Die Schreckensnacht von Eisenach

Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Storch
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Schreckensnacht von Eisenach
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 689–692
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[689]
Die Schreckensnacht von Eisenach.[1]

Nach dem Wiener Frieden im October 1809 lagerte sich eine entsetzliche Stille auf alle Länder deutscher Zunge; sie wurde im Laufe des folgenden Jahres nur dann und wann auf Augenblicke unterbrochen, erst durch den Schuß, der den Sandwirth „zu Mantua auf der Schanze“ in den blutigen Staub legte, gleich darauf durch den gräßlichen Hochzeitsjubel, als der Corse mit eiserner Faust die Erzherzogin auf den kalten Torus drückte, und ein paar Monate später durch den dumpfen Wehschrei, der durch alle deutschen Herzen schrillte, als Deutschlands sichtbarer guter Genius, die Königin Louise von Preußen, hinweggenommen war aus diesem Leben voll Schande und Schmach, die ein schlauer ehrgeiziger Soldat ohne sittliche Größe und Würde über die Welt gebracht, eine „Strafruthe“, die, obgleich sie als scharfer Besen Haufen von Unrath hinwegfegte, deshalb selbst noch kein Kometenschweif war.

Nach dem Tode des „Schutzgeistes“ wurde die Stille um so peinigender, als dann und wann das Hohn- und Lustgelächter über deutsche Dummheit und Niederträchtigkeit von Cassel her ertönte, wo ein junger lustiger Baumwollenkrämer, aus Amerika frisch verschrieben, daß er den neuerbauten Königsthron von Westphalen einnehme, seine tollen Orgien hielt. Wir Thüringer hatten’s nah; uns trug jeder Westwind den grausigen Jubel und die Düfte der Hekatomben zu, die deutsche Unterthänigkeit dem lustigen charmanten Könige aus Corsika schlachtete. Es klang und duftete alles so gespensterhaft und wenn die Schüsse dazwischen knatterten, die vor der guten Stadt Cassel Männer zum ewigen Schweigen brachten, die unvorsichtig für die alte legitime Hessendynastie geschwärmt hatten, so erhöhten sie nur den prächtigen Eindruck und Niemand muckste weit und breit.

Auch in meinem Vaterhause in Ruhla war eine qualvolle Stille. Im März war mein Vater gestorben, gleichsam mit den schmerzlichen Worten auf den Lippen: Wenn doch diese Franzosen einmal wieder aus unserm Lande fort wären! Ueber dem Hause lag es schwer und trüb, wie ein böses Geheimniß. Wie Gifttropfen waren Schrecken in meine Kinderseele geträufelt, die ich nicht verstand. Die Zeit schauerlicher Wirrsale war für mich angebrochen, aus deren Schlangenwindungen ich mich nie wieder habe befreien können.

Dieses seelenerkältende Dämmer- oder Nachtleben draußen in der weiten Welt und innen im engen Hause durchzuckte plötzlich ein durch das seit der Jenaer Schlacht schwer gedrangsalte und gedemüthigte Thüringerland weithin leuchtender Blitzstrahl; ein Alles aufschreckender Donnerschlag, als hätte die unsichtbare dämonische Macht, die da in Lebenstiefen auf- und abfluthet, die kleinmüthigen Menschen erinnern wollen: ich bin noch da, ich walte noch trotz aller Corsenwirthschaft.

Eines Abends – es war der 1. September – saß ich mit der Mutter in der Wohnstube, still, verdrossen. Ein mattes Oellicht stand auf dem Tische. Plötzlich gegen 9 Uhr zuckte ein Blitz durch die Nacht und bald darauf zitterte das Haus von einem seltsamen Schlage und ein dumpfes Donnern rollte durch das Thal. Die Mutter öffnete ein Fenster und schaute auf die dunkle Gasse. Der Nachbar Stumpff, der Claviermacher gegenüber, rief ihr zu:

„Das ist der jüngste Tag! Es geht los.“

Bald darauf hörten wir drüben einen Choral intoniren. Andere weniger bibelgläubige Nachbarn liefen auf die Straße, ich unter ihnen. Der schwarze westliche Himmel über den Bergen röthete sich. Die Leute liefen schaarenweis auf die hohen Berge, von deren Gipfeln man die anderen Höhen überschauen konnte. Ein fürchterlicher Anblick bot sich uns: an der Stelle der Stadt Eisenach wogte ein Feuermeer. Schauerlich schön nahm sich die von dem Gluthheerd angestrahlte Wartburg aus, von welcher fort und fort Blitze durch die Nacht schossen und Donner auf Donner durch unsere Berge rasten. Es waren die Nothrufe der dort stehenden Lärmkanonen. Der Moment war über allen Ausdruck schauerlich erhaben und hat sich meiner noch mit aller Weichheit des Kindergemüths begabten Seele tief eingeprägt.

„Ganz Eisenach steht in Flammen!“ schallte es von Berg zu Berg und durch den ganzen Ort. Die Spritzen rasseln über das Pflaster, viele Menschen brechen auf. Gern wär’ auch ich gleich mit fort, aber das gab die Mutter nicht zu. Sie versprach mir, am folgenden Morgen selbst mit zu gehen. Ich konnte wenig schlafen; meine Phantasie war zu heftig aufgeregt. Kaum war es Tag, so trieb ich zum Aufbruch. Schreckensnachricht auf Schreckensnachricht langt an. Hunderte von Menschen sind auf den Beinen nach Eisenach zu. Der ganze Weg durch die Thäler und über die Berge – ein Menschenzug. Wir hatten eine Menge Bekannte, Freunde und Verwandte in Eisenach. Während meines Vaters Lebenszeit war unser Haus oft voll Besuch [690] aus der Stadt. Eisenach war das Eldorado meiner Kindheit, die Wartburg das Zauberschloß der Fee Poesie für mich.

Immerfort kamen uns Botschaften entgegen, eine schlimmer als die andere. Ein schrecklicher Weg! Endlich erreichten wir die unglückliche Stadt gegen neun Uhr früh. Welch’ ein schauderhafter Anblick! Der ganze Markt voll Feuerspritzen, die daran stoßende Messerschmiedergasse in brennenden Ruinen, weiter nach Westen brennt die Georgengasse. Todte Pferde liegen da umher; Menschen arbeiten mit unglaublicher Energie. Alles, was Hände hat, schleppt Wasser herbei, Spritzen werfen diese Wassermassen in die gräßliche Gluth. Die ganze Luft zittert weit und breit von dieser Hitze. Hier und da werden scheußlich verstümmelte Leichen aus dem glühenden Schutt gezogen; die Arbeiter müssen sich vorsehen, sich nicht die Hände zu verbrennen. Als ein neugieriger Knabe kroch ich überall umher; meine Seele war ganz Auge und Ohr; ich sah und hörte alle die Schrecken, deren jeder einzelne ein gefühlvolles Herz mit Grausen erfüllte. Und schon nach einigen Tagen war ich wieder in der unseligen Stadt; sie brannte immer noch. Das Feuer wüthete über eine Woche. Dann lagen die Straßen wie ein großes Grab. Und wieder eine unheimliche Stille darüber. Es war das symbolische Grab Deutschlands unter dem verheerenden Fußtritte des Siegers von Jena und Wagram. Nach und nach hatte ich das ganze Unglück mit allen Einzelnheiten erfahren.

Wie immer bei solchen außerordentlichen Gelegenheiten war vieles von dem Erzählten fabelhaft; die Volksphantasie, schauerlich aufgeregt, dichtete Märchen. Das Wahre an dem grausigen Unglücksfalle war ungefähr Folgendes.

Seit dem Juni gingen starke französische Evacuationstransporte, alle fünf Tage dreißig bis vierzig Munitionswagen mit Pulver, Patronen, gefüllten Bomben, Granaten und Kartätschen beladen, aus der Festung Magdeburg über Halle, Erfurt, Gotha, Eisenach, Frankfurt nach Frankreich zurück, und zwar auf Kosten derjenigen Länder des Rheinbundes, durch welche diese Heerstraße führte. Ein solcher Transport von vielleicht 13 Pulverwagen kam am 1. September Abends in Eisenach an, als es schon zu dunkeln begann, und sollte durch die Stadt geführt werden, um jenseits derselben vor dem Georgenthore eine abgesonderte Aufstellung zu finden. Die Wagen wurden von Oekonomen und deren Knechten aus Gotha gefahren. Um 8¾ Uhr bewegte sich dieser Zug langsam aus der ehemaligen Jüdengasse, jetzigen Karlsstraße, über den schönen Markt in die Messerschmiedergasse. Ein Zufall, eine Unbedeutendheit – und o wie schwer wog sie im Geschicke der Stadt Eisenach! – veranlaßte einen Führer, vielleicht den des vierten, fünften oder sechsten Wagens, auf dem Markte etwas still zu halten. Dadurch wurde auch die nachfolgende Reihe zum Stehen gebracht. Ehe sie sich wieder in Bewegung setzte, waren die ersten drei oder wie viel Wagen voraus. Als diese an die Stelle kamen, wo die Messerschmiedergasse sich an ihre Fortsetzung, die St. Georgengasse, anschließt, explodirte einer dieser Wagen und entzündete die andern. Es ist wahrscheinlich, daß es nur drei Wagen waren, welche in die Luft flogen, doch festgestellt hat es niemals werden können, eben so wenig die Art ihrer Ladung. In Eisenach konnte natürlich Niemand etwas darüber wissen und die französischen Angaben waren ungenau und nicht zu verbürgen. Daß es nur drei Wagen waren, hat man daraus schließen wollen, daß Einige bei der Explosion drei verschiedene schnell hintereinander erfolgte Schläge vernommen haben wollten, welche in der Entfernung zu einem großen Schlage zusammengeschmolzen seien. So schloß man daraus, daß sich nirgend zerplatzte Granaten und Bomben vorfanden, daß die Wagen mit Pulver und Kanonenpatronen beladen gewesen seien. Es fanden sich nämlich im Schutt der Häuser gegen den Markt zu Kanonenkugeln von verschiedenem Kaliber, doch nicht einmal in solcher Anzahl, daß man annehmen durfte, ein ganzer Wagen sei mit Kanonenpatronen beladen gewesen.

Die Entzündung wurde am einfachsten dadurch erklärt, daß, wie man an den zurückgebliebenen Wagen nachher wahrnahm, loses Pulver durch die Spalten der von der Sonnenhitze eingetrockneten Faßdauben hindurchgerieselt und von einem durch den Hufschlag eines Pferdes einem Pflastersteine entlockten Funken in Flamme gesetzt worden sei.

Die Wirkung der Explosion war über alle Vorstellung entsetzlich. Ein greller, grausiger Blitz, den man meilenweit im Umkreise sah, erhellte für einen Augenblick die Nacht, eine schwarze Dampfwolke folgte dem Schreckenslichte, dann verschlang die Nacht wieder Alles und nun ertönte der gräßliche Donnerschlag und rollte von der Wartburg, deren Grundfelsen erzitterte, mit fürchterlichem Wiederhall über die Berge und durch die Thäler des nahen Thüringerwaldes hin. Die nächsten neun Häuser zu beiden Seiten der Straße, meist ansehnliche Gebäude, stürzten im nächsten Augenblick zusammen und zwar in die Straße herein, und begruben in ihren Trümmern Alles, was darin lebte und webte. Alle Menschen in der Nähe auf der Straße waren im Nu eine Beute des Todes. Von entferntern Häusern wurden die Dächer abgerissen, in einem noch weitern Kreise alle Fenster und Schornsteine zertrümmert, Fenster und Thüren zerschmettert, die Bekleidungen abgerissen, Oefen und Kamine übereinander geworfen, Spiegel und Bilder von den Wänden gerissen und zerschlagen. In weit entfernten Häusern vor der Stadt wankten Tische und Stühle und anderes Geräthe, sogar auf dem zwei Stunden von Eisenach entfernten hochgelegenen Schlosse in Kreuzburg sprangen die Thüren der Zimmer auf und drei, vier Stunden weit im Gebirge bemerkte man ein Wanken des Bodens. Ein mehrere Centner schwerer Schrittstein wurde von der Thüre eines der dem Verderben geweihten Häuser weit hinweggeschleudert.

Dies waren die Schrecken der ersten Augenblicke. Die ganze Bevölkerung der Stadt war wie betäubt. In Vielen erwachte derselbe finstere Gedanke, wie in Meister Stumpff, die Stunde des göttlichen Weltgerichts sei gekommen. Grauenvolle Jammerscenen wurden erzählt, aber es fehlte auch nicht an komischen Ereignissen.

Als die schreckengefesselten Glieder wieder zu Dienst waren und die von so unerhörtem Grausen aufgescheuchten Menschen dem Schauplatze des Unglücks zustürzten, kam der zweite Schrecken über sie. Außer den eingestürzten Häusern standen 24 andere Häuser der benachbarten Straßen in Flammen. Da galt es Menschenleben zu retten. Viele Bewohner dieser brennenden Häuser waren ja starr und besinnungslos vor Schrecken. Plötzlich ward man inne, welch’ ein unaussprechliches Verderben der ganzen Stadt und allen Einwohnern drohe. Ueber den ganzen Markt bis die Messerschmiedergasse und nur wenige Schritte von den brennenden Häusern stand die Colonne der noch übrigen Pulverwagen. Jeden Augenblick konnten sie sich entzünden. Dann war Eisenach ein todter dampfender Steinhaufen. – Die Menge stiebt wie in Wahnsinn aufschreiend auseinander. Muthige Männer stürzen, ohne an sich oder etwas Anderes zu denken, auf die Wagen los, um sie wegzufahren, aber der Schrecken hat die meisten Pferde so betäubt, daß sie nicht von der Stelle zu bringen sind und die Fuhrleute schneiden in Todesangst ab, um die Pferde und sich zu retten. Die gräßliche Gefahr steigt von Augenblick zu Augenblick, da wirft sich ein Häuflein wackerer Bürger auf die Wagen, spannt sich selbst an und fährt sie in rasender Eile aus der Stadt. Der Kutscher eines Hausbesitzers ist schnell mit seinen Pferden bei der Hand und holt einen Pulverwagen aus der brennenden Straße heraus. Nun rennt Alles, was Mensch heißt, zum Löschen herbei, was durch Wassermangel sehr erschwert ist, weil kein Fluß durch die Stadt geht und die Brunnen bald erschöpft sind. Da zeigen sich vorzüglich die Frauen hülfreich. Eine Menge derselben schleppt das Wasser in Butten und Eimern weit her. Während dem rufen die Kanonen mit Donnerstimme die weite Umgegend um Hülfe an (Eine zerspringt und zerreißt den Mann, der ihr zuviel zugetraut). Und wahrlich nicht vergebens! Von allen Seiten rasseln die Spritzen herbei. Mit ihnen und auf Feuerwagen Tausende von Menschenarmen. Alle Straßen und Wege, die nach Eisenach führen, sind die ganze Nacht meilenweit mit Hülfe bringenden Menschen bedeckt. Die Spritzen der Stadt Gotha legen den sieben Stunden langen Weg in zwei Stunden zurück und eine davon, die Rathsspritze Nr. 2., mit 12 Mann besetzt, unter Anführung des bei Feuersbrünsten durch Muth und Geschicklichkeit ausgezeichneten Schlossermeisters Silber, wurde von dem Sohne des Bürgers und Oekonomen Habermann mit dessen eigenen Pferden in 1¾ Stunden an den Unglücksplatz gefahren und that treffliche Dienste.

Eine große Windstille kommt der menschlichen Thätigkeit zu Hülfe, so daß das Feuer auf den entzündeten Häuserkreis beschränkt werden kann. Von den einmal brennenden Gebäuden konnte freilich nichts gerettet werden.

[691] An Menschenleben gingen allein 54 aus der Stadt zu Grunde, wie viel fremde, hat nie genau ermittelt werden können. Unter den Letztern waren Franzosen und Fuhrleute aus Gotha, ein Bürgerssohn und drei Knechte. Drei Handwerksbursche waren eine Stunde vorher in einem Gasthofe am Georgenthore eingekehrt, hatten gegessen und ihre Felleisen dem Wirthe übergeben, weil sie sich an dem schönen Abend in der Stadt umsehen wollten. Sie sind nie wiedergekehrt. Draußen in der Vorhalle der Gottesackerkirche lagen die gräßlich verstümmelten aus dem Schutt gegrabenen Leichen zur Recognoscirung ausgestellt, für mich, den weichherzigen Knaben, ein schrecklicher Anblick. Noch ist mir eine Leiche erinnerlich, an welcher ein Stück seiner seidener Hosenträger erhalten war. Sie konnte nicht erkannt werden; wahrscheinlich war es die eines französischen Beamten. Außer einem Bekannten, dem jungen Helmert, schmerzte mich am meisten der Untergang einer jungen Dame von wunderbarer Schönheit aus einer der ersten Familien der Stadt. Bekannt ist der eigenthümliche Eindruck, welchen hohe Frauenschöne auf empfängliche Knabenherzen hervorzubringen pflegen. Ich hatte dieses Mädchen einmal gesehen und war von ihrer ernsten erhabenen Schönheit wie berauscht. Man erzählte, sie habe wenige Minuten vor der Katastrophe einer Freundin, mit welcher sie zusammen bei der Tochter einer vornehmen Familie zum Besuch war, eine merkwürdige Todesahnung ausgesprochen. Die Freundin hatte noch eine Fremde, ein junges Mädchen, das bei ihr zum Besuch war, mitgebracht. Plötzlich empfand sie einen unwiderstehlichen Trieb, mit ihrem Besuch die Gesellschaft, in welcher es ihr wohl gefiel, zu verlassen. Als Ursache gab sie eine allgemeine Beängstigung an. Da soll die Schöne, deren Reize einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, geäußert haben: auch ihr sei es, als müsse sie gleich in den Tod gehen.

Kaum hatte die Freundin mit ihrer Begleiterin ihre Wohnung erreicht, als die Explosion geschah. Die Zurückgebliebenen, die Hausfrau mit ihrer Tochter und eben der holden Schönen, waren die Beute des schrecklichsten Todes. Die liebenswürdige junge Dame war die zärtlich geliebte Tochter eines wegen seiner Verdienste allgemein verehrten Mannes. In der Parterrewohnung wurden der Hausbesitzer, dessen Ehefrau, ein Kind und eine Magd getödtet. In diesem Hause hatte der Tod allein acht Menschenleben als Opfer gefordert, und welch ein herrliches war darunter! Ich stand tief ergriffen dabei, als man aus dem Schutte dieses Hauses einige Häuflein weißgeglühter feiner Menschenknochen hervorholte. Die zartesten davon wurden als die der so hochgefeierten und nun so tief betrauerten Schönen erklärt. Viele Jahre habe ich eins dieser Knöchlein, das ich mir angeeignet, und das hell wie eine Glasröhre klang, aufbewahrt. Wahrlich, früh schon sah ich in die schauerlichen Tiefen des Lebens!

Bei weitem die Mehrzahl der der Stadt angehörigen Todten waren aus der vornehmern Classe und aus den angesehenern Bürgerfamilien. So wurde in einem andern Hause die ganze aus sieben Köpfen bestehende Familie, Vater, Mutter, vier Kinder und eine Magd, in das schwarze Verhängniß gerissen. In einem dritten wurde ein Brautpaar mit der Mutter und der Schwester der Braut durch den Einsturz getödtet. Eine Wittwe erfuhr dasselbe Schicksal mit ihrem Sohne und ihrer Magd; die eben abwesende Tochter blieb allein von der Familie am Leben. Ein junger Mensch, der in der Nähe der Explosion durch die Straße ging, wurde zerstückt weit fort geschleudert. Einem Kaufmannsdiener, der in einem der nächsten Häuser ausräumen half, raubte eine später entzündete scharfe Patrone noch das Leben.

Die Zahl der schwer Verwundeten und zum Theil schrecklich Verstümmelten betrug über 20; die der leicht Verwundeten wohl dreimal mehr. Einem jungen Manne, der sich in dem der Schreckensscene nahen Kaffeehause befand, wurden durch eine Kugel die linke Wange und beide Augen weggerissen; der furchtbare Blitz war das letzte Licht, das er sah. Eine der sonderbarsten und gewaltsamsten Beschädigungen war die, welche ein vor der Thüre seiner Herrschaft wenigstens hundert Schritte von der Explosion stehender Diener erfuhr, indem ihm der abgerissene Fuß eines Pferdes mit dem Hufeisen in den Unterleib geschlagen wurde.

Aber auch Beispiele merkwürdiger und schier wunderbarer Rettung kamen vor. In dem oben zuerst erwähnten Hause, in welchem die junge Schöne das Ziel ihres Lebens fand, war im Seitengebäude eine Magd beschäftigt. Beim Blitz und Donnerschlag der Explosion und dem entsetzlichen Krachen der einstürzenden Häuser schlug sie vor Schrecken die Hände über dem Kopfe zusammen, und hielt dadurch einen herabstürzenden Balken davon ab, der ihn wahrscheinlich zerschmettert haben würde. Zur Thüre herausgesprungen, hörte sie in einer nahen, bereits brennenden Kammer das Geschrei zweier schon zu Bette liegenden Kinder. Sie eilt hinein, nimmt auf jeden Arm eins, und erreicht glücklich die Straße. Aus demselben Gebäude wurde auch die schon lange krank darnieder liegende Mutter des Hausbesitzers gerettet.

In dem uns befreundeten Hause des Glasermeisters Helmert ereignete sich Folgendes: der Mann war ausgegangen; die Frau war im Begriff, mit drei Kindern zu Bette zu gehen. In einem andern Zimmer wohnte ein Gymnasiast, bei welchem eben eine arme Frau war, um sich einen Brief von ihm schreiben zu lassen. Alle kamen um bis auf Frau Helmert, die in den Keller hinabstürzte, und zwischen zwei im Fallen angelehnte Balken zu liegen kam, die sie vor dem Erschlagen schützten. Durch eine Lücke sah sie das aufglühende Feuer und arbeitete sich hervor, mit der Sorge, wie sie nun aus dem zweiten Stock, wo sie noch zu sein wähnte, auf die Straße kommen möchte. Allein im Fortkriechen kam sie auf ein todtes Pferd, und wurde nun inne, daß sie sich schon im Freien befand. Sie raffte sich auf und sah sich von Menschen umringt, die ihr eine Hülle überwarfen, denn das Hemd war ihr bis auf einen Fetzen vom Leibe gebrannt. Man führte die Unglückliche in ein Haus am Markt. Hier traf sie auf ihren nach Hause eilenden Mann, dem sie zurief, die Kinder zu retten. Er fliegt an die Stätte seiner Wohnung, und findet sie von Flammen überloht. Da ist jede Rettung unmöglich. Der Mann zerdrückt die Thränen im Auge und spricht: „Gott hat mir meine Lieben genommen. Wohlan, so will ich für meine Mitbürger thun, was ich vermag!“ Und so eilt er an seinen Posten als Spritzenmeister und arbeitet die ganze Nacht unermüdlich, wodurch er nicht wenig zur Dämpfung des Feuers beiträgt. Ich sah später die Brust dieses edlen Mannes mit einem Ehrenzeichen Karl August’s, seines Fürsten, geschmückt. Wahrlich, hier war’s an der rechten Stelle, wie selten!

Ein Greis, der auf die löbliche Hausvatersitte hielt, jeden Abend seine Hausthür selbst zu verschließen, hatte dieses Geschäft eben vollbracht, als die Gewalt des entzündeten Pulvers das schwere Hausthor über ihn herwirft. In demselben Augenblicke stürzt aber auch von der Decke der Hausflur ein dicker Querbalken herab, auf welchen der obere Theil des Thores zu liegen kommt, so daß der in die Höhlung gedrängte Greis gerettet ist.

Ein junges Ehepaar sitzt kosend auf dem Sopha, als der fürchterliche Schlag geschieht, und der Boden unter den Füßen weicht, die Decke herabbricht. Die Gatten erfassen sich entsetzt, und sind plötzlich unter krachenden Trümmern unten auf der Straße, sie wissen nicht wie. Sie fahren empor, und finden sich vor der Thüre des gegenüberliegenden Hauses, dessen Bewohner eben mit blutenden Köpfen herausstürmen; denn Dach und Decke sind über ihnen zusammengefallen. Das junge Ehepaar erreicht, nur leicht verletzt, das Elternhaus des Mannes am Markt. Dort stand die Leiche des Tags zuvor verstorbenen Vaters auf der Bahre. Die Wittwe unterhielt sich mit ihrer Schwester daneben. Da zuckt der Blitzstrahl, der Schlag fällt, die Fenster zersplittern, Flammen schießen auf, Gekrach und Geschrei. Die Wittwe ruft der Leiche zu: „So werde ich heute noch mit Dir vor Gott stehen, der da kommt zu richten die Lebendigen und die Todten!“ – Als die Explosion endlich natürlich erklärt wird, schreit die arme Frau nach ihrem Sohne und dessen junger Gattin auf. Sieh, da öffnet sich die Thür, und beide treten herein.

Wären die Wagen in der Jüdengasse oder nur einige Schritte früher, vor dem Gasthofe zum halben Monde, explodirt, so wäre die Zahl der Todten weit stärker gewesen. In dem genannten Gasthofe waren nämlich über 30 der angesehensten Männer zu einem geselligen Mahle versammelt, und das ganze Haus voller Menschen.

Der Schaden, in Geld angeschlagen, war sehr groß; man schätzte ihn über 200,000 Thaler. Die zertrümmerten Fenster konnten allein nicht unter 10,000 Thaler wieder hergestellt werden. Die schöne Stadt war erst schon durch widrige Conjuncturen verarmt. Der entsetzliche Schlag traf sie sehr hart.

[692] Drei Jahre später stand ich in derselben Straße vor den neuerbauten, stattlichen Häusern, als die ersten flüchtigen Franzosen aus der Leipziger Schlacht elend und jämmerlich vorüber zogen. Aus den Fenstern der neuen Häuser sahen ihnen fröhliche Gesichter nach. Siehe da ein bedeutungsvolles Stück Weltgeschichte im Kleinen!

  1. Das Mainzer Unglück veranlaßt uns, diesen Artikel aus L. Storch’s Denkwürdigkeiten abzudrucken.
    D. Red.