Die Sage/Das periodische Auftreten der Sage

Die Wanderung der Sage und der Sagenzüge Die Sage (1908) von Karl Wehrhan
Das periodische Auftreten der Sage
Geschichte und Sage


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VI. Das periodische Auftreten der Sage.

Für das periodische Auftreten der Sage sind geradezu typisch die Beispiele, die Steinthal[1] anführt und die wir deshalb hier kurz wiedergeben. In einer sonst an Überlieferungen sehr armen Gegend Anhalts wurde im April 1848 folgender Vorgang als dort geschehen erzählt: Der Nachtwächter von Klein-Köthen sah bei seinem mitternächtigen Gange an einer sonst unbebauten Stelle vor dem Dorfe ein Haus mit drei erleuchteten Fenstern, das beim folgenden [39] Rundgange um ein Uhr verschwunden war. Als er in der folgenden Nacht dasselbe sah, machte er dem Pfarrer Mitteilung, der in der dritten Nacht an das Fenster des geheimnisvollen Hauses trat und darin ein kleines Männlein erblickte, das ihm zuwinkte, einzutreten. Nachdem er der Aufforderung gefolgt war, führte ihn das Männlein an eins der drei Fenster, durch das er auf ein Weizenfeld von nie gesehener Fruchtbarkeit blickte; ans zweite Fenster geleitet, sah er auf ein großes Schlachtfeld mit Haufen von Leichen und Strömen von Blut; sich schaudernd abwendend, erkannte er in dem dritten Fenster das Bild des ersten wieder, das Feld war jedoch halb abgemäht, aber auf dem ganzen Felde war nur ein Mensch. Darauf verschwand alles und in den folgenden Nächten war keine Erscheinung mehr wahrzunehmen.

Ähnliche oder gleiche Sagen waren aber nicht unbekannt. Im Anfang des Jahres 1832 begegneten[2] nach Sonnenuntergang einem Förster im Hartwalde bei Karlsruhe drei weiße Gestalten, von denen die erste sprach: „Wer wird all das Brot essen, das es dieses Jahr gibt?“ die zweite: „Wer wird all den Wein trinken, der dieses Jahr wächst?“ die dritte: „Wer wird all die Toten begraben, die dieses Jahr sterben?“

Eine ganz ähnliche und doch verschiedene Sage berichtet schon Grimm[3] aus dem 17. Jahrhundert: „Im Jahre 1686 am 8. Juni erblickten zwei Edelleute auf dem Wege nach Chur in der Schweiz an einem Busch ein kleines Kind liegen, das in Linnen eingewickelt war. Der eine hatte Mitleiden, ließ seinen Diener absteigen und das Kind aufheben, damit man es ins nächste Dorf mitnehmen und Sorge für es tragen könnte. Als dieser abgestiegen war, das Kind angefaßt hatte und es aufheben wollte, war er es nicht vermögend. Die zwei Edelleute verwunderten sich hierüber und befahlen dem andern Diener, auch abzusitzen und zu helfen. Aber beide mit gesamter Kraft waren nicht so mächtig, es nur von der Stelle zu rücken. Nachdem sie es lange versucht, hin und hergeschoben und gezogen, hat das Kind angefangen zu sprechen und gesagt: „Lasset mich liegen, denn ihr könnt [40] mich doch nicht von der Erde wegbringen. Das aber will ich euch sagen, daß dies ein köstliches fruchtbares Jahr sein wird, aber wenig Menschen werden es erleben. Sobald es diese Worte ausgeredet hatte, verschwand es. Die beiden Edelleute legten nebst ihren Dienern ihre Aussage bei dem Rate zu Chur nieder.

In Graubünden erzählt man[4], ein Bauer sei durch die Wiesen gegangen, habe sich der grünen Saat, der schneeblühenden Bäume, der freudeweinenden Reben erfreut, daß das Herz ihm warm worden und endlich unter den Ähren ein kleines hilfloses Kind liegend gesehen, das bittend sein Händchen gegen ihn streckte. Er habe es mitleidig aufheben und mit heim nehmen wollen, aber so schwer gefunden, daß weder er noch die Nachbarn es zu lüpfen imstande waren. Da glänzte es auf einmal wie Gold und sang: „Hast wohl vertrauet, hast wohl gebauet, gebaut auf Gott!“ worauf es gen Himmel schwand. Es war das Kornkind.

Schließlich noch eine Sage dazu aus dem Salzburgischen: „Im Jahre 1847, da auch der dürre Birnbaum auf dem Walserfelde am Untersberge wieder zu grünen begann, kam zu einem Bauersknechte ein Bergmännlein und winkte ihm zu folgen. Der Knecht willfahrte, und so führte ihn das Männlein auf einen Felsen, wo er abwärts schauend das Tal voll Soldaten sah. Sofort stiegen sie auf eine höhere Stelle, und von dort aus sah der Knecht das Tal voll Blut. Und endlich stiegen sie an einen dritten und höheren Ort; was er aber dort gesehen, das wollte er keinem Menschen anvertrauen“.

Zur Erklärung der Sagen sei kurz bemerkt, daß, soweit nachweisbar, im Zeitgeist und in den Zeitverhältnissen die Erklärung für „erneutes“ Auftreten gefunden werden muß. Die Sagen aus Anhalt und Salzburg sind mit dem Jahre 1848 verknüpft – die Salzburger Sage ist sicherlich beim späteren Aufzeichnen unbewußt ein Jahr vordatiert – jenem fruchtbaren Jahre, in dem der März fast schon zum Juni geworden war; es ging bekanntlich in jenem tollen Jahre drunter und drüber, und so treffen wir die Gedanken wieder, welche den roten Faden der Sagen bilden.

[41] Auch die Hartwaldsage paßt in diesen äußeren Rahmen, wenn auch einige Züge fehlen. Die Julirevolution 1830, das verheerende Auftreten der furchtbaren Cholera 1831 und 1832, die in jener Zeit selbst in höheren Kreisen allgemein verbreitete Furcht vor einer Vernichtung aller Kultur und Zivilisation: das alles bildet wieder einen natürlichen Hintergrund für eine Neubelebung des alten Gedankens. Auch die Jahre vor 1686 bieten ähnliche Verhältnisse: Nachwehen des 30jährigen Krieges, böse Religionswirren in der Schweiz, Aufhebung des Edikts von Nantes (1685), die Kriege Ludwigs XIV. u. a.

Die drei weißen Jungfrauen der Hartwaldsage sind die Nornen, die altgermanischen Schicksalsgöttinnen; das schwere Kind wird das Christuskind sein; der Untersberg ist der Berg, in dem Kaiser Karl der Große schläft; sobald der Birnbaum zum dritten Male grünt, kommt er hervor und eine ungeheure Schlacht wird geschlagen, bei der ein großes Blutbad angerichtet wird.

Daß Örtlichkeit und Personen ein und derselben Sage in verschiedenen Zeiten und Gegenden wechseln, ist bekannt, so auch hier; auch daß hier und da einzelne Sagenzüge fehlen oder unklar sind, sehen wir an diesen Sagen, bei denen die jüngste, die Anhaltiner Fassung, die treueste und vollständigste Form bietet. Wie ist aber ihr Auftreten zu erklären? Jedenfalls haben die einzelnen Erzähler nichts von einander gewußt, sicherlich auch nicht der Anhaltiner von dem Schweizer oder umgekehrt. Auch daß sie alle oder einige doch die Sage erfunden, also gedichtet hätten, ist höchst unwahrscheinlich. Die Antwort kann nur in folgendem gefunden werden:

Durch die obwaltenden Zeitverhältnisse wird eine alte, besonders in ihren Einzelheiten fast vollkommen vergessene Sage in ihrem Hauptgedanken Vollkommen neu belebt, dessen Einkleidung aus eigener Phantasie dann völlig neu geschaffen oder doch erheblich ergänzt wird. So sind die oben angeführten Sagen unbewußte Umbildungen alter in den betreffenden Gegenden ursprünglich heimischer Formen, für die man zweifelsohne eine gemeinsame Urform annehmen kann. Der Hauptgedanke einer Sage geht nicht so leicht im Volke verloren, wenn diese auch von der großen Menge vollständig vergessen ist. Es ist ganz natürlich, wenn eine [42] Sage nur von wenigen noch gekannt wird, wird sie auch nur wenigen mitgeteilt; es ist sogar der Fall denkbar, daß schließlich nur noch eine Person Kenntnis davon hat, und wenn diese stürbe, so wäre sie in der Tat für immer verloren, wenn sie sie nicht weiter mitgeteilt hat. Unter Umständen kann eine Sage Generationen hindurch an eine oder wenige Personen gebunden sein, bis sie bei geeigneter Gelegenheit wieder aus der Stille hervorgeholt und in neuem Kleid auftritt, an dem uns die Hauptteile an die frühere Form erinnern, während ihm die allzeit schaffende Phantasie einen neuen Zuschnitt gegeben hat. So haben wir eine Erklärung dafür, daß eine Sage, welche unbestimmt lange Zeiten hindurch wie im Unbewußten der Volksseele schlummerte, plötzlich bald hier, bald da in das lebhafteste Bewußtsein tritt, um dann nach kurzer Zeit wieder zu verschwinden und zu anderer Zeit, an einem anderen Orte, in anderer Gestalt wieder zu erscheinen[5]. Es ist dieselbe Sage, derselbe Volksgedanke in immer anderer Gestalt, der so Jahrhunderte oder Jahrtausende hindurch ein periodisches Leben führt.


  1. Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. XX. 1890. S. 306–317.
  2. Mone’s Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters. IV. 1835. S. 307.
  3. Deutsche Sagen. 3. Aufl. Berlin 1891. Nr. 14. S. 10 (nach Bräuners Curiositäten 274).
  4. Flugi bei Rochholz, Naturmythen I. S. 273.
  5. Daß es auch mit Anekdoten so ist, dafür gibt Steinthal a. a. O. S. 314, 315 einige Beispiele.


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