Textdaten
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Autor: R. Waldmüller (Ed. Duboc)
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Titel: Die Pergola des Hotel Pagano
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 43–47
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Pergola des Hotel Pagano.
Ein Reisebild von R. Waldmüller (Ed. Duboc).

Viele Reisende werden beim Anblick des schönen Bildes, welches diese Zeilen begleitet,[1] sich mit Vergnügen des Weinlaubenganges des Hotel Pagano auf der Insel Capri erinnern. Nicht daß ihre gewaltigen Säulen aus der marmor-verschwenderischen Kaiserzeit stammen: sie sind schlichtweg weiß übertünchtes Mauerwerk und weit jüngeren Datums als hundert erinnerungsreiche Trümmer ringsum. Auch der Palmen giebt es weit und breit auf Capri genug, wenn gleich wohl keine Diejenige des Signor Pagano an majestätischer Pracht übertreffen dürfte. Die Aussicht endlich ist zwar weit und fesselnd, aber weitere und fesselndere Umblicke findet der rüstige Wanderer an gar vielen Punkten dieser reizvollen Insel. Was der Pergola des Hotel Pagano ihren heimlichen Zauber giebt, ist, daß so ziemlich jeder Besucher Capri’s vor seinem Scheiden noch einmal dort rastete und mit den genossenen Eindrücken hier dankbar abschloß.

Für mich knüpft sich allerdings an diese Pergola noch eine Erinnerung anderer Art, und das Bild hat dieselbe mir von Neuem in lebhaften Farben zurückgerufen.

Wir waren an einem goldnen Julitage mit einer munteren Reisegesellschaft von Sorrent nach Capri herübergeschifft und hatten wie billig zuerst der blauen Blume der Romantik, der unvergleichlichen Grotte, unsern Bewunderungszoll abgetragen.

Nachmittags ging es nach Anacapri hinauf, dem Hochplateau der Insel, fünfhundertundsechszig wohlgezählte Stufen. Wie allenthalben um den Golf von Neapel sind die Häuser hier nach griechischer Art mit flachen, weißlichen Dächern versehen, deren Mitte sich auch wohl bei einem oder dem andern zu einer sanften Kuppel erhebt. Eine bezauberndere Umschau als von diesen Dächern aus möchte aber weit und breit nicht wohl aufzufinden sein, es sei denn, man klettere bis auf die Trümmer des Castells Barbarossa hinauf. Ein gutes Auge überblickt, im Halbkreise wandernd, nicht nur den ganzen bunten Golf mit den Inseln Ischia und Procida, dem langgestreckten Neapel, dem dampfenden Vesuv und dem vielzackigen Kalksteingebirge, das mit weiß herüberblinkenden Ortschaften an seinem meerumspülten Fuß den Halbkreis schließt; es entdeckt jenseits dieser pittoresken Felsenzunge noch den freundlichen Meerbusen von Amalfi und über diesen hinaus auch noch die blau verdämmernden Berglinien des erinnerungsreichen Pästum.

So wird denn begreiflicher Weise ein gut Theil der Tagesgeschäfte Anacapri’s auf den Dächern abgethan. Wir sahen dort Wäsche bügeln, Kinder wiegen, Haare strählen, Weizen dreschen, Hanf zum Trocknen ausbreiten, Rosinen, Feigen und Apfelsinen dörren, Netze flicken, Körbe flechten und was sonst den Weibern einer Fischerbevölkerung noch an häuslichen Verrichtungen zufällt. Auf dem letzten Dache des Ortes saßen zwei in Trauer gekleidete junge Frauen, Beide mit dem Besticken eines blauseidenen Gewandstücks beschäftigt, wie man deren wohl der Madonna oder einer andern Schutzpatronin zur bessern Unterstützung eines Anliegens verehrt. Sie blickten kaum von ihrer Arbeit auf und unterschieden sich dadurch sehr vortheilhaft von einem unten in der Hausthür stehenden und überlaut lachenden Weibe, das hinter seinem breiten Rücken einen Männerhut von Stroh versteckt hielt und dem danach Suchenden, einem etwa fünfundzwanzig bis dreißigjährigen jungen Mönche, alle denkbaren Streiche spielte. Unser Cicerone, welcher die unfeine, übrigens recht hübsche Frau vertraulichen Tons als Donna Agata ansprach, machte der Sache ziemlich eigenmächtig ein Ende, und der wieder zu seinem Hut Gelangte – man rief ihm „Fra Arcangeli!“ nach – schloß sich uns an. Er trug eine Art schwarzen Klosterhabits, dazu braungelbliche Sandalen und seinen schmalen Kopf bedeckte jener breiträndrige Hut von wettergebräuntem Reisstroh. Sein Bart war ein gut Theil lichter als das lange nußbraune Haupthaar und reichte fast bis auf die graue Hanfschnur hinab, welche die Hüften des freundlich lächelnden Mannes umgürtete. Besonders eigenartig war die Farbe seiner Augen, etwa wie ein stumpfes Marmorgrau. Durch lange schwarze Wimpern beschattet und von feinen Brauen überwölbt, wirkten sie trotz ihrer matten Farbe bedeutend und charakteristisch, eine Wirkung, die freilich, sobald er redete, nicht Stich hielt.

Daß der sonderbare Mann nicht ganz klaren Geistes war – die harmlosen unter den sogenannten Pazzi läßt man im Süden ja frei umher gehen – war uns schon eine geraume Weile nicht zweifelhaft gewesen. Aber allem Anscheine nach bestand seine Störung einzig in seiner völligen Unfähigkeit, irgend eine Beziehung zwischen sich und den Vorgängen der Gegenwart zu empfinden. Er lebte im Mittelpunkte einer Begebenheit, die bereits vor einer Reihe von Jahren geschehen sein mußte, und wenn man diesen seinen Standpunkt erst heraus gefunden hatte, konnte man seine Reden kaum noch für wunderlich gelten lassen. Da ich nachträglich Gelegenheit gehabt habe, von kundiger Seite bis in die kleinsten Einzelnheiten berichtigen zu lassen, was von ihm unklar erzählt – denn er war sofort in’s Erzählen gekommen – oder aber von mir irrig verstanden worden sein mochte, so gebe ich nachstehend die Geschichte, wie man sie mir mitgetheilt hat. In wie fern der junge Mönch berechtigt war, sich als den Beichtvater der Betheiligten anzusehen, wird am Schlusse festzustellen sein. Der Säulengang selbst ist heute noch unverändert. Im Volksmunde hieß der Weingang damals einfach die Pergola; die Maler dagegen haben diese Pergola immer nur nach ihrem lebendigen[WS 1] Schmucke, der Palme, benannt.

Die französische Februarrevolution vom Jahre achtundvierzig hat bekanntlich im Königreiche beider Sicilien schon einen Monat früher vorgespukt. Jenseits des Faro, in Sicilien, war man der Gewaltherrschaft Biale’s satt und müde; diesseits des Faro, auf [44] dem Festlande, verwünschte man das Joch del Carretto’s. Am 12. Januar, am Geburtstage des Königs, erhob sich Palermo. Neapel folgte bald darauf. Es erzwang am 25. Januar die Austreibung del Carretto’s, am. 28. Januar die Zusage einer Constitution und ließ sich Tags darauf die letztere, als sie wirklich verliehen worden war, auch noch durch einen feierlichen Rundritt des Königs bekräftigen. Aber schon am 13. März begann die Contrerevolution ihr Haupt zu erheben. Wenige Tage vorher waren die Jesuiten aus Neapel verjagt worden. Was Wunder, wenn Liguoristen, Dominicaner und andere dunkle Brüderschaften sich schon eines gleichen Schicksals versahen. Ihre Angst hatte sich den Fischverkäuferinnen der Marinella mitgetheilt. Die handfesten Vettern dieser guten Frauen, die Lazzaroni del Mercato, von jeher mit den ärmeren Klostergenossenschaften auf Du und Du, ließen sich zu lärmenden Umzügen bereden, und da ihr Parteiergreifen für die Mönche von einflußreichster Seite nachdrücklich unterstützt wurde, so kam es am 13. März unter den Rufen: „Viva il Re e la Madonna del Carmine!“ zu tumultuarischen Auftritten.

Nicht gar weit von dem königlichsten Palast liegt in der Hauptstraße Neapels, im volkreichen Toledo, das prächtig eingerichtete Café di Europa, damals der gewöhnliche Sammelpunkt der tonangebenden Liberalen. Hierher wendete sich ein Haupttrupp der tobenden und schreienden Klosterfreunde. Sie zertrümmerten die großen Scheiben, die Spiegel, die Marmortische, die Büffetvasen. Dann begann der Krieg gegen die Gäste. Die Bestgekleideten hatten sich zuerst zu vertheidigen. Bald meinten die Angreifer aber bestimmte, ihnen besonders verhaßte Persönlichkeiten zu erkennen, und endlich wurde ein junger römischer Flüchtling, der bei allen Umwälzungen der letzten Monate eine hervorragende Rolle gespielt hatte, der damals vielgenannte politische Pamphletist Gaetano P…, zum Zielpunkte der ganzen Rotte. Er war waffenlos wie alle übrigen Gäste des Café, setzte sich indessen mit seinem Stocke behende genug zur Wehr und wurde nach langem erbittertem Kampfe von seinen Freunden aus dem blutigen Handgemenge hinausgeschafft und in ein Hintergebäude hinüber gerettet, von wo der Herzog von San D. und der junge Principe di L. den Betäubten und der Sprache Beraubten in Sicherheit zu bringen unternahmen.

Wie das geschehen sollte, war freilich nicht leicht zu sagen. Man übersieht den Umfang solcher Volksbewegungen selten, während sie noch im Gange sind. Wie ein Nebel auf dem Meere hüllen sie die davon Ueberraschten plötzlich ein und Niemand weiß, wo ihre Grenze ist. So beriethen die beiden Edelleute denn auch lange vergebens, in welcher Weise Gaetano nach irgend einem Versteck zu transportiren sri. Vielleicht schon in demselben Augenblicke konnten ihre eigenen Häuser gestürmt und geplündert werden. Der gewöhnliche Zufluchtsort aller in Neapel Verfolgten, die Clausur eines der vielen Bettelklöster, war für diesen Verfolgten natürlich unzugänglich. Dennoch konnte Gaetano – das ließ sich bei der Heftigkeit des neapolitanischen Volkscharakters voraussetzen – wohl kaum in Jahr und Tag sich wieder in Neapel auf die Straße wagen.

Ein Mann, welcher dem Vater des Prinzen zu den großen Festen des Palazzo di L. die Wachskerzen zu liefern pflegte, half aus der Noth. In Neapel werden unglaublich schwere Lasten auf dem Kopfe getragen. Zerbrechliche Gegenstände, sie mögen noch so gewichtig sein, werden fast nie anders transportirt. Man sieht massiv gearbeitete Commoden, Secretaire, Schränke, ja ganze Claviere hoch in der Luft über die Köpfe des Toledo-Gedränges dahin schweben. Don Saverio, der biedere Lichtgießer, ließ daher den allmählich wieder zur Besinnung Gelangten in eine große Kirchenlichterkiste packen, adressirte das Frachtstück an seinen Schwager Don Nicola auf Capri, wies die beiden Edelleute an, in welcher Weise sie ihm, Saverio, die Bürde auf die rothe Wollenmütze heben sollten, und trug den eingeschachtelten Pamphletisten dann wohlbehalten nach dem Molo. Hier war bereits ein zuverlässiger Marinaro gedungen worden, und so schiffte sich der aus seiner engen Haft Erlöste unter der Obhut eines Dieners des Prinzen nach dem Eiland des Tiberius ein.

Am selben Abend noch ward das Reiseziel erreicht. Don Nicola nahm den von seinem Schwager warm empfohlenen Patienten ehrerbietig auf, und sein Töchterchen Teresina, zumeist la Biondina genannt, sowie deren Stiefmutter, Donna Agata, beeilten sich, den der Pflege noch sehr Bedürftigen mit häuslichen Mitteln, Weihwasser und Amuletten auf’s Beste zu versorgen. Das Haus des Don Nicola war eines der höchstgelegenen in Anacapri, es bildete den letzten östlichen Ausläufer des Oertchens, steckte nicht, wie die andern, zwischen Nachbarhäusern, und begünstigte solcher Art das Unbeachtetbleiben Gaetano’s. Das hätte übrigens auch sonst kaum Schwierigkeiten gemacht. Man pflegt ja überall im Süden Krankheiten womöglich durch Luftwechsel zu curiren, und daß ein in dem schwülen Neapel Erkrankter auf dem windumstrichenen Capri Genesung suche, konnte nicht auffallen. Als ein Solcher hatte Don Saverio ihn aber seinem Schwager empfohlen.

So blieb nach dieser Seite denn für Gaetano nichts zu wünschen. Und auch die Hausgenossen wurden ihm, der sich rasch einzuleben pflegte, schon nach kurzer Zeit lieb und angenehm. Biondina, die Herzensgüte selbst, war trotz ihrer fünfzehn Jahre – in Italien etwas Seltenes – noch ganz Kind; dabei zwar ohne alles Schulwissen – kaum daß sie buchstabiren konnte – aber gewitzt und mit einem Anflug neckischer Laune, die den Patienten wohlthuend an eine ihm im gleichen Alter entrissene Schwester erinnerte. Die Stiefmutter, Don Nicola’s dritte oder vierte Frau, erst zwanzig und einige Jahre alt, immer zum Lachen aufgelegt, hübsch genug, vielleicht schon etwas zu robust, füllte ihren Platz im Haushalt so beiläufig und obenhin aus, als sei sie nur eben auf Besuch eingesprochen und habe daher keine rechte Arbeit zur Hand. Sie muthete Niemandem etwas zu, Alles ging, wie es eben gehen wollte, und da Jedermanns Bedürfnisse höchst geringfügig waren, so hatte das Leben in der sonnigen Casa di Nicola einen überaus sorglos vergnüglichen Anstrich. Der ältliche Hausherr selbst freilich, immer mit dem wohlgebürsteten Cylinder auf dem graugesprenkelten Kopfe, paßte in dieses Bild nicht hinein. Eigentliches Arbeiten war zwar nicht seine Liebhaberei, wohl aber liebte er arbeiten zu sehen. Zu Frau Agata’s Glück entschädigte ihn für das, was er in seinem Hause nach dieser Seite hin vermissen mochte, die emsige Rührigkeit seiner Bienen. Den halben Tag saß er denn auch in dem Cactusgarten, jenseits des Kirchleins Sta. Brigida, allwo er seine buntbemalten Bienenkörbe bei der ihm befreundeten Wirthschafterin des Pfarrers eingemiethet hatte. Er trieb einen ansehnlichen Wachshandel, bereiste als Käufer mehrere Male im Jahre alle wachsproducirenden Orte der Terra di Lavoro und nahm es für eine Artigkeit, wenn man ihn als Don Cera, zu Deutsch Herr Wachs, ansprach, unter welchem Namen die meisten seiner Lieferanten ihn sogar nur kannten. Uebrigens wäre dem durch ein behäbiges Daheim verwöhnten Gaetano denn doch Manches wohl im andern Lichte erschienen, hätte sich Sabino, der Diener des Prinzen, nicht als der unermüdliche Alleskönner erwiesen. Er besorgte die Küche, er buk Brod, er fing Vögel, er fing Fische und wußte jeder Minute irgend einen fröhlichen Ertrag abzugewinnen. Donna Agata wollte er in seiner Heimath Ischia schon als kleines Mädchen gekannt haben, und wenn sie selber auch von ihren seltenen Besuchen bei einem dortigen Pathen sich seiner durchaus nicht erinnern konnte, so ließ sie sich’s doch gern gefallen, daß der schelmische Bursche zwischen dem unansehnlichen Kinde von dazumal und der jetzigen Donna Agata „di Cera“ die artigsten Vergleiche anstellte.

Das Alles nahm sich anmuthig genug aus. Mit Gaetano selbst stand es aber dennoch nicht zum Besten. Er war durch seine Verbannung aus Neapel nicht nur jenem behäbigen Daheim entrissen worden, er hatte auch sie, die es ihm schaffen half, Donna Beata, sein liebes Weib, in Neapel zurückgelassen, eine Römerin, seine Landsmännin, sein Augapfel, sein Abgott, wenige Jahre jünger als er, der er selber erst eben zwanzig zählte. Als Gaetano, von dessen kleiner Hausfrau das Café di Europa nie etwas erfahren hatte, so unverhofft zur Flucht genöthigt worden war, hatte sich der junge Prinz di L. für Donna Beata’s Sicherheit zu sorgen erboten. Der Prinz war aber, trotz mancher vortrefflichen Eigenschaften, ein zweifelhafter Frauenbeschützer. Sobald Gaetano daher die Feder wieder führen konnte – in der ganzen Casa di Nicola verstand sich sonst Niemand auf diese Fertigkeit – gab er seiner Frau von allem Vorgefallenen selber Nachricht und entbot sie nach Capri. Aber es kam keine Antwort, und auch als er wieder und wieder schrieb und, um alle unklaren Verhältnisse kurz abzuschneiden, Anordnungen wegen einer gemeinsamen Rückkehr nach Rom zu treffen versuchte, blieb jedes Lebenszeichen von Donna Beata aus.

[45]

Die Palme des Hotel Pagano auf Capri.

[46] Im Süden geht, wie in den Komödien Calderon’s, Molière’s und Goldoni’s, so ziemlich jede Art von Besorgung durch Dienerhände. Auch Gaetano’s Briefe hatten diesen Weg genommen, aber Sabino wußte von Gaetano selbst, daß er nur auf eine Antwort seiner Frau warte, um sofort nach Rom aufzubrechen, und da sich der vermeinte Jugendbekannte der Gattin des Wachshändlers gar ungern von Capri getrennt hätte, so hielt er’s für zweckmäßig, jene Briefe gar nicht zu befördern. Auf diese Weise und während die Genesung des Leidenden langsam vorrückte, ging der März, ging der halbe April dahin. Endlich vermochte Gaetano die Ungewißheit nicht länger zu ertragen. Er borgte sich einen Fischeranzug und ließ sich nach Neapel hinüberfahren.

Dort hatte inzwischen ein Ministerwechsel den andern gedrängt. Heute leitete der Prinz Strongoli die Staatscarosse, morgen kamen ihre Zügel in die Hände Guglielmo Pepe’s, der vor wenigen Tagen erst aus der Verbannung heimgekehrt war. Man hatte die mißliche Grundlage der octroyirten Verfassung bereits erkannt, verlangte eine constituirende Versammlung und Anschluß an den Krieg gegen Oesterreich. Dazwischen gab es Zusammenrottungen bald in diesem, bald in jenem Sinne. Alles stand in der Schwebe.

Gaetano war kaum bei Sta. Lucia an’s Land gestiegen, als er auch schon erkannt wurde. Mit Mühe entkam er, aber noch zweimal wiederholte sich das Nämliche, und als er endlich die Wohnung erreichte, wo er Beata zurückgelassen hatte und jetzt vergebens erfragte, gerieth er in die Hände eines ganzen Haufens rauflustiger Strolche. Das Inswasserwerfen ist in solchen Fällen eine in Neapel volksthümliche Belustigung. „Ein apartes Fischerchen!“ hieß es, „seht nur die feinen Hände und den weißen Hals! Er wird unsern Beistand brauchen. Zeigen wir ihm den kürzesten Weg zu den Fischen!“ Und man warf Gaetano kurzweg in die See.

Zum Glück konnte er schwimmen. Er entkam mit dem Leben. Aber sein Zustand hatte sich arg verschlimmert. Als er Abends in dem Boot eines mitleidigen Schiffers Capri wieder erreichte, war er körperlich wie geistig nahezu aufgerieben. Vor Allem freilich geistig. Denn zwischen den harmloseren Behelligungen, welche seinem Sturze in’s Meer vorausgegangen waren, hatte Gaetano noch Muße gefunden, dies und das in Neapel zu erkunden, und so war es ihm zur Gewißheit geworden, daß Beata schon seit Wochen mit dem jungen Prinzen di L. aus Neapel verschwunden war. Sabino ließ errathen, dergleichen habe er bei dem lebenslustigen Charakter seines Herrn längst gefürchtet, und er gab noch manch’ andern Wink, der schon auf vorausgegangene Verabredungen hindeutete. „Und da solltet Ihr froh sein,“ meinte Donna Agata, „wenigstens zu wissen, wie Ihr daran seid. Laßt Euch rathen und vergeßt Euer Unglück lieber heut’ als morgen.“ Biondina weinte vor herzlichem Mitleid. Gaetano selbst war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Erst ein heftiges Fieber gab seinem Zustande eine glücklichere Wendung. Es beschäftigte seinen Geist mit Phantomen und half ihm so über die schlimme Wirklichkeit hinweg.

Als er dann aber endlich – eine Woche hatte er zwischen Leben und Sterben geschwebt – aus seinen Phantasieen von Neuem zum Bewußtsein erwachte, hatte das Schicksal für den Verzweifelnden einen noch holder lindernden Balsam in Bereitschaft, und fast schien es, als solle er nicht nur dem Leben, nein, auch den sonnigsten Seiten desselben wieder geschenkt werden. Denn seine schmucke Pflegerin Biondina hatte, während sie über ihn wachte, ihr unerfahrenes kleines Herz an ihn verloren. Mit der ganzen Gewalt einer ersten Leidenschaft unter südlichem Himmel war das Unglück über sie gekommen, und schon in der ersten Viertelstunde seiner wiederkehrenden Klarheit wußte er Alles. „Ich konnte nichts dafür,“ sagte sie treuherzig rathlos, „ich habe nimmer geahnt, wie dergleichen so auf einmal Kopf und Glieder benehmen kann. Man hat noch eben die gleichgültigsten Gedanken, und plötzlich sitzt man wie mitten im Fegefeuer.“

Die Bestürzung Gaetano’s war groß. Er suchte zu beschwichtigen, aber sein Herz pochte so unruhig, daß er selber kaum wußte, was er sagte. Dazu ihre kindliche Hilflosigkeit, ihr Rothwerden inmitten einer unaussprechlichen Wonneseligkeit und wieder ihr ehrliches Betheuern, sie habe sich selber nicht wenig erschreckt, aber sie wolle auch gewiß zuverlässiger sein, als die böse Donna Beata, und ob es ihm denn auf dem lieben, friedlichen Capri nicht weit besser gefallen würde, als drüben in dem lärmenden, treulosen Neapel?

Es war im schönen Monat Mai. Die Myrthen blühten, die Orangenkelche dufteten, die Vögel sangen, durch’s offene Fenster strich die Seeluft erquickend herein und die Sonnenstrahlen schienen nicht müde zu werden mit dem krausgoldnen Lockengeringel des schönen Kindes ihr Spiel zu treiben. Gaetano lag wie in dem Doppelbann des zum Leben und zum Lieben Wiedererwecktseins. Träumte er noch? War wirklich die Nacht der Schmerzen hinter ihm versunken? Durfte er noch einmal vertrauen? Er wußte selber nicht deutlich, was er that, aber er öffnete seine Arme, und der Bund war geschlossen.

Die Reue folgte. Gegen die Mitte des Mai-Monats zog sich über Neapel wieder ein politisches Gewitter zusammen. In dem Municipalitäts-Gebäude des Monte-Oliveto hatten sich die Deputirten zu vorbereitenden Sitzungen eingefunden. Sie beriethen die Eidesformel und unterhandelten mit dem Ministerium darüber so endlos lange, bis der Meinungszwiespalt aus der Versammlung auf die Straße drang und der Toledo sich mit Barricaden füllte. Am 15. Mai Vormittags zwischen zehn und elf Uhr fiel ein Schuß in der Nähe des Café di Peluso. Er traf, und der Krieg zwischen dem bewaffneten Volk und den Schweizer Truppen war dadurch eröffnet. Das Castell St. Elmo zog seine rothe Fahne auf und verkündete, wie am 27. Januar, durch drei Kanonenschüsse den Belagerungszustand. Castel Nuovo begann mit Kugeln und Kartätschen aufzuspielen. Und von da an taumelte die Kriegsfurie mordend, raubend, brandstiftend zwölf lange Stunden durch die angsterfüllten Straßen der paradiesischen Stadt.

Der Kanonendonner hatte Gaetano aus seinem Frühlingstraum aufgescheucht. Er schiffte sich in Hast nach Neapel ein und suchte, dort angekommen, seinen Platz auf den Barricaden. Als eine nach der andern den Schweizern und deren Verbündeten, den Lazzaroni, preisgegeben werden mußte, schloß er sich den Vertheidigern der Taverna penta an. Er hatte unter der freiwilligen Besatzung des arg bedrängten Hauses Bekannte zu erkennen geglaubt, und jetzt gewahrte er, daß der Prinz di L. selber hier den Oberbefehl führte. Die Augen der beiden Männer trafen sich, aber schon in der nämlichen Secunde trennte sie eine Wolke von Pulverdampf und die nächste Viertelstunde gehörte dem Kampfe mit den Feinden draußen.

Dann, als der Sturm glücklich abgeschlagen worden war und für eine kurze Weile die Kriegsarbeit feierte, zog der Prinz den Gatten Beata’s in einen Seitengang und stellte sein Leben zur Verfügung Gaetano’s. „Ich habe Ihr Vertrauen schlecht gelohnt,“ sagte er, „fällen Sie mein Urtheil, Signore.“

„Und wo ist sie?“ fragte Gaetano, vor Erregung kaum der Sprache mächtig.

„Auf dem Wege nach Capri.“

„Auf dem Wege zu mir?“ Er hob seine Doppelbüchse. „Wollen Sie mich auch noch verhöhnen?“

„Die Treue Ihres Weibes,“ sagte der Prinz und wagte Gaetano’s Blick nicht zu begegnen, „hat jeder Versuchung widerstanden. Sie haben einzig mit mir, dem Versucher, abzurechnen. Wollen Sie mir noch die Muße gönnen, meine Schuld hier im Kampfe gegen die Feinde unseres Vaterlandes zu sühnen? Wo nicht, so thun Sie, was Ihre beleidigte Ehre Ihnen eingiebt. Meine Blouse ist leicht zu durchbohren. Hier stehe ich.“

Gaetano stürzte fort. Er war wie von Sinnen. Er wußte nicht aus und ein. Am Abend erreichte er Capri, fand Beata in der Pergola neben Biondina stehend, bleich und verweint die Eine wie die Andere, – und brach unter der Wucht des unlösbaren Wirrsals zusammen.

Man hob ihn auf, man trug ihn in’s Haus. Vier Augen wachten Wochen lang Tag und Nacht über seinem Lager. Aber das Licht seines Geistes wollte seine frühere Klarheit nicht wiedergewinnen. Und so dichtete sein Irrsinn das Erlebte allmählich zu einer fremden Historie um, und das kuttenähnliche Kleid, das man ihm auf sein Begehren anzog, und der Name Fra Arcangeli, den er sich beilegte, halfen die Selbsttäuschung vervollständigen. Er war, so erzählte er seitdem, der Beichtvater eines Unglücklichen gewesen, welcher zwei Lieben, aber nur ein Leben gehabt hatte; wo, wann, wie? das war ihm entfallen. Damals hatte er dem Unglücklichen sehr streng in’s Gewissen geredet, aber seitdem war ihm seine Härte leid geworden; er hoffte allen Dreien noch helfen zu können. Es galt, meinte er, nur drei Punkte so zu verbinden, daß Jedem sein Recht werde. In der Pergola, wo Gaetano den [47] beiden Auserwählten seines Herzens zuerst gegenüber gestanden hatte, grübelte Fra Arcangeli Tag für Tag über die Lösung seiner Aufgabe: unablässig kritzelte er Dreiecke in die Säulen der Pergola; bis jetzt hatte er indessen noch kein Dreieck zu Stande gebracht, bei dem, so meinte er zum wenigsten, nicht immer eine Linie gegen die anderen beiden zu kurz komme.

Und das ist so etwa die Geschichte, wie sie mir von jener schönen Fahrt nach Capri wehmüthig und doch hold – denn im Süden kleidet sich ja das Traurigste selbst in helle Farben – in der Erinnerung verblieben ist. Andere mögen, wenn sie Capri’s gedenken, das Bild jenes gigantischen Felsen vor sich aufsteigen sehen, von welchem Tiber seine Opfer in’s Meer stürzen ließ. Mir steht jenes letzte Haus auf Anacapri im Gedächtniß; und ich sehe, wie damals, die beiden in Trauerkleider gehüllten Frauengestalten auf dem schönen freigelegenen Dache sitzen, über ihre gemeinsame Stickerei gebückt, welche ihre Gebete für den armen Gaetano unterstützen soll. Vor Allem aber gedenke ich jener Pergola, bei deren Betreten so wenige Besucher Capri’s ahnen, wie unsäglich bange dort einst drei arme Menschenherzen gepocht haben.



  1. Wir verdanken das Bild der Güte des Herrn Alphons Dürr, der sich durch die Veröffentlichung des Prachtwerkes: „Die Insel Capri. In Schilderungen von F. Gregorovius, in achtzehn Bildern von K. Lindemann-Frommel“ ein Verdienst um Literatur und Kunst erworben hat. D. R.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: lebedigen