Die Verbreitungswege des Milzbrand-Contagiums

Textdaten
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Autor: Dr. M. Fr.
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Titel: Die Verbreitungswege des Milzbrand-Contagiums
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 301–303
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Verbreitungswege des Milzbrand-Contagiums.

Der Schrecken, welcher durch den Ausbruch der Bubonenpest im Astrachanischen Gouvernement besonders über die Rußland zunächst liegenden Länder Europas ging und allenthalben die staatliche Fürsorge zum Schutze gegen dieselbe wach rief, ist mit der Seuche selbst erloschen. Indessen ist bei dieser Gelegenheit die Frage der Schutzmaßregeln gegen Seucheneinschleppung in Fluß gekommen, und ich möchte den günstigen Zeitpunkt benutzen, um eine anderweite Anregung auf diesem Gebiete zu geben. Der russische Ursprung der Pestgefahr hat mich lebhaft an die Beobachtungen gemahnt, welche ich während meines Aufenthaltes in der Tatarischen Steppe zwischen Dnjepr und Asow’schem Meere sowie in einem späteren Wirkungskreise über den Milzbrand bei Menschen und Thieren anzustellen Gelegenheit fand.

Bubonenpest und Milzbrand haben das mit einander gemein, daß sie durch animalische Stoffe auf Menschen übertragen werden. Freilich ist, wie die Krankheit selbst, so auch der Ansteckungsstoff des Milzbrandes anerkanntermaßen der schwächere und weniger flüchtige, wenigstens für Menschen, denn Uebertragung von Mensch auf Mensch ist meines Wissens durch kein Beispiel belegt. Gleichwohl bietet der Milzbrand Gefahren auch für das menschliche Leben, und dazu kommt thierisches Leben und damit menschlicher Besitz durch diese Seuche in solchem Umfange in Frage, daß man alle Ursache hat, neben der bisher geübten Absperrung einheimischer Milzbrandbezirke auch den Ursprungsherd des Giftes und die von dort ausgehenden Verbreitungswege ernstlich in’s Auge zu fassen. Als Ursprungsherd aber sind wesentlich die südrussischen Steppen zu betrachten.

Es soll hier nicht untersucht werden, in welchen Stoffen das Contagium des Milzbrandes zu suchen sei, obgleich es mir schon vor den Untersuchungen Davaine’s und Bollinger’s glaublich war, daß es in nicht allzu leichten, dem Boden anhaftenden Dingen bestehe, deren Keime unter günstigen Verhältnissen in die Haut oder die Luftwege und das Blut der Thiere dringen. – Die baumlose Nogayer Steppe, wo schon zu Anfang des Sommers von der ganzen reichen Vegetation fast nur die dürre Thyrse (Stipa) übrig geblieben, alles Andere von der Sonne zu Pulver verbrannt ist, wo bei äußerster Windstille und Sonnengluth die eiskalten 30 und mehr Fuß hohen, 6 bis 8 Fuß dicke Staubsäulen [302] (Steppenhexen, Wichri) zu Dutzenden umherwirbeln und zerplatzen, oder bei mäßigem Winde alle Fahrstraßen von haushohen wallenden Staubwolken bedeckt sind, scheint die günstigsten Bedingungen zu liefern.

Die Ansicht, daß der Boden die Brutstätte und der Staub der Träger des Infectionsstoffes sei, veranlaßte seiner Zeit den intelligenten und reich begüterten Colonisten Fein zu dem Verfahren, daß er seine vom Milzbrand ergriffenen Schafheerden meilenweit auf eine seiner entfernten Besitzungen treiben ließ. Unterwegs blieben freilich die Körper der gefallenen Thiere liegen und inficirten auf’s Neue den Boden. Welchen Umfang aber dort die Sterblichkeit der Schafe erreicht, zeigen folgende Angaben.

Auf der ehemals herzoglich anhaltischen, acht Quadratmeilen umfassenden Besitzung Ascania nova – jetzt Tschapli und den Erben des Colonisten Fein gehörig – wurden vor dem Krimkriege 75,000 Schafe gezüchtet. Von diesen gingen laut der von mir eingesehenen Acten in gewöhnlichen Jahren 10,000, in Milzbrandjahren 15,000 ab, und zwar zum geringsten Theile durch Wolffraß und als Schlachtvieh; also mindestens 10 bis 15 Procent fiel durch Milzbrand. Alle anderen Krankheiten, wie Maul- und Klauenseuche, forderten geringe und kaum beachtete Opfer. – Auf der zweiten Pariser Ausstellung wurden die Fein’schen Erben für Schafwolle prämiirt, und dabei wurde hervorgehoben, daß sie 800,000 Schafe auf ihren verschiedenen Gütern besäßen. Diese fast unglaubliche Zahl wurde mir durch den Mund eines der Mitbesitzer als zur Zeit jener Ausstellung wirklich vorhanden bestätigt, dabei aber bemerkt, daß sie im nachfolgenden Jahre um 125,000 Stück durch eine Milzbrandseuche vermindert worden sei! Was an Pferden, Rindern und Kameelen dem Milzbrand erliegt, mag nicht in Rechnung gezogen werden, wiewohl auch dies nicht wenig ist. Die Leichname der Schafe allein bieten schon ein so reiches Material von Infectionsstoffen, respective von darin beherbergten Bakterien, daß es wunderbar erscheint, wie irgend ein lebendes Thier in jener Gegend davon unberührt bleibt.

Die Aufgabe, einen so kolossalen Seuchenherd zu tilgen, wird weder von den Naturmächten, noch von der politischen Macht, sondern, wie ich glaube, durch die Ansiedler in unbewußter Weise vollzogen, indem dieselben ihre Steppen alljährlich im Herbst anzünden, um die den Schafen durch die geflügelten Widerhaken gefährlichen Samenkapseln der Stipa vor dem Ausfallen zu vernichten. Zu anderen Zeiten übernehmen die zufälligen oder in böswilliger Absicht angestifteten, durchaus nicht seltenen Steppenbrände das Geschäft der gesundheitlichen Fürsorge.

Diese gründlichste aller Desinfectionsweisen würde meines Erachtens noch viel erfolgreicher sein, wenn das eigenthümliche Wachsthum der Steppengräser, welche bekanntlich keinen Rasen bilden, sondern in weitläufig getrennten Büscheln emporschießen und mit den Wurzeln das Erdreich hügelartig emporheben, nicht ein zu flüchtiges Feuer und eine zu wenig intensive Hitze verursachte.

Während der Steppenbewohner sich also zum Werkzeuge der öffentlichen Wohlfahrt macht, zeigt er ein wenig zartes Gewissen in der Behandlung seiner für den Verkauf und namentlich für den Export in das Ausland bestimmten Producte, der Wolle und der Felle. Daß dieselben die Träger des Milzbrandcontagiums sind, ist dem Schafzüchter entweder gar nicht oder wenig bekannt; er weiß nur, daß der Händler die gefährliche, die sogenannte Sterblingswolle, die sich durch mattern Glanz und durch geringere Haltbarkeit auszeichnet, weniger gut bezahlt; er läßt sie daher, wie es irgend gehen mag, unter die Ballen einschlüpfen und überläßt dem Kaufmann, der die Rohwolle mit den anhängenden Klunkern ersteht, das Waschen und Sortiren. Große Producenten können anstandshalber allerdings nicht anders, als daß sie ihre Sterblingswolle abgesondert verkaufen, und zwar nachdem sie die Dnjepr- oder Fabrikwäsche in Cherson, wo die großen Wollwäschereien für die Gegend, von der ich spreche, sich befinden, passirt hat. Verkauft wird sie aber doch und geht über Odessa in’s Ausland nach den großen Märkten in England und in Breslau. Denn was sollte man in einem Landstriche, wo so wenige Fabriken und Industrielle vorhanden sind, daß beispielsweise vor zwanzig Jahren in der schönen und lebhaften Stadt Cherson noch kein Färber zu finden war, mit so ungeheuren Massen von Sterblingswolle anfangen wie sie die obengenannten Producenten liefern? Allerdings verbraucht die einheimische Hausindustrie einen Theil zur Herstellung von Filzdecken, Socken, Burkas u. dergl. m., womit besonders die Tataren sich beschäftigen, die auch das Haar der von ihnen fast ausschließlich gezüchteten Kameele zu Garn und Kleiderstoffen verwenden und in der Auswahl ihres Materiales nicht weniger fatalistisch denken als Russen und Deutsche. Der größte Theil indeß wird mit dem, was ihm an Infectionsstoff durch die Wäsche nicht benommen ist, in’s Ausland geschickt, wo der billige Preis auch uns zu Gute kommt. Wie viel davon hängen bleibt, wird man ermessen, wenn man weiß, wie unglaublich zähe das Milzbrandgift der Wolle, den Haaren und Fellen anhaftet.

Ich kann nicht unterlassen, ein Beispiel dafür aus meiner frühern Praxis in J. anzuführen. Im Sommer des Jahres 1854 wurde ich in das Haus eines Webers auf dem Lande gerufen, der für den Fabrikanten H. in J. aus dem von letzterem gelieferten Garne Wollenstoffe verfertigte, wobei ihn seine Frau unterstützte, indem sie das Garn vor dem Weben spulte. Die Frau zeigte an der linken Seite des Halses, gerade über der Pulsader und an der Stelle, wo die vom Nacken herabhängende Garnsträhne die schwitzende Haut zu berühren pflegte, eine ausgebildete unverkennbare Carbunkel-Pustel von Groschengröße. Der Zustand der heftig fiebernden Kranken erschien um so bedenklicher, je mehr die gefährliche Nähe der Pulsader jedes tiefere Einschneiden verbot, ohne welches man nach meiner damaligen Anschauung von der Behandlung des Milzbrand-Carbunkels über die Krankheit nicht Herr werden könne. Die Kranke genas zwar, wie ich meinte, in Folge, jedenfalls aber nach einem sehr energischen inneren Gebrauch von Chlorwasser. Nur war die Frage nicht beantwortet, durch welche Veranlassung die Pustel entstanden sei. Gegen die Ansicht der Webersleute, daß das Wollengarn das Gift enthalte, war ein ungläubiges Verhalten berechtigt. Nachdem ich aber wiederholt bei dem Ortsschulzen, bei dem Amtmann und Anderen Umfrage gehalten, und überall beschieden worden war, daß weder im Dorfe selbst noch in der Umgegend ein milzbrandkrankes Thier vorhanden oder gefallen sei, konnte ich nicht umhin, die Meinung jener Leute dem Fabrikherrn vorzutragen. Die Antwort fiel, wie zu erwarten war, verneinend und spöttisch aus unter dem Hinweis auf all die Proceduren, denen die Wolle unterworfen werde, bis sie zu Garn versponnen sei, also mehrmalige Wäsche, Bleichen, Färben, abgesehen von der Hitze, der sie dabei ausgesetzt sei. Nach einem Vierteljahre jedoch erklärte der ehrenwerthe Herr mir freiwillig, daß die Meinung des Webers doch die richtige sei, indem noch in zwei anderen weit entfernten Haidedörfern bei zwei Webern, welchen von demselben Garn zur Verarbeitung ausgetheilt worden war, der Milzbrand-Carbunkel sich gezeigt habe. Er selbst habe diesen Zweig der Zeug-Fabrikation, den er, durch Handelsconjuncturen genöthigt, aufgenommen hatte, wieder aufgegeben und den vorhandenen Rest der Wolle in den Fluß werfen lassen. Die Wolle war russisches Product, Sterblingswolle, in Breslau gekauft. Dieses Beispiel spricht deutlich genug für die Lebenszähigkeit der Milzbrandbakterien und wer weiß ob sie nicht die geheime Schuld an manchen Fällen von Hautausschlägen tragen, für die man heute so gern die Anilin- und andere Farben der Kleiderstoffe verantwortlich macht.

Ueber das Anhaften des Milzbrandgiftes an Fellen bedarf es keiner weitern Auseinandersetzung. Unsere Weißgerber wissen davon zu sagen, da selten einer derselben von der Pustel, die nicht immer in der bösartigen Form auftritt, ganz verschont bleibt. In selteneren Fällen kommt sie auch bei Lohgerbern und Schuhmachern bei Verarbeitung des gegerbten Leders vor, von wo mir zwei bösartige Fälle zur Beobachtung kamen. Diese Leute aber, sowie Kuh- und Schafhirten, Schafbein-, Knochentrödler und Andere zogen es sämmtlich vor, ihre „schwarze Pocke“ dem Stiche einer giftigen Fliege, als der unmittelbaren Berührung mit den Gegenständen ihres Gewerbes zuzuschreiben Wie groß die Unkenntniß vom Uebertragen des Milzbrandes der Thiere auf den Menschen und die daraus folgende Sorglosigkeit ist, erfuhr ich bei Gelegenheit der Behandlung eines an der Pustel leidenden deutschen Schafzüchters, der fünf deutsche Meilen von mir entfernt wohnte.

Beim Einfahren in den Hof bemerkte ich fünf blutige Schaffelle zum Trocknen aufgehängt, von denen mir der Kutscher, der mich abgeholt hatte, berichtete, die Thiere müßten erst seit seiner Abwesenheit verendet sein; in der Heerde herrsche der Milzbrand. Daß letzterer mit der Krankheit seines Herrn im Zusammenhang [303] stehe, war ihm ebenso neu wie Jenem selbst, der nach seiner Versicherung Hunderte von Pustel-Kranken mit Sympathie und Besprechung aus einem alten Buche geheilt habe. Daraus lernte ich, beiläufig gesagt, wie aus einigen kurz darnach mir vorgekommenen Fällen daß eine Form des Milzbrand-Carbunkels trotz heftigen Fiebers, ähnlich den acuten Hautausschlägen, von selbst ohne alles ärztliche Zuthun oder höchstens unter homöopatischer Behandlung sich begrenzen und glücklich verlaufen könne.

Schlimmer als die auf Umwegen importirte Pustel ist die andere Milzbrandform, die Mycosis[1], die wir mit den Roß- und Kuhhaaren direct aus Rußland beziehen. Daß diese Haare weit gefährlicher als die Wolle sind, liegt auf der Hand, da sie ohne viele Umstände und ohne jedes Reinigungsverfahren verpackt und bearbeitet werden. Daher ist denn auch der Staub, der beim Oeffnen der Ballen sich entwickelt und den die armen Arbeiter wohl oder übel einathmen müssen, unerträglich.

Es ist mir unbekannt, wo der Markt für diese Waare sich befindet, ob in Petersburg oder Berdytschew. Vermuthlich ist aber jener Staub derselbe, von dem oben gesprochen worden ist, der Staub der Steppe und der Träger des Milzbrandes. Wer jene Heerden der Steppe, Wagenzüge der Schumaken, der Pestträger, wie sie doppelsinnig genannt werden, und die Tausende von Rindern, die alljährlich lediglich zur Benutzung der Felle in die Schlächtereien von Mariupol getrieben werden, gesehen, wer einem Pferdemarkt etwa in Kachowka, Berislaw gegenüber, beigewohnt hat, wo ein einziger tatarischer Pferdehändler aus Astrachan mit 300 Pferden den aus 10,000 bestellten Markt bezieht und Käufer und Verkäufer aus allen Himmelsgegenden, von den Ufern der Wolga, des Don und des Dnjepr zusammenkommen, der darf voraussetzen, daß mit solchem Ueberflusse keine andere Gegend concurriren kann.

Gleichviel jedoch, ob die Märkte des Nordens oder des Südens die Producte liefern, die Vorstellung ist nicht abzuweisen, daß der überall verbreitete Milzbrand, gegen den wir Leben und Gesundheit der Arbeiter zu schützen wohl nicht weniger berechtigt sind, als die Schutzzöllner ihre Industrien in Eisen, Getreide etc., mit dem Haarhandel en gros ausgeführt wird. Hier ein Beleg auch für die zuletzt erwähnte Form der Krankheit: Nachdem Professor Wagner in Leipzig seine Beobachtungen über Mycosis bei Sattlern und ähnlichen Gewerben mitgetheilt hatte, kamen binnen drei Monaten des Jahres 1875 allein in der jetzt eingegangenen Roßhaarfabrik zu Dessau vier Fälle dieser Krankheit vor, von denen drei binnen wenigen Tagen tödtlich endeten und die Section in zweien die Krankheitsursache nachwies. In wie vielen Fällen mag die Krankheit unerkannt und die Anzeige bei der Behörde unterblieben sein!

Hat sich gegen die von mir dargethane Art der Milzbrand-Einschleppung unsere Sanitätspolizei bisher ohnmächtig erwiesen, so ist zu erwarten, daß sie, durch die Pestgefahr geweckt, auch gegen jene Seuche strengere Maßregeln ergreife. Die Frage des Wie? zu erörtern, unterlasse ich; es kommen dabei vielerlei Interessen in Frage, die der Sachverständige würdigen muß. Nur bemerke ich, daß meines Erachtens am meisten die großen russischen Märkte im Sommer zu fürchten und deshalb in Betracht zu ziehen sind.
Sanitätsrath Dr. M. Fr.
  1. Mycosis nennt man eine rasenförmige Ablagerung der durch die Luftwege eingewanderten Pilze in den Lungen, Därmen etc., die eine in den meisten Fällen tödtliche Krankheit herbeiführt. Der Arbeiter schütze sich dagegen durch eine mit Carbolsäure angefeuchtete Staubmaske. (Vgl. Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen S. 773 u. 694.)