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Autor: Paul Bekker
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Titel: Die Reichstheaterwoche
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 195 (25.06.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Die Reichstheaterwoche


Es ist schon in Zitaten und Hofberichten von dieser Veranstaltung hier die Rede gewesen. Aber die Sache will’s, dass nochmals ausführlich davon gesprochen werde, sei es auch nur der Geschichtswissenschaft wegen. Es werden Zeiten kommen, in denen die Menschen nicht glauben wollen, dass so etwas einmal möglich war, vor allem die nicht, die selbst daran teilgenommen haben.

Die Veranstaltung von Festwochen gegen Ende des Spieljahres gehört seit Jahrzehnten zu den Gepflogenheiten der deutschen Bühnen. Namentlich die landschaftlich bevorzugt gelegenen Theaterorte taten sich auch darin hervor, die im Frühjahr besonderen Fremdenzustrom erhielten. So waren die Wiesbadener Mai-Festspiele durch die Anwesenheit des letzten Kaisers berühmt. München hatte seine Wagner- und Mozart-Festspiele. Als die Verkehrswerbung für die Grosstädte eifriger wurde, folgte Berlin mit seinen Kunstwochen, Frankfurt a. M. bemühte sich ebenfalls, und es gab bald keine deutsche Stadt, die nicht ihr Theater im Frühjahr besonders herausgestellt hätte.

Die Idee der Theaterfestwoche ist also so alt, dass sie kaum noch als Idee gelten kann. Worauf Göbbels diese Idee plötzlich als Eingebung des Nazi-Gottes empfängt.

Wie führte man ehedem so etwas aus?

Strebsame Theaterleiter setzen den Ehrgeiz darein, eine oder zwei Uraufführungen zu bieten, an die sich wichtige Neuaufnahmen aus dem Verlauf der Spielzeit reihten. Hatte man keine geeigneten Uraufführungen, so wählte man bedeutsame Schöpfungen der Vergangenheit, die von der Gegenwart vernachlässigt waren, oder man brachte gewichtige Neu-Inszenierungen repräsentativer Werke. Minder geistig gerichtete Direktoren begnügten sich mit der Heranholung namhafter Gäste und stellten ad hoc ein Berühmtheiten-Ensemble zusammen. Das war nicht immer sehr künstlerisch, aber das Theater-Interesse wurde belebt. Darauf kam es an. Der Theaterleiter fühlte die Verpflichtung, seinem Publikum Ueberraschendes, vom Alltag Abweichendes zu bieten und so beim Abschluss der Spielzeit durch Zusammenfassung aller Kräfte für die kommende Spielzeit zu werben.

Wenn man jetzt unter Nachahmung dieses – goddam – „liberalistischen“ Musters eine Reichstheaterwoche veranstaltet, so dürfte sie nicht bei einer simplen Programm-Imitation stehen bleiben. Sie müsste zeigen, wie anders so etwas aussieht, wenn das Reich selbst als Veranstalter zeichnet und Heroen wie Göbbels und Daubinger das deutsche Theater aus dem demokratischen Sumpf herausziehen.

Wie sah es in Wirklichkeit aus?

Das Positive vorweg: der Reichskanzler war anwesend. Das ist vorbehaltlos anzuerkennen, und dabei immer wieder die Torheit und Kurzsichtigkeit der früheren Reichs- und Landesminister anzuprangern, die sich aus Scheu vor Repräsentation solchen Pflichten entzogen haben. Also die Bedeutung eines Kanzler-Besuches, gleichviel wie der Mann heisse, anerkannt – aber nur damit und mit SA-Paraden macht man es auch nicht, sofern man ernsthaft für das Theater wirken will. Der Rahmen allein tuts nicht, und wenn er noch so wilhelminisch hergerichtet ist. Es muss eine Substanz vorhanden sein.

Wo war die Substanz in Dresden?

Das Programm begann mit „Tristan“ und schloss mit „Meistersinger“. Zwischendurch dirigierte Strauss „Rosenkavalier“ und „Arabella“. Es folgte „Oberon“, Händels „Julius Cäsar“ wurde in Hellerau aufgeführt. Das Schauspiel steuerte „Tell“, Eichendorffs längst gegebene „Freier“, ein paar neuere Kleinigkeiten und „Peer Gynt“ bei.

Gute Werke, nichts dagegen zu sagen, anständiger Wochenspielplan. Aber eine Reichstheaterwoche? Was an diesem Programm rechtfertigte den erstmaligen Einsatz des Protektors „Reich“? Wo war die Originalität des Aufbaues, die Bedeutung des Inhalts? Wodurch unterschied sich das Ganze von früheren lokalen Einzelveranstaltungen? Woher sollte die Ueberzeugung kommen: so sieht eine Theaterwoche aus, wenn sich das Reich ihrer annimmt, und damit sie so aussehen kann, muss das Reich in Funktion treten und alle Elemente der geistigen, künstlerischen, wirtschaftlichen Initiative aus einer einzigen Zentrale zusammenfassen?

Was sollte an diesem physiognomielosen Programm werben? Was sollte die Menschen aus dem Alltag des Kunstbetriebes aufrütteln, ihnen Möglichkeiten und Wirkungen des Theaters von einer unbekannten festlichen Seite her zeigen? Wo waren neue Werke, wo waren neue Aufführungsideen? Wo war die Bezugnahme auf die soziale, die geschichtliche, die technische Struktur des Theaters, wo waren die Probleme des Spielplanes, der Organisation, der Bühnengestaltung, deren Behandlung doch gerade in eine Reichstheaterwoche gehört?

Doch halt: Göbbels hat das alles bedacht und zur Vermeidung von Unstimmigkeiten persönlich erledigt. Er hat gesprochen. Der Sicherheit halber und weil er sich so gern reden hört gleich zweimal: erst als stimmungsvoller Prolog zu „Tristan und Isolde“ und dann bei der gleichzeitig anbefohlenen Tagung des ehemaligen Deutschen Bühnenvereins. Er hat zunächst wieder seine Lieblingsthese von der „Politik als Kunst“ verkündet. Mit solchen Sophismen wird der Hörer eingenebelt und dann kommt der Göbbelsche Eiertanz um die ‚Moderne’, oder was er so nennt. Erste These: Dichtung muss zeitgemäss sein. Zweite These: alle neuen Dramen sind Kitsch. Hörer, such Dir aus, was Du willst. Göbbels hat Sprüche für alle Geschmäcker. Er ist einmal für, ein andermal gegen den Lippenstift, heut streng klassisch und morgen ultramodern. Dichtet er doch selbst und weiss, was das für eine saure Sache ist. Wenn man ihm doch den Gefallen täte, ihn als geistige Erscheinung wirklich ernst zu nehmen. Er ist im Grunde ein armer Kerl mit unglücklicher Liebe zur Kunst. Niemand glaubt sie ihm – und das merkt er. So gescheit ist er nämlich, den Schwindel der Beweihräucherung zu erkennen. Um wie viel besser hat es Göring. Der zieht nur eine neue Uniform an, veranstaltet ein Geburtstagsessen mit Damen und wird sofort von Richard Strauss gefeiert, „nicht nur als der grosse Staatsmann, sondern auch als der warmherzige Mensch und Freund der Künstler.“ Und die lieben Englein im Himmel singen und tanzen dazu.

Fazit: die Reichstheaterwoche in Dresden hat dem für die Geisteskultur eines Landes wichtigsten Gebiet des gesprochenen Dramas überhaupt nichts gebracht, nichts an Werken, nichts an Aufführungen, nichts an Problemstellungen. Keine Frage der Stellung der Hörerschaft zum Werk, des Werkes zur Hörerschaft wurde laut. Die Reichstheaterwoche bestand zur Hauptsache aus ein paar Renommieraufführungen altbekannter Opern, die ebenso in Monte-Carlo oder in New York gegeben werden konnten, wie in Dresden. Klein-Zaches hat ein paar Reden gehalten, die in der tiefen Erkenntnis gipfelten: „Lieber ein guter Klassiker, als ein schlechter Moderner.“

Zugegeben, lieber ein guter Goethe als ein schlechter Johst. Wir sind sogar zu weiterem Entgegenkommen erbötig, lieber ein schlechter Goethe als ein guter Johst. Wir haben uns noch nie so von Herzen einig gefühlt mit Göbbels.

Frage: Sind die in Deutschland lebenden Menschen nur so verängstigt, oder sind sie bereits wirklich so verblödet, dass sie die einzige mögliche Antwort auf solchen platten Schwatz: das tötende Lachen nicht finden?

Mit dieser Fragestellung sind wir zum Kernproblem der Reichstheaterwoche selbst vorgedrungen.