Die Pflege der gelähmten Gliedmaßen
Non est in medico semper, relevetur ut aeger – es steht nicht immer in der Macht des Arztes, daß der Kranke völlig gesunde; ein vom Nervenschlage Genossener wird nur selten den ursprünglichen Gebrauch des gelähmten Gliedes ganz wieder erlangen;
[501] aber wo nichts zu heilen ist, bleibt doch manches zu verhüten, zu lindern und zu bessern, und in dieser Richtung steht in den
angedeuteten Zuständen der ärztlichen und häuslichen Pflege ein segensreicher Wirkungskreis offen. Indem wir einige hierauf bezügliche praktische Winke zu ertheilen gedenken, wollen wir die Krankheiten, auf welche wir vornehmlich reflectiren, zunächst kurz skizziren:
1) bei Kindern: nach einer Gehirnentzündung, einem hitzigen Fieber, zurückgetretenen Masern, nach einem Fall oder Stoß auf den Kopf, und wie die nicht immer klaren Erinnerungen sonst lauten, hat das Kind entweder gar nicht gehen gelernt, oder es ist ein Bein lahm geblieben, der Fuß ist in der Ferse verkürzt (Pferdefuß), oder der Unterschenkel im Knie angezogen, wobei der Fuß nicht selten die Hinterbacke berührt; zuweilen sind auch noch an der Hand derselben Seite einige Finger contract. Die Kinder zeichnen sich nebstdem durch eine zarte Constitution, sehr weiße Gesichtsfarbe, Schreckhaftigkeit aus; die Sprache, besonders die Articulation ist mangelhaft, wenn auch die geistige Entwickelung im Allgemeinen nicht zurückgeblieben ist.
2) bei Erwachsenen ist meist eine ganze Körperhälfte schwächer, als die andere, was aus dem Gange sogleich ersichtlich: das Bein, im Knie nach hinten gebogen, wird nachgeschleppt oder unter Beschreibung eines Kreises aufgesetzt; der Stock wird zum integrirenden Körper-Supplement; sehr fatal ist der Weg von einer Anhöhe herab oder auf höckrigem Steinpflaster, lehmigem Boden u. dgl. Bei dieser Einseitigkeit des Ganges verläßt der Schwerpunkt des Rumpfes die gerade Linie, und das Rückgrat wird schief nach der gelähmten Seite hin. Die Schwäche der oberen Extremität offenbart sich bei subtileren Handthierungen, die Hand geräth leicht in’s Zittern, kleinere Gegenstände werden schwer gegriffen; auch klagen diese Leute über Gedächtniß- und Gesichtsschwäche, sie sind in der Regel stark hypochondrisch und leicht erregbaren Gemüthes.
3) bei alten Leuten ist die halbseitige Lähmung entweder eine totale oder sie ist bis auf den Arm zurückgegangen; dieser kann nur sehr unvollkommen gehoben werden, und im Anfange ist jeder Versuch einer Bewegung mit Schmerzen in der Nähe der Gelenke verbunden; die Finger sind krallenartig zusammengezogen, bei höheren Graden auch die übrigen Gelenke contract.
Es geschieht namentlich in den Fällen der letzten Nummer, daß die Kranken und ihre Angehörigen in einen Zustand von Indifferentismus den ärztlichen Leistungen gegenüber verfallen: nachdem sie allerhand gebraucht, und in der Erwartung eines sofortigen Erfolges getäuscht, bleiben sie schließlich sich selbst überlassen; als Hauskreuz bemitleidet und geduldet, bringen sie ihre Tage auf dem Lehnstuhle oder im Bette regungslos zu. Man erinnere sich aber, wie ein blos Stunden langes Verharren in einer und derselben Körperstellung z. B. wegen chirurgischer Schäden oder beim Fahren im Postwagen schon einen Gesunden völlig contract machen kann, um sich eine Vorstellung davon zu bilden, wie ein solches Tag aus, Tag ein sich gleichbleibendes Verhalten den Zustand der Lähmung noch steigern, das Glied noch vollends verlahmen muß. Zum Wohlbefinden der Gliedmaßen gehört vor Allem die Lebendigkeit des Blutlaufes, und dieser wird vornehmlich durch Muskelbewegung gefördert, durch Ruhe geräth er in’s Stocken, zumal wenn die Vegetation des Gliedes ohnedem durch abnormen Zustand der Nerven beeinträchtigt ist; ferner verlieren lange unthätige Muskeln das Vermögen, sich zusammenzuziehen, und es erwächst hieraus die wichtige Aufgabe, ein zur selbstständigen Action unfähiges Glied durch passive Bewegung auf dem Stande der normalen Existenz zu erhalten, und dadurch nachträgliche Erkrankungen zu verhüten. Morgens und Abends muß der Arm, das Bein in den Hauptgelenken mehrere Minuten lang von Andern gebeugt und gestreckt werden; der Kranke wird im weiteren Verlaufe die Fähigkeit erlangen, selbstthätig mitzuwirken, und um die Wiederherstellung des Willenseinflusses zu beschleunigen, heißt man ihn, der jedesmaligen passiven Bewegung in entgegengesetzter Richtung activen Widerstand leisten. Dadurch läßt man zugleich dem ganzen Körper eine für den Appetit, den Schlaf und die Transpiration überaus förderliche Bewegung angedeihen. Gelähmte, bei denen dies Verfahren erst nachträglich angewendet wird, erwachen dadurch ordentlich zu neuem Leben.
Muskeln, welche in beständiger Verkürzung verharren, bleiben schließllch zu kurz und manche Contractur ist durch die Nichtbeachtung dieses Momentes entstanden: es ist streng und beständig darauf zu achten, daß die Füße der Gelähmten eine solche Lagerung einnehmen, daß die Muskeln möglichst gedehnt sind, die Gelenke im Mittel von Beugung und Streckung sich befinden. Es wird dies namentlich bei Kindern vielfach versehen: man läßt sie unbeachtet auf der Erde herumkriechen, mit gekreuzten Beinen sitzen, und in der Wachsthumsperiode ist eine organische Verbildung ganz besonders zu befürchten. Eine solche wird ferner dadurch begünstigt, daß man die Kinder mit dem lahmen Beine ohne Stütze umherhinken läßt, wo alsdann durch die Schwere des Körpers der Unterschenkel ausgebeugt wird, der äußere Fußrand wird zur Sohle beim Auftreten und die Fußwurzelknochen erleiden allmählich eine Verschiebung und Verrenkung. Um dies zu vermeiden, muß, wenn die Kinder wirklich zu gehen anfangen, das schwache Bein durch eine Krücke unterstützt, es kann durch eine solche auch ganz ersetzt werden; wenn solche Kranke wieder zu gehen anfangen, müssen sie nicht nur möglichst ökonomisch mit ihrer Körperkraft umgehen, sondern auch die größte Aufmerksamkeit auf eine richtige Balance des Körpers verwenden, unter Umständen auch erst sich der Krücken bedienen.
Die von uns bereits mehrfach in der Gartenlaube erwähnte Faradisation trägt, frühzeitig genug angewendet, wesentlich dazu bei, das Muskel- und Nervenleben zu erhalten; sie ersetzt die Erregung durch den Willen, indem der elektrische Strom in dem gelähmten Gliede jegliche Bewegung hervorzurufen vermag, und die Anwendung derselben kann im Nothfalle für einen bestimmten Kranken von intelligenten Laien dem Sachverständigen abgelernt werden.
Einreibungen haben wohl den Nutzen, daß sie die Haut beleben und eine wohlthätige Empfindung hervorrufen; auf die gelähmten Nerven und Muskeln selbst üben sie wenig directen Einfluß, daher man im Anfang die günstige Zeit nicht mit ihnen verthun soll. Am besten und billigsten nimmt man Calmusspiritus, den man durch Ausziehen der Calmuswurzel mit Franzbranntwein oder durch Vermischen etlicher Tropfen Calmusöl mit Spiritus selbst bereiten kann. Wichtiger als das Medicament der Einreibung ist die damit verbundene mechanische Wirkung auf die Muskeln, besonders wenn man damit ein methodisches Kneten verbindet. – Sehr wohlthuend und stärkend sind ferner kalte Waschungen und darauf folgende Frictionen mit den eigens dazu fabricirten bürstenartigen Handschuhen; im Winter verdienen warme Bäder der Füße und Hände, auch des ganzen Körpers den Vorzug. – Als Bekleidungsstückzulage für gelähmte und daher leicht frierende Gliedmaßen erfreut sich die Waldwolle eines besonderen Rufes. –