Die Offenbarung Johannis/Kap. 10. Das Intermezzo. Einleitung

« Kap. 8-9. Die ersten sechs Posaunen Wilhelm Bousset
Die Offenbarung Johannis
Kap. 11. Tempelausmessung. Zwei Zeugen. Siebente Posaune »
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B. Das Intermezzo. Kap. 10,1-11,19
Inhalt Kapitel 10

Einleitung (10,1-11)

10,1 - 10,2 - 10,3 - 10,4 - 10,5 - 10,6 - 10,7 - 10,8 - 10,9 - 10,10 - 10,11

Exkurs

[307] Einleitung 10,1-11. 10,1. καὶ εἶδον [ἄλλον][1] ἄγγελον ἰσχυρὸν καταβαίνοντα ἐκ τοῦ οὐρανοῦ περιβεβλημένον νεϕέλην. Schwierigkeiten, die mit der literarischen Komposition der Apk zusammenhängen, erheben sich sofort bei der Frage nach dem jetzigen Standpunkt des Sehers. Denn wenn der Engel, um dem Seher das Buch zu überbringen, vom Himmel herabsteigt, so ist der Seher offenbar jetzt auf der Erde befindlich zu denken. Es muß also (mit de W.) angenommen werden, daß der Seher, der 4,1 in den Himmel gestiegen war, ohne daß er es erwähnt, sich wieder auf seinen ursprünglichen Standort zurückbegeben hat. Wenn Ew., Dstd. an dem Standort des Sehers im Himmel festhalten unter Berufung auf alle die vorhergegangenen Stellen, in denen Vorgänge auf Erden trotz des angenommenen Aufenthalts des Sehers im Himmel geschaut werden, so ist dagegen zu erinnern, daß der Seher zwar vom Himmel herab Vorgänge auf Erden schauen kann, es aber dabei doch sinnlos bleiben würde, wenn der Engel vom Himmel herabstiege, um dem im Himmel befindlichen Seher das Buch zu überreichen.[2] Schwierigkeiten bereitet auch die Frage, worauf sich das ἄλλος (ἄγγελος) zurückbeziehe, wenn ἄλλος überhaupt zu lesen ist. Man bezieht dann entweder auf alle vorhergangenen Engel überhaupt, oder auf die Posaunenengel, oder auf den ἄγγελος ἰσχυρός 5,2. Im übrigen ist bei dieser Erscheinung natürlich an einen Engel zu denken und nicht etwa an Christus. Daß der Engel in eine Wolke gehüllt erscheint, soll nur die überwältigend[308] herrliche Erscheinung des Engels charakterisieren. καὶ ἡ[3] ἶρις ἐπὶ τὴν κεφαλὴν[4] αὐτοῦ. Die Iris (vgl. Ez 1,27f.) ist schon oben einmal als Attribut des thronenden Weltrichters erwähnt (4,3), daher der bestimmte Artikel. καὶ τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ὡς ὁ ἥλιος (1,16), καὶ οἱ πόδες αὐτοῦ ὡς στῦλοι πυρός. 1,15. Sp. macht darauf aufmerksam, daß die Attribute des Engels besser zu einer ruhenden als zu einer herabschreitenden Gestalt passen. Doch handelt es sich hier ja einfach um übernommene traditionelle Züge. 10,2. καὶ ἔχων[5] ἐν τῇ χειρὶ αὐτοῦ βιβλαρίδιον[6] ἀνεῳγμένον (s. o. S. 166) καὶ ἔθηκεν τὸν πόδα αὐτοῦ τὸν δεξιὸν ἐπὶ τῆς θαλάσσης, τὸν δὲ εὐώνυμον ἐπὶ τῆς γῆς (s. o. S. 166). Ein zweites Offenbarungsbuch neben dem 5,1 erwähnten bestimmt den Fortgang der Vision; vgl. Ez 2,9: χεὶρ ἐκτεταμένη πρός με καὶ ἐν αὐτῇ κεφαλὶς βιβλίου. Erde und Meer gilt die Kunde, die der Engel bringen soll. Ist die Vision in Kleinasien gedacht, so schaut der Engel, der den rechten Fuß auf das Meer, den linken auf das Land setzt, nach Süden. 10,3. καὶ ἔκραξεν φωνῇ μεγάλῃ, ὥσπερ λέων μυκᾶται (Hos 11,10; Am 1,2; 3,8; Joel 4,16 von Gott; IV Esr 11,37; 12,31 vom Messias gesagt). μυκᾶσθαι wird eigentlich vom Stiere gebraucht, doch ausnahmsweise auch vom Gebrüll des Löwen (Theokrit, Idyll. XXVI 10 μύκημα λεαίνης); vgl. Wtst. Der Engel brüllt also zuerst mit furchtbarer unartikulierter Stimme, er ist der Bote, der die Gerichtsdrohung Gottes bringt (vgl. das zu 4,1 Bemerkte). Es geht kaum an, das Gebrüll des Engels auf die in V. 6 folgenden Worte (Beng., Sp.) zu beziehen. καὶ ὅτε ἔκραξεν, ἐλάλησαν αἱ[7] ἑπτὰ βρονταὶ τὰς ἑαυτῶν φωνάς. Der bestimmte Artikel beweist, daß der Seher in den sieben Donnern eine ihm bekannte Vorstellung einführt. Der Verweis auf 4,5 genügt nicht, auch nicht der auf Ps 29,3-9, wo der „Donner Jahves“ allerdings gerade siebenmal eingeführt wird; oder gar auf Sap Sal 19,13 (Völter IV 59); grundlos denkt Ew. an die Donner der sieben Himmel. Falsch ist es, wenn Sp. unter Heranziehung der Gesetzgebungssagen in dem Donner nur einen Nachhall der Rede des Engels sieht. Denn es handelt sich hier um ein artikuliertes Reden (ἐλάλησαν), das der Seher versteht und niederschreiben will. Wir werden aber kaum mehr erraten können, worauf der Apok. eigentlich anspielt (s. u.). 10,4. καὶ ὅτε[8] ἐλάλησαν αἱ ἑπτὰ βρονταὶ, ἔμελλον γράφειν· καὶ ἤκουσα φωνὴν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ λέγουσαν· σφράγισον (Dan 8,26; 12,4.9), ἃ ἐλάλησαν αἱ ἑπτὰ βρονταὶ, καὶ μὴ αὐτὰ[9] γράψῃς. Der Ausdruck „eine Stimme vom Himmel her“ deutet wieder darauf hin, daß der Seher seinen Standort auf Erden einnimmt; die Erklärung, daß die Stimme aus der Mitte des[309] Himmels gekommen sei, ist sehr künstlich. Gemeint ist mit der Stimme wahrscheinlich diejenige Christi. Der Befehl, den der Seher erhält, ist durchsichtig und einfach. Es handelt sich um ein vollständiges, nicht wieder abzuschwächendes Verbot der Niederschrift dessen, was der Seher gehört hat. Er soll das Gehörte versiegeln, d. h. für jedermann unzugänglich machen. Das tut er, wenn er es nicht aufschreibt. Deshalb ist auch alles Fragen nach dem Inhalt der sieben Donner unerlaubt. Nicht ganz leicht ist es aber zu sagen, was denn dieses Intermezzo für einen Sinn und Zweck hat. Die Parallele, die Dan 10,2ff.; 12,4ff. zu unsrer Szene bietet, ist doch nur eine recht oberflächliche. Am ansprechendsten ist immer noch die Vermutung von Weizs., Schoen, Pfleid., daß das Intermezzo einen literarischen Zweck hat, und daß der Apok. hier eine Quelle, welche sieben Donnervisionen[10] enthielt, absichtlich aus dem Rahmen seines apokalyptischen Werkes ausschließen wollte. Oder es wäre möglich, daß der Apok. mit dem Intermezzo hat ausdrücken wollen, daß er selbst im Begriff gewesen sei, von neuem ein Siebenzeichen einzuschieben, daß er aber vom göttlichen Geist eines Besseren belehrt sei. Wenn Sp. als Gegengrund darauf hinweist, daß die sieben Donner erst nach der siebenten Posaune erwartet werden können, so gilt dagegen, daß der Seher ja mit vollem Recht schon an dieser Stelle zunächst die siebente Posaune hätte bringen können. Auch gibt Sp. 347 zu, daß der Redaktor in der Tat die Stelle, wie oben angegeben, verstanden habe. Jedenfalls fällt der Seher nirgends so aus seiner Rolle wie in Kap. 10; er zeigt sich hier als reflektierender Schriftsteller, der unter der Fiktion einer Vision sich und seinen Lesern Rechenschaft gibt über den Stoff des Buches, wie über seine Anlage und seine Disposition. de W., Hirscht u. a. sehen übrigens in dieser Episode nur eine wirkungsvolle Einleitung zum folgenden, Erhöhung des Geheimnisvollen. 10,5. καὶ ὁ ἄγγελος, ὃν εἶδον ἑστῶτα ἐπὶ τῆς θαλάσσης καὶ ἐπὶ τῆς γῆς (s.o.S. 166), ἦρεν τὴν χεῖρα αὐτοῦ τὴν δεξιὰν[11] εἰς τὸν οὐρανόν. Nach dem Intermezzo V. 3b. 4 nimmt der Apokalyptiker die Beschreibung des Engels und dessen, was er tut, wieder auf. Nicht, weil der Engel in der linken das Buch hat, sondern weil die rechte Hand die Schwurhand ist, hebt der Engel diese zum Himmel empor. Sp. streicht grundlos ὃν εἶδον – ἐπὶ τῆς γῆς. 10,6. καὶ ὤμοσεν (Mt 5,34ff; 23,16) ἐν[12] τῷ ζῶντι εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων. Über ζῶν etc. s. das zu 4,9 Bemerkte. Vgl. Theod. Dan 12,7: καὶ ὕψωσεν τὴν δεξιὰν αὐτοῦ καὶ τὴν ἀριστερὰν αὐτοῦ εἰς τὸν οὐρανὸν καὶ ὤμοσεν ἐν τῷ ζῶντι (LXX τὸν ζῶντα εἰς) τὸν αἰῶνα (Dt 32,40). - ὃς ἔκτισεν τὸν οὐρανὸν καὶ τὰ ἐν αὐτῷ καὶ τὴν γῆν καὶ τὰ ἐν αὐτῇ[13] καὶ τὴν θάλασσαν καὶ τὰ ἐν αὐτῇ[14]. Beachte die weitschweifige Art der Darstellung. Vgl.[310] Gen 14,22; Ex 20,11. Ps LXX 145,6: τὸν ποιήσαντα τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν, τὴν θάλασσαν καὶ πάντα τὰ ἐν αὐτοῖς. Eine besonders feierliche Einführung des Gottes, dessen großes Mysterium nun bald offenbar werden soll. Diese Charakterisierung Gottes als des Schöpfers (vgl. 4,11; 14,17) ist in der spätjüdischen Apokalyptik außerordentlich gebräuchlich, im sonstigen neuen Testament dagegen selten. Bousset, Religion des Judentums 296. ὅτι χρόνος οὐκέτι ἔσται[15]. Sp. bezieht diese Weissagung auf das gänzliche Aufhören der Zeit (Beda) und kombiniert mit der folgenden Stelle die 9,14ff. erwähnten Engel (s.o.), die er als Zeitengel auffaßt. Parallelen zu diesem Gedanken liegen nun freilich in dem slavischen Henochbuch tatsächlich vor, 33,2: „Im Beginn des achten Jahrtausends ist keine Zeitrechnung und kein Ende, weder Jahre noch Monate, noch Wochen, noch Tage, noch Stunden.“ 65,6f.: „Wenn alle Kreatur der sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu Ende gehe ... dann soll jedermann vor das große Gericht des Herrn kommen. Dann werden die Zeiten vergehen und dann soll kein Jahr, noch Monat noch Tag sein.“ Doch hindert an dieser Erklärung der Zusammenhang und ein Blick in die Parallelstelle Dan 12,7, in welcher der Schwur des Engels denselben Sinn hat, wie hier, daß nämlich nur noch eine gewisse Zeit bis zum Ende verstreichen wird, resp. dieses Ende sicher ist. Erbes 65 weist darauf hin, daß der Ausdruck geradezu im Gegensatz zu Dan 12,7 (vgl. 12,13 [Theod.]: ἔτι γὰρ ἡμέραι εἰς ἀναπλήρωσιν συντελείας stehe und sich an 6,11 ἔτι χρόνον μικρόν anschließe. Es muß also erklärt werden: es wird keine Zeitfrist mehr verstreichen; und es ist nur noch die Frage zu erheben, wo Anfangs- und Endpunkt dieser geringen Zeitfrist liegen. 10,7. ἀλλ’ ἐν ταῖς ἡμέραις τῆς φωνῆς τοῦ ἑβδόμου ἀγγέλου, ὅταν μέλλῃ σαλπίζειν (umständliche Ausdrucksweise), καὶ[16] ἐτελέσθη (Joh 19,28.30) τὸ μυστήριον τοῦ θεοῦ. Es liegt hier nicht die Vorstellung eines dauernden Blasens des siebenten Engels vor, sondern ἐν ταῖς ἡμέραις ist unbestimmte Zeitangabe: in der Zeit, da der siebente Engel in die Posaune stoßen wird. Das καὶ ἐτελέσθη ist einfacher Hebraismus und entspricht dem ו consecutivum mit Perf. (z.B. Ex 16,6f; 17,4; LXX καὶ mit dem Futurum). Es ist also so zu übersetzen, als wenn τελεσθήσεται dort stände. Es läßt sich übrigens auch das Tempus im Deutschen wiedergeben: dann ist vollendet. Sp. streicht ἀλλ’ — σαλπίζειν und übersetzt: es wird keine Zeit mehr geben, und vollendet wurde das Geheimnis Gottes[17]. — Man hat darüber[311] gestritten, ob der Apok. sagen will, daß zwischen der siebenten Posaune und der Enthüllung des Mysteriums, oder zwischen der Gegenwart des Sehers und der siebenten Posaune keine Zeitfrist mehr eintreten soll. Das ist eine falsche Fragestellung. Der Seher meint offenbar, daß von der augenblicklichen Gegenwart bis zur Enthüllung des Mysteriums keine Zeitfrist mehr verstreichen wird. Dieses wird vielmehr schon zur Zeit der siebenten Posaune eintreffen; von dieser aber versteht es sich natürlich von selbst, daß sie gleich — das χρόνος οὐκέτι ἔσται ist natürlich nicht allzu wörtlich zu nehmen — nach der sechsten Posaune kommen wird. Geschrieben ist also der ganze Passus offenbar schon unter Hinblick auf das Intermezzo 11,1-13. Der Leser der Apk soll sich durch diese abermalige Verzögerung nicht entmutigen lassen. Das Ende kommt doch sehr bald: χρόνος οὐκέτι ἔσται. Es fragt sich nun weiter, was das Mysterium Gottes für einen Inhalt hat. Zunächst geht aus dem Folgenden hervor, daß es etwas Freundliches und Tröstendes enthält: ὡς[18] εὐηγγέλισεν[19] (s. o. S. 161) τοὺς[20] (z. Akkus. s. S. 163) ἑαυτοῦ δούλους[21] τοὺς προφήτας (s. o. S. 177). Nun scheint aber im Folgenden, nachdem die siebente Posaune geblasen ist, überhaupt zunächst kein freudiges Ereignis einzutreten. In Kap. 12 ist vielmehr von einem verfolgten Weibe, einem mühsam geretteten Kind, der Wut des Drachen die Rede. Von freudigen Ereignissen für die Frommen wird erst 14,14-20 (15,1-4) erzählt, und es läge von hier aus nahe, die siebente Posaune unmittelbar mit 14,14-20 zusammenzuziehen und hier die ursprüngliche Apk zu Ende geben zu lassen (s. die Quellenscheidung von Weyland[22]), die Überarbeitungshypothese von Erbes und Völter) - Dennoch wird es geraten sein, Kap. 12 doch noch einmal daraufhin anzusehen, ob sich in ihm nicht auch ein frohes Geheimnis verbirgt. Und das ist allerdings vorhanden. Das große und frohe Geheimnis Gottes, das mit der siebenten Posaune sich vollendet, ist der in Kap. 12 geschilderte Sturz des Drachens im Himmel. Dieser Vorgang ist in der Tat „das“ Geheimnis Gottes, das alles Folgende beherrscht. Denn mag auch der Satan nun noch eine kurze Zeit auf Erden wüten, die Gläubigen haben ihn nicht zu fürchten. „Das wacht er ist gericht, ein Wörtlein kann ihn fällen“. In „τοὺς ἑαυτοῦ δούλους τοὺς προφήτας“ ist die Voranstellung des ἑαυτοῦ absichtlich und soll hervorheben, inwiefern Gott gerade ihnen die Offenbarung gibt. Es sind jedenfalls nicht alttestamentliche Propheten gemeint, die Berufung auf diese liegt dem Seher ganz fern. Der Seher hat vielmehr christliche, mindestens zeitgenössische Propheten und Prophetinnen vor Augen, er meint sich und seines gleichen. Es ist überdies interessant, wie er sich selbst bewußt ist, im Namen eines ganzen Kreises, einer Klasse zu sprechen, er verarbeitet ja in seinem Werk eine ganze prophetische Literatur.[312] Vgl. Amos 3,7: διότι οὐ μὴ ποιήσει ὁ θεὸς πρᾶγμα, ἐὰν μὴ ἀποκαλύψῃ παιδείαν πρὸς τοὺς δούλους αὐτοῦ τοὺς προφήτας. 10,8. καὶ ἡ φωνὴ, ἣν ἤκουσα ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, πάλιν λαλοῦσα(ν) μετ’ ἐμοῦ καὶ λέγουσα(ν)[23]. Ist der Nomin. zu lesen, so liegt hier wieder ein Beispiel der Auslassung des Prädikats vor. Die Stimme, die hier gemeint ist, ist weder die Stimme des Engels — das hätte einfacher ausgedrückt werden können — noch die Stimme der sieben Donner V. 4, sondern die schon V. 4 vom Himmel her ertönende Stimme Christi (oder Gottes). ὕπαγε (16,1)[24], λάβε (5,7) τὸ βιβλαρίδιον (s. o. zu V. 2) τὸ ἠνεῳγμένον (s.o.S. 162) ἐν τῇ χειρὶ[25] τοῦ ἀγγέλου τοῦ ἑστῶτος ἐπὶ τῆς θαλάσσης καὶ ἐπὶ τῆς γῆς. 10,9. καὶ ἀπῆλθον πρὸς τὸν ἄγγελον (der Standpunkt des Sehers ist auf der Erde) λέγων αὐτῷ δοῦναί[26] μοι τὸ βιβλαρίδιον. Der Infin. ist von λέγειν abhängig, vgl. Apg 21,21. καὶ λέγει μοι· λάβε καὶ κατάφαγε αὐτὸ, καὶ πικρανεῖ σου τὴν κοιλίαν, ἀλλ’ ἐν τῷ στόματί σου ἔσται γλυκὺ ὡς μέλι. Die Stelle schließt sich völlig an Ez 3,1ff. an. Nur in dieser scharfen Gegenüberstellung der verschiedenartigen Wirkungen des zu verschlingenden Buches geht sie über Ezechiel hinaus. Denn dort steht nur: τὸ στόμα σου φάγεται καὶ ἡ κοιλία σου πλησθήσεται, und dann wird weiter berichtet: καὶ ἐγένετο ἐν τῷ στόματί μου ὡς μέλι γλυκάζον. Der Kontrast, der im Ezechiel sachlich vorhanden ist zwischen dem süßschmeckenden Buch und seinem grauenvollen Inhalt, wird hier in das Bild selbst symbolisch hineingelegt, indem das Buch seiner ersten (äußeren) Wirkung nach als angenehm, seiner eigentlichen Wirkung nach als verderblich geschildert wird. Sp. will diese Abweichung als ein Mißverständnis des Apok. von Ez 3,14 (und ich fuhr erbittert im Grimm meines Geistes dahin) unter Kombination mit 3,3 verstehen. Doch sind die Gründe nicht zwingend. Die meisten Ausleger bleiben nun in der Erklärung einfach bei der Erwägung stehen, daß der Empfang einer jeglichen göttlichen Offenbarung an und für sich angenehm, der tatsächliche Inhalt aber gerade dieser Offenbarung unerfreulich sei. Es fragt sich aber doch, ob nicht der Seher in der Schilderung der Wirkung des Buches auf den teils erfreulichen, teils traurigen Inhalt desselben angespielt habe (Heinr., Ew.). Der Inhalt des Buches, das der Seher verschlingt, ist nun offenbar alles von Kap. 12 an Folgende. Denn über die Ereignisse bis zur siebenten Posaune war schon vorher die Rede gewesen. Kap. 12 aber beginnt ja mit dem „frohen Geheimnis“ Gottes und schließt in seiner ersten Hälfte mit einem jubelnden Hymnus im Himmel, das ist die Süßigkeit im Munde des Sehers; dann aber folgt das bittere Wehe über die Erdbewohner und die Schilderung der grimmigen Not der letzten Zeit. [313] 10,10. καὶ ἔλαβον τὸ βιβλαρίδιον (s. zu V.2) ἐκ τῆς χειρὸς τοῦ ἀγγέλου καὶ κατέφαγον αὐτὸ, καὶ ἦν ἐν τῷ στόματί μου ὡς μέλι γλυκύ[27]· καὶ ὅτε ἔφαγον αὐτὸ, ἐπικράνθη[28] ἡ κοιλία μου. Man beachte den breiten Stil des Apokalyptikers. Die Reihenfolge der Wirkungen wird hier anders als oben angegeben. Dort handelte es sich um die Hervorhebung des wichtigeren Begriffs, während hier die beim Essen naturgemäße Reihenfolge vorliegt. 10,11. καὶ λέγουσίν μοι. Schwierigkeiten bereitet der Plural des Verbums. Der Apok. denkt an irgendwelche himmlische Stimmen (man sagt mir)[29], wobei allerdings rätselhaft bleibt, weshalb der Apok. nicht die Stimme von V. 8 wiederum reden läßt. Aber weshalb die Sache dadurch besser wird, daß man das λέγουσιν dem Redaktor zuweist (Sp.) ist nicht recht einzusehen. δεῖ (der Seher muß weissagen, eine innere Notwendigkeit treibt ihn) σε πάλιν προφητεῦσαι ἐπὶ (s. o. S. 166) λαοῖς καὶ ἐπὶ ἔθνεσιν καὶ γλώσσαις καὶ βασιλεῦσιν πολλοῖς. Durch die oben vorliegende Symbolik soll also keineswegs dargestellt werden, daß die Weissagung von der Endvollendung vorläufig noch geheim bleiben soll (B. Weiß). Vielmehr spricht dieser Satz es deutlich aus, daß die nun folgenden Weissagungen als Inhalt des verschlungenen Buches gedacht werden. Mit dem „πάλιν“ προφητεῦσαι schaut der Apok. dann auf die Fülle von Weissagungen zurück, die er bereits vorgelegt hat. Dann umfaßt die Charakterisierung des Inhaltes der neuen Weissagung den ganzen (von Kap. 12 an) folgenden Inhalt der Apk. Namentlich deutlich wird das, wenn der Apok. in der ihm so geläufigen Wendung (s. zu 5,9) die φυλαί hier durch die βασιλεῖς ersetzt. Denn hier wird offenbar von ihm auf die Kapitel 13. 17. 18 Rücksicht genommen. So tritt zu dem Buch in Kap. 5 ein zweites hinzu und beide zusammen umfassen den Inhalt der ganzen Offenbarung.


Exkurs. In der Beurteilung dieses merkwürdigen Kapitels gehen die Forscher weit auseinander. Eine neue Quelle (ב) läßt hier Weyland beginnen. Er muß aber, um die Rückbeziehungen auf das Vorhergehende zu beseitigen, eine Reihe von Operationen vornehmen. So streicht er das ἄλλος in 10,1, das πάλιν in V. 11, die Erwähnung der siebenten Trompete und der Knechte Gottes V. 7. Auch J. Weiß ist der Meinung, daß bereits in Kap. 10 vom Herausgeber der Apok. eine literarisch fixierte Quelle verarbeitet ist. Er findet in V. 7a (s. o.) eine deutliche Spur der Bearbeitung (Verkoppelung der Quelle mit der Sieben-Posaunenvision) und in dem Symbol des Buches, wie in dem Ausdruck „πάλιν“ προφητεῦσαι (V. 11) das Zugeständnis, das der Seher eine bereits vorliegende Quelle übernimmt, in der die Weissagung schon „einmal“ gestanden habe. Über V. 7a ist bereits oben das Nötige gesagt. Die hier gegebene Deutung von V. 11 scheint mir nicht gesichert zu sein (s. o. die Erklärung der Stelle). Ungemein künstlich ist Spittas Kritik. Sp. findet in dem Kapitel 1) den Anfang seiner[314] dritten Quelle (J²), 2) ein Intermezzo zwischen der sechsten und siebenten Posaune verarbeitet. Was den Anfang von J² betreffe, so sei das Buch hier, wie bei Ezechiel, ursprünglich von Gott selbst gegeben. Von Gott und nicht von dem starken Engel seien ursprünglich die Attribute ausgesagt. Diese passten nur zu einer ruhenden und nicht zu einer schreitenden Gestalt und ständen nach καταβαίνοντα am unrechten Platz. V. 2a setze sich dann fort in V. 8, der ursprünglich gelautet habe: καὶ ἤκουσα φωνὼν λέγουσαν etc. Erst durch den Redaktor sei dort der verschrobene Satz zustande gekommen. Im Folgenden sei alles auf den Engel Bezügliche zu streichen und statt λέγουσιν: λέγει zu lesen. Das Intermezzo zwischen sechster und siebenter Posaune aber bilde V. 1a. 2b. 3 (4 Redaktor) (5). 6. (7) und außerdem ein von 9,14f. her zu ergänzender Passus (vgl. V. 6) über die Lösung der Zeitengel.

Annehmbarer ist es schon, wenn Völter 10,1-11,13 für einen Nachtrag von der Hand des Urapokalyptikers hält. Völter fußt namentlich auf der Beobachtung, daß 11,14 (die Verkündigung des zweiten Wehes) sich unmittelbar an Kap. 9 anschließe. 10,1-11,13 sei daher ein eingeschobenes Stück. Dasselbe sei später geschrieben als 1-9. Denn das Intermezzo der sieben Donner bedeute nichts andres, als daß der Seher das Sieben-Posaunengesicht (die sieben Donner sind gleich den sieben Posaunen) noch auf einige Zeit zu versiegeln den Befehl erhalte, das Ende also noch hinausgeschoben werde. Richtig hat Vlt. jedenfalls erkannt, dass Kap. 10,1-11,13 von derselben Hand wie die ersten Kapitel stammen, da sie die mannigfachsten sprachlichen und sachlichen Berührungen mit diesen zeigen (vgl. 10,1 ἄγγελος ἰσχυρός mit 5,2; 10,8 ἡ ἶρις mit 4,3; die weitere Schilderung des Engels mit 1,15.16). Dennoch wird es kaum nötig sein, das Stück 10,1-11,13 als einen Nachtrag von derselben Hand aufzufassen, welches dann von späterer Hand erst an verkehrter Stelle eingerückt ist. Es wird sich doch auch hier empfehlen, die Lösung des Rätsels mit den einfachsten Mitteln und Voraussetzungen in Angriff zu nehmen.

Auf den rechten Weg weisen die Einsichten von Weizs. Schön, Sabatier. Auch nach Weizs. ist 10,1-11,13 ein im Zusammenhang des Ganzen störender Abschnitt. Kap. 10 aber ist nach ihm ein Übergangsabschnitt, in dem der Seher den Befehl bekomme, eine Quelle (die sieben Donner) zu versiegeln, d. h. auszuschalten und eine (das verschlungene Buch, Kap. 11,1-13) einzuschalten. Der Apok. gibt also nach Weizs. in Kap. 10 gleichsam Rechenschaft über die weitere Disposition seiner Schrift.

Schön faßt Kap. 10 als den überleitenden Abschnitt, mit dem der Apok. das kleine jüdische Fragment 11,1-13 einleitet. Sabatier endlich ist der Ansicht, daß der Apok. mit Kap. 10 die ursprüngliche Anlage seines Werkes unterbricht, um hier eine Reihe jüdischer Fragmente einzuschieben, und daß Kap. 10 als die motivierende Einleitung zu diesem Exkurs anzusehen ist.

Bei Sabatier scheinen mir alle Momente einer richtigen Auffassung gegeben zu sein. Kap. 10 ist in der Tat im Wesentlichen ein überleitendes Kapitel von des Apok. eigner Hand, das zwar nicht als Nachtrag anzusehen[315] ist, aber als eine Digression, in welcher der Apok. sich Rechenschaft über den weiteren Verlauf seiner Offenbarung zu geben bemüht, da die Fülle der Gesichte allmählich eine gewisse Unordnung herbeizuführen droht. Es ist aber nicht nur als eine Einleitung zu 11,1-3 zu betrachten, vielmehr weist der letzte Vers: „Du mußt wiederum weissagen über Völker und Nationen, Sprachgebiete und Könige“ weit über 11,1-13 bis zu Kap. 17 und 18 hinaus. So steht das Kap. 10 in der Mitte der ganzen großen Komposition und bildet eine mächtige Klammer, durch welche die auseinanderfallenden Bestandteile zusammengehalten werden. Es schaut rückwärts in der Schilderung der Engelerscheinung auf Kap. 1, in der Erwähnung des siebenten Posaunenengels auf die sechs ersten Posaunen, mit dem χρόνος οὐκέτι ἔσται (V. 6) auf 6,9ff., und vorwärts auf das μυστήριον τοῦ θεοῦ, das in Kap. 12 sich enthüllen soll: die erst süße und dann bittere Offenbarung vom Sturz des Drachens aus dem Himmel und seinem letzten großen Kampf auf Erden, bis zu den Königen, die mit dem Lamme kämpfen (Kap. 17). Bei alledem bleibt die Möglichkeit bestehen, dass der Apok. letzter Hand zugleich in Kap. 10 einige Verse, die ursprünglich Einleitung zu dem Quellenstück 11,1ff. waren, verarbeitet hat (vgl. J. Weiß). doch wird sich Genaueres hier kaum ausmachen lassen.

Von Redewendungen des Apok. bemerke noch außer den oben genannten: V. 6 τῷ ζῶντι εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων 1,18; 4,9.10; 15,7; ὃς ἔκτισεν τ. οὐρ. etc. 14,7 (vgl. die Dreiteilung οὐρανὸς γῆ θάλασσα); V. 7 εὐαγγελίζειν im Akt. und mit dem Akkus. 14,6; τοὺς ἑαυτοῦ δούλους τοὺς προφήτας 1,1 bis.; 11,18; (15,3); 19,2.5; 22,3.6; V. 11 ἐπὶ λαοῖς καὶ ἐπὶ ἔθνεσιν etc. s. o. S. 176.


  1. AC An.(¹)⁴ g vg. s¹² a ae. Tic.; αγγελον αλλον An.⁵ Pr.; > αλλον (P) Q Rel.
  2. Vgl. B. Weiß, nach dessen Annahme der Seher sich schon mit 8,2ff. auf Erden befand.
  3. P An.¹⁵ a > η.
  4. τ. κεφαλην AC; τ. κεφαλης d. übr., s. o. S. 166.
  5. An. g vg. c a Pr. Vict. και ειχεν.
  6. Über βιβλιον, βιβλαριδιον und βιβλιδαριον hier und in V. 8. 9. 10 s. Studien 21, die überwiegende Bezeugung steht, wie mir scheint, an allen Stellen (nur 10,8 könnte man zweifeln) auf Seiten von βιβλαριδιον.
  7. > ℵ.
  8. οσα ℵ g Pr.
  9. μετα ταυτα An.¹²³, eine nicht ungeschickte Konjektur in An.
  10. B. Weiß bemerkt, daß in diesen Donnervisionen speziell vom Ende die Rede war oder sein soll. Aber das läßt sich nicht beweisen.
  11. > A An.¹ s¹.
  12. cACP An.¹²³⁵ 6. 31.; > ℵQ Rel.
  13. και την γην και τα εν αυτη > A An.¹.
  14. κ. τ. θαλ. - εν αυτη > ℵA Min. g. s.¹ a Pr.
  15. εστι ℵ c.
  16. An.³ g cle. fu. dem. tol. c a sa. Pr. > και; Q An.¹² και τελεσθη, doppelter Korrekturversuch. — τελεσθησεται g fu. sa. Pr.
  17. Wie Sp. streicht auch J. Weiß diese Worte und findet hier eine unzweifelhafte Spur redaktionellen Eingreifens, durch das die hier vorliegende Vision mit der Sieben-Posaunen-Vision verbunden werden soll. Er macht dafür noch geltend, daß der Satz den Rhythmus des Ganzen störe, und daß das καὶ ἐτελέσθη sich außerordentlich schlecht anschließe. Aber ein Rhythmus ist in Kap. 10 überhaupt nicht vorhanden und das καὶ ἐτελέσθη schließt sich nach vorgenommener Streichung nicht viel besser an. — Gegen Sp.s Anschauung vgl. M. D., A misused scripture text. Apok. 10,5f. Expositor XII 431.
  18. An.²³ ο.
  19. An.²³ ευηγγελισατο.
  20. An.¹² τοις εαυτου δουλοις τοις προφηταις.
  21. δουλους αυτου Q Rel. (allerdings die in der Apok. durchaus gebräuchliche Wortstellung).
  22. Weyland sieht in dem μυστήριον τοῦ θεοῦ eine Vorausverweisung auf den Evangelienruf 14,6.
  23. λαλουσαν - λεγουσαν ℵAC(P?) Q am. fu. dem. lipss. tol.; fast alle Minuskeln lesen λαλουσα — λεγουσα; es ist möglich, daß die unerträglich harte Konstruktion in den Majuskeln durch eine falsche Korrektur hineingekommen ist; 7 cle. s¹ Pr. lesen και ηκουσα φωνην (φωνην ηκουσα) εκ τ. ουρ. ... λαλουσαν ... λεγουσαν.
  24. + και 4. 6. 11. 31. 32. 33. 48 cle. lips.⁴⁵ dem. Pr.
  25. εκ χειρος 36 g vg. Pr. (C >).
  26. δος P An.¹²³
  27. γλυκυ ως μελι AQ 36 c.
  28. εγεμισθη ℵ g Pr. (s. Ezechiel).
  29. B. Weiß erklärt: die Stimme vom Himmel her und der Engel.
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