geschmackloser Vergoldung!

Einst waren hier, von Purpurschirmen beschattet, beim Dröhnen riesiger Trommeln, umgeben von Leibwächtern mit Gold- und Silberwaffen, die Fürsten der Wüste geschritten. Glänzende Feste hatte man hier gefeiert, da vor dem Namen der Radschputen die Nachbarn in Furcht und Schrecken erzitterten. Durch die Pforten kamen barfuß die huldigenden Vasallen, zogen aber auch kraft eines unwiderruflichen Richterspruches der Gemeinde die allzu eigensinnigen und frevelhaften Fürstensöhne für immer in die Verbannung. Es wurde ihnen ein schwarzes Roß vorgeführt, das einfachste Gewand angelegt, ein Schild umgehängt und ein Schwert umgegürtet, worauf sie sich entfernen mußten.

Manchmal ereigneten sich in der Feste schaurige Dramen anderer Art. Ein Thronerbe rüstete sich gegen einen Nebenbuhler, oder ein durch Beleidigungen zur Empörung getriebener Lehnsmann wurde in eine Falle gelockt, um in einem der Burghöfe meuchlerisch niedergestreckt zu werden. Aber auch dann baten die Ueberfallenen nur um die Gnade, mit der blanken Waffe getödet zu werden, nicht mit einer Kugel aus der Ferne. Den Vornehmsten wurde ein Giftbecher gereicht, den sie ohne Zagen an ihre Lippen führten, nur mußte der Todeskelch aus Gold sein.

Wie oft wurden im Laufe der Jahrhunderte durch diese Thore die toten Fürsten von Dschodpur mit freiem Antlitz und bloßen Füßen, in einer Art Kahn ausgestreckt, von den trauernden Vasallen zum Scheiterhaufen getragen! Wie oft wandelten auf diesem Stege die holden Gemahlinnen des Toten zu dem ihnen aus wohlriechendem Holze, Baumwolle und Kampfer bereiteten Feuergrabe! An dem Thore der düsteren Burg sind gar viele silberne Hände angebracht, Erinnerungsmäler an die Fürstinnen, die getreu ihren Männern in den Tod gefolgt sind!

Auf dem Hofe der Burg erhebt sich ein weißer Stein, die „Gadi“; der rechtmäßige Nachkomme eines gestorbenen Herrschers setzte sich auf ihm nieder und ergriff die Regierung. Von den Fenstern seines Schlosses schaute er in die weite Ferne. Da sah er die Stadt Dschodpur zu seinen Füßen; da lagen wie heute nach Jahrhunderten bunt durcheinander Heidentempel, Wasserbehälter, kleine weiße Häuser der Landesvornehmen, enge Straßen mit Wohngebäuden und die düstern jähen Abhänge der Burg selbst; und weiter schweifte der Blick über die tote, schmutzig braune Wüste bis zu der rauhen Kette kahler Anhöhen, die im Nebel der öden Ferne verschwammen. Dieser stete Umblick auf die traurige Scenerie mußte in den „Söhnen des Tagesgestirnes“ eine unbefriedigte Sehnsucht nach etwas [772] anderem wecken; die erhabene Wüste mag auch hier jenen kampflustigen Schlag von Männern erzeugt haben, die, nach Gefahren und Abenteuern ausspähend, von der Seligkeit träumen, einst in einem wunderbaren Paradiese zu erwachen, wohin irdische Helden im Augenblick des Todes von schönen Walküren getragen werden. –

Aber die ungebundene Freiheit der Wüstenfürsten erlitt schon schwere Einbuße, als der Halbmond siegreich in Indien vordrang. Wohl stürzten sich die Todesmuthigen von der Höhe der Burg auf die Feinde, angefeuert von den Barden – „unter dem Klange der Speere und Schilde, beim Aufblitzen der Schwertstreiche, als blutrothe Lotosblumen auf dem Ocean der Wahlstatt zum Sonnenpalaste zu schwimmen und sich des Anblicks zu freuen, wie Siwa sich einen Rosenkranz aus Totenschädeln fertigt“; aber die Ueberlebenden wurden zu Vasallen des Großmoguls; nun war die stolze Burg von Dschodpur zu groß für die zusammengeschmolzene Macht.

In den Felsen der Burg ist eine Schatzkammer ausgehauen, die noch heute die reichste von ganz Indien sein und Kostbarkeiten im Werthe von 30 Millionen Mark bergen soll. Auch eine Rüstkammer fehlt nicht in dem Sitze der ritterlichen Fürsten; dort sind die prachtvollsten Rüstungen und Waffen aus alten Zeiten aufgehäuft. Aber seit der Sepoy-Empörung vom Jahre 1857, an der auch Dschodpurs Reiterscharen theilgenommen hatten, ist die Gegend bezwungen; der Maharadscha zahlt England den schuldigen Tribut und die Kanonen der Burg schweigen. Dafür blüht ein anderes Leben am Rande der Wüste auf. Der seit 1873 regierende Fürst sorgt für die Wohlfahrt seines 21/2 Millionen Einwohner zählenden Landes; er hat dem Räuberwesen ein Ende gemacht, überall kommt die Gerechtigkeit zur Geltung, die Fehden des Adels sind beigelegt worden; es giebt regelrechte Postverbindungen, die großen Staatsschulden sind getilgt, Wasserwerke werden angelegt und der Maharadscha hat eine schmalspurige Eisenbahn bis an seine Residenz bauen lassen.

Das ist die Geschichte der Burg von Dschodpur, die auf den „Gefilden des Todes“ emporgeblüht ist wie eine Märchenblume im Wüstensande. Wir sind in unserer Darstellung zum großen Theil dem Prachtwerke „Orientreise Sr. Kaiserl. Hoheit des Großfürsten-Thronfolgers Nikolaus Alexandrowitsch von Rußland“ gefolgt, das von einem der Begleiter des Thronfolgers, dem Fürsten E. Uchtomskij, verfaßt, von dem russischen Maler Karasin, einem Schüler Dorés, in trefflicher Weise illustriert worden ist und von dem eine deutsche Ausgabe nach der Uebersetzung von Dr. Hermann Brunnhofer im Verlage von F. A. Brockhaus in Leipzig erscheint. Es ist ein prachtvolles Werk, das uns in eine Welt von Wundern einführt: Griechenland , das alte und moderne Aegypten, Indien mit seinen Wunderbauten und seiner grandiosen Natur, Ceylon, Java, Siam, das Reich des weißen Elefanten, China, das heiter schöne Japan und das unermeßliche Sibirien gleiten in glänzenden Bildern an unseren Augen vorüber. *