Aus der Belagerung von Lucknow

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Titel: Aus der Belagerung von Lucknow
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 501, 504
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[501]

Aus der Belagerung von Lucknow.

Abermals sind die besorgten Blicke der Engländer und der civilisirten Völker der Erde nach Lucknow gerichtet, welches, wie vor einem Jahre, neuerdings wieder von indischen Rebellenhaufen umringt wird und so noch einmal den Schrecknissen einer grauenvollen Belagerung entgegen sehen muß. Außer Zeitungsberichten und Bruchstücken aus Briefen, die theilweise große Uebertreibungen enthielten, ist neuerdings ein Werk[1] erschienen, welches in einer treuen Darstellung des blutigen Drama’s, das sich im vergangenen Jahre vor Lucknow entfaltete, so viel Interessantes darbietet, daß wir durch Mittheilung einiger Auszüge das Interesse der Leser dieses Blattes anzuregen hoffen.

Der Verfasser, ein Engländer, wie er selbst sagt, Kaufmann in Calcutta, früher dem Martinière-Collegium in Lucknow beigegeben, der sich plötzlich auf einer Geschäftsreise in die Netze der Belagerung letztgenannter Stadt verstrickt fand, spricht sich mit großer Unparteilichkeit über das Benehmen der Engländer in Indien folgendermaßen aus:

„Aufrichtig gesagt, hatten wir wenig gethan, die Liebe der [502] Hindu’s, aber viel, deren Abscheu zu verdienen. Tausende von Edelleuten, Würdenträgern und Beamten, welche zu Zeiten des Königs einträgliche Stellen bekleidet hatten und die zu faul zum Arbeiten waren, steckten tief in Noth und Elend, und Myriaden ihrer früheren Diener und Gehülfen waren ebenfalls beschäftigungslos und bitteren Entbehrungen preisgegeben. Ferner sah eine Unzahl von Leuten, welche unter der früheren Regierung als Vagabunden, Banditen und Bettler mit Rauben, Morden, Plündern und Stehlen ein sorgenfreies und theilweise ganz lustiges Leben geführt hatten, seitdem wir an’s Ruder gelangt waren, den Hungertod vor Augen. Die eingebornen Kaufleute, Krämer und Bankiers, welche, so lange Wajid Aly auf dem Throne saß, so ansehnlichen Gewinn aus den Luxusbedürfnissen gezogen hatten, die sie dem Könige, seinem üppigen Hofe und den reichen Weibern in den wohlgefüllten Harems lieferten, fanden für ihre Waaren keinen Absatz mehr; und das Volk im Allgemeinen, besonders aber die ärmere Classe, war unzufrieden darüber, daß es direct und indirect so sehr mit Steuern aller Art überladen war.

„Wir hatten“ – fährt Ruutz Rees fort – „uns gar zu sehr bemüht, auf der Creditseite unserer Bücher eine ansehnliche Bilanz zu ziehen, daß wir uns weniger darum kümmerten, das indische Volk glücklich zu machen, als vielmehr, es unsere Schatzkammern füllen zu lassen. Da gab es eine Stempeltaxe, eine Steuer auf Eingaben, auf Futter und Häuser und einen Zoll für Lebensmittel, für Wege und Fähren zu entrichten. Da gab es einen Opiumlieferanten, einen Korn- und Mehllieferanten, einen Salz- und Branntweinlieferanten, und in der That wurden alle Gegenstände, die man in Paris unter dem Begriffe Octroi zusammenfassen würde, in Accord gegeben. Jeder mehr oder minder zur Nahrung dienende Artikel war demzufolge sehr theuer und die Lieferanten, unter denen der Reichste ein gewisser Shirf ed Dawlah war, ein Renegat, der sogar unter der Regierung des Königs wegen seiner gröblichen Unterschleife und Betrügereien berüchtigt gewesen – zu einer Zeit, wo doch Diebstahl und Raub bei hellem Tageslicht begangen wurden – erwarben sich Schätze, während das Volk unter ihren Erpressungen darbte.

„Besonders die Steuer auf Opium verursachte eine grenzenlose Mißstimmung im Lande, vornehmlich aber in Lucknow. Opium war ein Artikel, der in jener Stadt ein ebenso allgemeines Bedürfniß war, wie in China; und die Entziehung dieser so beliebten Waare fiel als ein harter Schlag auf die ärmeren Opiumesser. Mancher, der nicht reich genug war, den erhöhten Preis bezahlen zu können, schnitt sich aus Verzweiflung darüber den Hals ab. – Auch Fanatiker waren zahlreich in der Stadt und verstanden den religiösen Enthusiasmus zu benutzen, um ihre Glaubensgenossen noch heftiger gegen die eingedrungenen Engländer aufzuregen. Jeder echte Muselmann ist im Grunde seiner Herzens ein geborener Feind aller Bekenner des Christenthums, wie sehr er auch zeitweise seine Gefühle verbergen oder wie viele Wohlthaten und Liebesdienste er aus deren Händen empfangen haben mag. Einen Ungläubigen zu Grunde zu richten oder zu morden, ist eine verdienstvolle Handlung. Lucknow war einer der Hauptsitze muhamedanischer Gelehrsamkeit und wir brauchen uns darum nicht zu verwundern, wenn die zahllosen Prediger, die gegen die Engländer aufstanden und ihrer Herrschaft fluchten, eine große und beistimmende Zuhörermasse fanden. Sie überzeugten ihr Publicum leicht, daß eine Auflehnung gegen die Engländer dem Himmel gefällig und angenehm sei, und daß Allah jeden Versuch mit Erfolg krönen werde, das verhaßte Joch der ungläubigen Fremden abzuschütteln und die Bande zu zerreißen, in welchen die Plünderer ihres Königs, die Schänder und Verächter ihrer heiligen Religion, die Esser des unreinen Thieres, die Säufer des verbotenen Trankes sie gefesselt hielten. Und, Glaubenseifer mit Verschmitzheit paarend, fügten sie hinzu, daß auch für die Hindu’s der Tag gekommen sei, wo ihre Religion mit Füßen getreten und sie selbst getauft und gezwungen werden wollten, sich mit dem Fette von Kühen zu beschmutzen und unreines Fleisch zu essen. Bald erblickte die andächtige Gemeinde in den Verbrechern, die am Galgen büßten, Märtyrer einer guten und heiligen Sache.“

Sir Henry Lawrence hatte bei einer solchen Stimmung, und nachdem bereits an vielen anderen Orten Empörungen ausgebrochen waren, den Belagerungszustand als Statthalter von Lucknow ausgesprochen und die umsichtigsten Vorkehrungen getroffen, als in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1857 die Meuterei unter mehreren indischen Truppenabtheilungen, welche zahlreiche Insurgentenhaufen verstärkten, ausbrach. Wir übergehen die Einzelheiten der Belagerung, durch welche die Residenz von Lucknow immer enger eingeschlossen wurde, nachdem Sir Henry alle getreuen Verstärkungen an sich gezogen und in die Residenz geworfen hatte. „Die letzte Kanone und der letzte Mann“ – erzählt Ruutz Rees – „waren ungefährdet innerhalb der Mauern der Residenz, als ein entsetzlicher Donnerschlag die Erde erschütterte. Der Zündfaden der Engländer hatte sein Werk gethan und Fort Matchee Bhawn – ein Außenwerk von Lucknow – war nicht mehr! Alle unsere Kriegsvorräthe, die wir nicht Zeit gehabt hatten, zu entfernen, etwa 250 Fässer Pulver und viele Millionen scharfer Patronen waren mit den Gebäuden, worin sie gelegen, zu gleicher Zeit vernichtet. Eind undurchdringliche schwarze Wolke hüllte sogar uns in der Residenz ein, – Dunkelheit überdeckte ein sternenreiches leuchtendes Firmament. Wir hatten in der That der Verstärkungen bedurft. Alle, bis auf einen Mann, waren gerettet. Dieser Eine lag sehr betrunken in irgend einem stillen Winkel und konnte nicht aufgefunden werden, als die Truppe antrat. Die Franzosen sagen: Il y a un Dieu pour les ivrognes, und die Wahrheit des Sprüchwortes hat sich wohl nie besser bewährt, als in dem Falle dieses Mannes. Er war in die Luft geschleudert worden und unverletzt zur Mutter Erde zurückgekehrt, hatte sich in seinem gesunden Schlafe durchaus nicht stören lassen, war am nächsten Morgen erwacht, hatte zu seinem nicht geringen Staunen das Fort in einen Schutthaufen verwandelt und verlassen gefunden, von keiner Menschenseele belästigt, gemächlich den Marsch nach der Residenz angetreten und sogar noch ein paar Ochsen, vor einen Munitionswagen gespannt, mitgebracht. Unsere Leute waren nicht wenig überrascht, als sie ihn schreien hörten: „Das Thor auf, ihr verfluchten Kerls!“ und ließen ihn ein, fast berstend vor Gelächter.“

Ueber die homerische Art des Kämpfens führt unser Berichterstatter eine ergötzliche Anekdote an. Ein Posten von Junes’ Piket wurde von einem kleinen Knirps, Namens Bailey, einem Volontair, dem Sohne eines eingeborenen christlichen Capitains in der Armee des Exkönigs, und von einem paar Sepoys mannhaft vertheidigt. Der junge Mensch sprach so geläufig hindustanisch und schimpfte und schalt hinter seinen Pallisaden vor nach so echt indischem Nationalgebrauche, daß die Meuterer ihn für einen muhamedanischen oder Hindu-Sepoy hielten und ihm antrugen, sein Leben zu schonen, wenn er seine Waffen strecken und ihnen beistehen wollte. Eine sehr lebhafte und interessante Unterhaltung entspann sich.

„Komm,“ rief ihm einer der Rebellen zu, welcher, nicht fünf Schritte von Bailey’s Pallisade entfernt, eine sichere Deckung in einer der vielen benachbarten Hütten gefunden hatte, „komm herüber zu uns und lasse die verfluchten Feringhees (Franken, ein Collectivname für alle Fremden) im Stiche, deren Mütter und Schwestern wir geschändet haben und die wir heute Alle umbringen werden. Komm, was hast Du mit ihnen zu schaffen? Willst Du Dich auch zum Christen machen lassen? (piff, paff!) oder hast Du gar schon Deine Kaste verloren?“

„Da schenk’ ich Dir ’was,“ schrie Bailey und drückte los; „Glaubst Du, ich hätte auch Schweinefleisch gegessen, wie Du? Glaubst Du, ich sollte mich auch so schmachvoll versündigen und meinem Satze untreu werden? Nimm dies, Du Sohn des Hundes! (piff!) Du, dessen Großvaters Grab ich besudelt habe!“ (paff!)

„Warte nur, Du Bankert einer entehrten Mutter,“ drohte ein Anderer, „wir kommen schon. Ich werde gleich bei Dir sein und über Eueren lumpigen Wall springen. Mein Schwert ist scharf.“

„Wahrhaftig?“ höhnte Bailey, „aber Dein Herz ist feig. Komm nur daher, Du Maulaufreißer! Mein Bajonnet wartet auf Dich, steige herauf! Wir Alle sind bereit, und Dein Schandblut taugt gerade recht gut dazu, von meinem Bajonnet den Rost wegzuwischen. Halt ein wenig, es kommt wieder eine!“ (piff!)

Und los knallten wieder ein Dutzend Raketen, unterdessen von den andern Sepoys geladen, welche nicht länger den Drang bezähmen konnten, ihrem Landsmanne auch im Schimpfen tüchtig beizustehen. –

Ueber den hohen Muth und die ruhige Ausdauer des weiblichen Theils der Besatzung von Lucknow äußert sich Ruutz Rees in sehr lobender Weise.

„Ihre stille Ergebung und herzinnige Frömmigkeit“ – sagt er – „gab unseren Frauen gerechten Anspruch auf ungetheilte Bewunderung. [503] Furcht war verbannt aus ihrem Busen. Die meisten von ihnen, aufgewachsen inmitten von Wohlstand und Reichthum, bewiesen nun, plötzlich auf sich selbst angewiesen und Hunger und Noth preisgegeben, daß Frauen fähig sind, so viele Entbehrungen zu erdulden und sich vielleicht mit noch mehr Hingebung in die traurigsten Zeitumstände zu schicken, als das andere, härtere Geschlecht. Wie vielen von ihnen bluteten die Herzen in Trauer um den Tod von Gatten und Brüdern, wie manche arme Mutter wachte an dem Sterbebette ihres Kindes, verwundet von einem feindlichen Geschosse oder, was noch weit öfter der Fall war, dahinsiechend vor Hunger und Erschöpfung! Und die armen Kleinen, wenn sie Schusser spielten mit den Musketenkugeln und lachend die gewaltigen Kanonenbälle in den Höfen umherrollten, ahnten kaum, mit welcher Angst und Bangigkeit ihre Mütter sie bewachten, mit wie viel Kummer und Sorge sie an deren furchtbares Verhängniß dachten!

Das Lazareth war zu der Zeit stets überfüllt, und das Schauspiel, das es darbot, herzzerreißend. Ueberall lagen die Officiere und Leute umher, auf Betten, mit Blut bedeckt und voller Ungeziefer. Der Chirurgen, Krankenwärter und Diener hatten wir viele, und doch reichten sie nicht aus, um bei all’ ihrer unermüdlichen Thätigkeit Jedem helfen zu können; und was das Wechseln der Wäsche anlangte, wo hätten wir reines Linnen hernehmen sollen? Wir hatten einen oder zwei Dhobies (eingeborene Wäscher), das ist richtig, welche dann und wann zu fabelhaften Preisen wuschen, – schlecht genug und ohne Seife, an der ein großer Mangel in der Garnison herrschte, – aber die waren mit Arbeit überhäuft und wollten sich nicht plagen; außerdem besaßen wir keinen großen Vorrath an Wäsche. Reinlichkeit war ein Luxus, auf den zu pochen nur Wenigen vergönnt war.

Es gab nicht genug Bettstellen für Alle. Viele der Verwundeten lagen stöhnend und röchelnd blos auf Matratzen und Mänteln. Von allen Seiten ertönten Schmerzenslaute, jämmerliches Geschrei um Wasser und Beistand. Die Räucherungen, zu denen wir Zuflucht nahmen, reichten nicht hin, den über der ganzen langen Krankenhalle lagernden lästigen Verwesungsgeruch zu entfernen. Die Atmosphäre darin war erstickend und pestartig. Des unaufhörlichen Feuerns wegen mußten die Fenster verbarrikadirt werden und so konnte Luft und Licht einzig durch die Thüren gegenüber der Residenz und der Baileywache in das Gebäude eindringen. Das obere Stockwerk war ganz unbewohnbar, selbst der Aufenthalt in dem unteren nichts weniger als gefahrlos.

Die Belästigung durch Fliegen nahm von Tag zu Tag in einem so heillosen Maßstabe überhand, daß uns zuletzt das Leben durch diese Plagegeister mehr als durch irgend ein anderes unserer zahlreichen Bedrängnisse gänzlich verleidet wurde. Bei Tage Fliegen, bei Nacht Mosquito’s. Letztere waren noch auszuhalten, die erstern aber unerträglich. Lucknow ist längst wegen seiner Fliegen berüchtigt, aber zu keiner Zeit hat diese Plage eine solche Höhe erreicht. Die Unmasse faulender Stoffe, welchen wir nicht verwehrten, sich mehr und mehr anzuhäufen, der Regen, die Commissariatsmagazine und das Hospital hatten unglaubliche Schaaren dieser Insecten herbeigelockt. Die Egypter können unmöglich unter ihrer Fliegenplage heftiger gelitten haben, als wir. Sie schwärmten in Millionen und wenn wir jeden Tag von ihnen Hunderttausende in die Luft bliesen, so schien dies ihre Legionen nicht um ein Milliontheil verringert zu haben. Die Fußböden waren schwarz von ihnen und unsere Tische buchstäblich bedeckt mit diesen verfluchten Geschöpfen. Wahrlich, der bloße Gedanke an jene Pest wäre hinreichend, einen Heiligen zum Fluche zu verleiten.“

Nachdem Noth und Entsetzen unter den Belagerten die höchste Stufe erreicht, nachdem die Hoffnung auf herannahenden Entsatz mehrmals getäuscht worden war, vernahmen die Unglücklichen endlich während des 23. und 24. Septembers eine heftige Kanonade in einiger Entfernung von der Stadt. Lassen wir jetzt unsern Berichterstatter selbst erzählen:

„Wir wußten nun ziemlich gewiß, daß außerhalb unseres Platzes ein wilder Kampf wüthete. Obgleich die strengsten Befehle gegeben waren, unsere betreffenden Posten nicht zu verlassen, so fühlte ich mich doch zu sehr aufgeregt, um das Verbot zu beachten, und stahl mich in der Stille hinweg nach der Terrasse vor der Statthalterschaft. Ich sah nichts, als Rauch, und hörte nichts, als Musketengeknalle. Offenbar hatte das Straßengefecht seinen Anfang genommen. Das Feuer kam allmählich, aber sicher näher und näher gegen unsere Verschanzungen heran und endlich verkündigte ein lauter Jubelschrei den Einmarsch der langersehnten Verstärkungen.

„Das grenzenlose Entzücken, mit welchem sie begrüßt wurden, beschreiben zu wollen, wäre Wahnsinn. Als ihre Hurrahs und die unseren in meine Ohren schallten, brach mir das Herz fast vor Wonne. Thränen stiegen mir unwillkürlich in die Augen und ich fühlte – nein! es ist unmöglich, in Worten dieses beseligende Gefühl von Erlösung, diese Mischung von Freude und Hoffnung wiederzugeben, die mich beinahe überwältigten. Der zum Tode verurtheilte Missethäter, der im nämlichen Augenblicke, wo der Scharfrichter zum Hiebe ausholt, begnadigt und befreit wird, oder der schiffbrüchige Matrose, der in dumpfer Hoffnungslosigkeit das Bret, an dem er sich bisher krampfhaft festgeklammert, fahren läßt und mit einem Male gerettet wird, können allein ein annäherndes Bild unserer Empfindungen geben. Wir waren nicht blos glücklich, glücklich über alle Begriffe, und dankten dem Gott der Barmherzigkeit, der uns durch unsere edlen Befreier, die Generale Havelock und Outram, vom sicheren Tode erlöste, sondern fühlten uns auch stolz auf die Vertheidigung, die wir geführt, und auf den Erfolg, mit dem wir gegen eine so furchtbare Uebermacht um unser Leben sowohl, als für die Ehre und das Leben der Frauen und Kinder, die unserer Hut anvertraut waren, gekämpft hatten.

„Als unsere Erlöser hereinströmten, begrüßten sie uns mit lauten Hurrahs und dann stieg von allen Seiten und Ecken, von allen Posten und Terrassen ein furchtbares Jauchzen zum Himmel empor, ein tausendstimmiges „Hurrah!“ es war kein „Gott sei uns gnädig“ – es war der erste Ausbruch ungebundener Lust einer von Verzweiflung erretteten Schaar. Gott sei gelobt, wir blickten nun in die Gesichter unserer Landsleute, wir rannten auf sie zu, Officiere und Soldaten, ohne Unterschied, und schüttelten ihre Hände, mit welch’ unnennbarer Herzlichkeit! Nun drangen die schrillen Noten unserer hochschottischen Dudelsackpfeifer in unsere Ohren. Nie hat die herrlichste Musik süßer geklungen, nie hat irgend eine Melodie ihre Zuhörer mehr begeistert, mehr beseligt. Und diese braven Soldaten selbst, viele von ihnen blutig und erschöpft, vergaßen die Verluste ihrer Cameraden, die Qual ihrer Wunden, die Anstrengungen, mit welchen sie unsertwegen die unsäglichsten Hindernisse bekämpft und überwunden hatten, über der Freude, das Werk unserer Befreiung vollendet zu haben.

„Wie begierig wir ihren Erzählungen lauschten! Mit welchem Gefühl von Dankbarkeit, Stolz und Vergnügen wir vernahmen, was für eine Theilnahme unsere verlassene Lage nicht nur in ganz Indien, sondern auch in allen Volksschichten Englands hervorgerufen hatte! Mit welcher Spannung wir, die wir von aller Verbindung mit der übrigen Welt abgeschnitten gewesen, auf die Nachrichten horchten, welche die Braven uns von andern Stationen Indiens brachten! Wir erfuhren nun den wahren Sachverhalt der Schlächterei in Cawnpore zum ersten Male in all seinen schrecklichen Einzelheiten. Aber wir hörten auch, wie fürchterlich Brigadier Neill, dieser tapfere Führer, Rache geübt hatte für die Schändung unserer Frauen, für den Mord unserer Kinder. Mit Kummer und tiefem Schmerz, gemischt mit einem wilden Entzücken über die gräßliche Vergeltung, mit der wenigstens einige von den Missethätern heimgesucht worden, vernahmen wir die Erzählung. Aber ein schwerer Gram dämpfte die allgemeine Freude – der Tod eines unserer bravsten und beliebtesten Officiere, des Generals Neill.“

„Am nächsten Morgen“ – fährt Ruutz Rees später fort – „erfuhren wir, was für schwere Opfer die Ausführung unseren Freunden gekostet hatte. Das erste Gefecht hatte in Futtypore stattgefunden. Nena Sahib führte ungefähr 7000 Mann gegen die 1500 Mann Havelock’s; seine Manöver waren ausgezeichnet, aber die feindliche Cavalerie taugte wie gewöhnlich nichts. Die englischen Truppen schlugen sie mit dem Verluste von 2000 an Todten, und nahmen ihnen beinahe alle Kanonen ab. Noch zwei Treffen wurden geliefert, bis sie vor Cawnpore eintrafen. In beiden war Havelock siegreich.

„Der Nena, wüthend über die Niederlage seines Heeres, ganz im Einklange mit seinem scheußlichen Charakter, ließ alle die Weiber und Kinder, welche von dem ersten Blutbade in Cawnpore übrig waren, umbringen. Nun aber rückte Neill an mit dem 1. Madras-Regimente, Sikh- und Brigademajor Cooper’s Artillerie, dem 78. Hochschotten-Regiment und einigen freiwilligen Artilleristen, und schlug, ungeachtet seiner geringen Zahl, die Feinde in einer regelmäßigen Schlacht, unweit der Stadt Cawnpore. – Zuletzt sank [504] des Nena feiges Herz. Er und seine ganze Armee von großsprecherischen Sepoh’s flohen, nachdem sie zuvor die Magazine in Brand gesteckt, aus der Station. Am nächsten Morgen zog Neill in die Stadt ein.

„Einige Gefangene waren gemacht worden, und zwar Muhamedaner und Brahminen von der höchsten Kaste, bei denen die bloße Berührung der Gebeine eines Todten für die höchste Entweihung gilt. Sie wurden nach dem Hause geschleppt, wo die unglücklichen Frauen und Kinder der Engländer unter den Klauen jener erbarmungslosen Teufel gestorben waren, die durch kein Flehen, keine Schwüre gerührt werden konnten, die in der Ausführung ihres schaurigen Amtes keine Reue, kein Mitleid gefühlt, die Säuglinge von den Brüsten ihrer Mütter gerissen und Kinder vor den Augen ihrer Eltern gespießt hatten, blos um diesen die wenigen Minuten vor ihrer Ermordnung noch qualvoller zu machen.

„Der Boden war noch schwarz von eingetrocknetem Blut; Büschel langer Haare, wahrscheinlich von den feigen Henkern des Nena den unglücklichen Opfern ausgerissen, lagen zerstreut umher; die Wände waren bedeckt mit blutigen Fingerspuren kleiner unschuldiger Kinder und den Abdrücken zarter Frauenhände; und Bibeln, Frauenkleider und sogar ein vollkommenes Tagebuch bewiesen, daß die Damen dieses Gemach bewohnt hatten. General Neill nahm Rache.

„Die Gefangenen – von denen Einige, wenn nicht Alle, zweifelsohne (?), bei diesem massenhaften Niedermetzeln wehrloser Frauen und schwacher Kinder mitgespielt hatten – wurden gezwungen, das Blut, welches durch Wasser gelöst worden, vom Boden aufzulecken, und nachdem sie ihre Kaste vollständig verloren hatten und in ihren Augen nicht mehr länger würdig waren, nach dem Tode sich ihren Göttern zu nahen, gehängt oder von den Kanonen zerrissen! Der Brunnen, in welchen sie nach Vollendung des gräßlichen Blutbades die Opfer ihrer Wuth geworfen, wurde zugefüllt, und ein geistliches Lied über dem gemeinschaftlichen Grabe gesungen!“

Der nachmalige gänzliche Entsatz Lucknows durch die Generale Sir Colin Campbell und Outram sind auf dem letzten Bogen des genannten Werkes dargestellt; aus den obigen Auszügen kann der Leser beurtheilen, wie von beiden Seiten rohe Barbarei und Grausamkeit geübt wird. Ob sich aber die englischen Eindringlinge durch ein solches Auftreten eine bleibende Herrschaft in Indien sichern werden, dies ist eine Frage, die wir nicht mit Ja zu beantworten vermögen.

–dt. 

  1. Selbsterlebtes während der Belagerung von Lucknow von L. E. Ruutz Rees. Mit dem Plane der Stadt und der Residenz und dem Portrait des Generals Sir Henry Lawrence, Leipzig, Lorck’s Verlagsbuchhandlung, 1858.