Die Naturkräfte (Die Gartenlaube 1854/35)

Textdaten
<<< >>>
Autor: unbekannt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Naturkräfte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 412–413
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[412]
Blätter aus dem physikalischen A-B-C-Buche.
2. Die Naturkräfte.

Der größte Theil der Naturerscheinungen hängt nur allein von Bewegungen ab, ja es ist sogar wahrscheinlich, daß alle Naturerscheinungen in letzter Instanz sich auf Bewegungserscheinungen zurückführen lassen. In vielen Fällen nehmen wir allerdings die Bewegung nicht unmittelbar wahr und glauben daher mit keiner durch Bewegung hervorgebrachten Erscheinung zu thun zu haben, während genauere Untersuchung das Gegentheil lehrt. Wir hören z. B. einen Ton. Die bestimmte Anzahl von Luftschwingungen aber, welche wir eben in ihrer Gesammtheit und periodischen Aufeinanderfolge als Ton empfinden, sind wir nicht im Stande unmittelbar als Bewegungserscheinung wahrzunehmen. Zu dieser Erkenntniß gelangt man erst durch eine Reihe von Versuchen und durch vernunftgemäße Verknüpfung der dadurch der Natur abgenöthigten Antworten.

Was Bewegung hervorzubringen vermag, also die Ursache der Bewegung, nennt der Physiker Kraft. Auch da, wo die betreffende Naturerscheinung noch nicht auf Bewegungserscheinungen zurückgeführt werden könnte, gebraucht man zur Bezeichnung der Ursache derselben das Wort Kraft. Doch geschieht dies meist mit Unrecht und muß wenigstens immer mit Vorsicht geschehen, wenn das Wort Kraft nicht das Bollwerk der Unwissenheit werden soll. Der Physiker muß immer bemüht sein, jede Erscheinung auf ihre mechanischen Elemente, d. i. auf Bewegungserscheinungen zurückzuführen, bevor er Kräfte zu ihrer Erklärung zu Hülse ruft. Wollte man z. B. den tönenden Körpern eine Kraft zu tönen zuschreiben, so würde das nur mangelhafte Beobachtung beweisen, denn eine solche Kraft giebt es gar nicht. Was wir als Ton empfinden, läßt sich auf Bewegungserscheinungen zurückführen, und hier ist es nun erst am Orte nach der Kraft oder den Kräften zu fragen, welche die Schwingungen hervorbringen.

Der Chemiker spricht bisweilen von einer Kraft der Verwandtschaft (Affinität). Die Erscheinungen aber, welche diesen Namen führen, sind sehr zusammengesetzt und konnten bis jetzt noch nicht auf Bewegungserscheinungen zurückgeführt werden. Es ist daher auch nicht gerechtfertigt, hier von einer Kraft zu sprechen. Die meisten Chemiker thun das auch nicht, sprechen vielmehr nur von Erscheinungen, welche sie Affinität nennen.

Am Meisten ist hiergegen in den physiologischen Theilen der Naturwissenschaften gesündigt worden, indem man zur Erklärung aller Erscheinungen des Lebens eine Lebenskraft annahm. Man sieht leicht das Voreilige und Falsche dieser Annahme ein, wenn man überlegt, daß die Erscheinungen des Lebens nichts weniger als einfach, vielmehr aus einer großen Menge anderer selbst wieder sehr complicirter und theilweise noch nicht erklärter Erscheinungen zusammengesetzt sind. Wie kann man hier von einer einzigen Kraft sprechen wollen, welche diesen Complex von Erscheinungen hervorzubringen im Stande wäre? Diese Annahme war auch lange Zeit der Hemmschuh für die Entwickelung der physiologischen Wissenschaften. Wo man zu faul war zu beobachten, mußte die Lebenskraft herhalten.

Aus diesen Beobachtungen wird der Leser abnehmen, daß trotz der unendlichen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen doch die Anzahl der Naturkräfte eine sehr beschränkte sein wird und daß mit der Annahme neuer Kräfte sehr vorsichtig verfahren werden muß. Die goldene Regel aller Naturforschung heißt: keine neuen Kräfte zur Erklärung einer Erscheinung herbei zu rufen, so lange nicht evident erwiesen ist, daß die bereits bekannten ihrer Natur nach zur Erklärung unzureichend sind. Hätte man das immer beachtet, so wäre mancher Unsinn, z. B. auch der durch das Tischrücken zu Tage geförderte, sicherlich nicht geboren worden. Ob einstmals alle Erscheinungen der Natur sich aus einer einzigen Kraft werden erklären lassen, wie man bisweilen gemeint hat, ist eine nach den gegenwärtigem Zustand unserer Kenntnisse durchaus nicht zu beantwortende Frage.

Welches sind nun die in der Natur thätigen Kräfte? Der Leser wird leicht einsehen, daß es nicht möglich ist von Kräften zu sprechen, bevor noch ein Wort über die durch sie bewirkten Erscheinungen gesagt worden ist, aus denen wir erst auf jene schließen können. Wir wollen das auch nicht, vielmehr nur durch einige Betrachtungen vorläufig darauf aufmerksam machen, wie weit der Wirkungskreis einer einzelnen Naturkraft sei.

Die Schwerkraft oder Anziehungskraft unserer Erde, durch welche alle Körper nach dem Mittelpunkte der Erde zu fallen streben, ist als die bekannteste Naturkraft am Besten hierzu geeignet. Von ihrem Gesetze, d. h. welche Geschwindigkeit sie einem fallenden Körper ertheilt und welche Zeit zur Durchfallung eines gewissen Raumes nöthig ist, davon wollen wir später einmal sprechen. Die Schwerkraft ist bei der Gestaltung unserer Erdoberfläche im hohen Grade thätig gewesen, denn alles fließende Wasser, sowohl das in den Flüssen und Strömen, als auch das [413] durch die Gesteine hindurch sickernde wird von ihr in Bewegung gesetzt. Das fließende Wasser hat aber an der Veränderung der Erdoberfläche einen viel größeren Theil als man früherhin glaubte. Die älteren Geologen ließen durch gewaltsame vulkanische Erdrevolutionen die Umänderungen der Erdoberfläche erfolgen, die auch in der That bisweilen stattfanden. In neuerer Zeit hat man sich dagegen auf das Sicherste überzeugt, daß das fließende Wasser und namentlich auch das ganz langsam durch die Gesteine hindurch sickernde bei Weitem großartigere Veränderungen der Erdoberfläche zu Stande gebracht hat. Denn die Kleinheit dieser Wirkungen summirt sich durch unendlich lange Zeiträume zu ganz erstaunlichen Größen. Nicht minder steht die Atmosphäre unter dem Einfluß der Schwere und die Größe aller Witterungseinflüsse, welche ebenfalls einen sehr großen Antheil an der Oberflächengestaltung der Erde haben, hängt von der Größe der Schwerkraft ab. Auch auf die Culturzustände des Menschen hat die Schwerkraft einen gewaltigen Einfluß ausgeübt. Alle Transportmittel würden sich z. B. ganz anders gestaltet haben, wäre die Schwerkraft an der Erdoberfläche etwa sechsmal geringer als sie wirklich ist, also so wie sie an der Oberfläche des Mondes stattfindet. Würde bei uns die Schwerkraft mit einem Male so viel Mal geringer, so würde man unter den gegenwärtigen Verhältnissen, also unter Annahme derselben Muskelkraft der Menschen und Thiere, derselben Straßen und Eisenbahnen, derselben Festigkeit aller Körper u. s. w., sechs Mal größeren Effekt bei allem Transport hervorzubringen im Stande sein. Was für gewaltige Aenderungen würde das in allen menschlichen Verhältnissen hervorbringen! Eine Aenderung der Schwerkraft ist zwar niemals möglich, aber wir können uns durch solche Betrachtungen klar machen, daß alle menschlichen Verhältnisse zum größten Theil ein Produkt dieser und anderer Naturkräfte sind, indem sie sich denselben anpassen mußten. Hieraus erkennt man zugleich wie albern die Bestrebungen sind, wenn man über das Leben auf anderen Himmelskörpern Erörterungen anstellen will. Man hat z. B., als nach den großartigen Verbesserungen der Fernröhre in diesem Jahrhundert die Oberflächengestaltung des Mondes uns aufgeschlossen wurde, sich verleiten lassen, Kunstprodukte der dortigen Bewohner aufzusuchen oder vielmehr gewisse räthselhaft erscheinende Gegenstände als Kunstprodukte zu deuten. Man hat aber dabei ganz außer Acht gelassen, daß eben solche Dinge ein Produkt der dort wirkenden Naturkräfte sind; da aber nun die Naturkräfte auf der Oberfläche des Mondes ganz andere Wirkungsgrößen besitzen, so werden auch die Kunstprodukte ganz andere Formen annehmen müssen, nicht zu gedenken, daß ja auch die ganze Gestaltung des dortigen organischen Lebens, wenn’s überhaupt ein solches giebt, himmelweit von dem unserigen verschieden sein muß.

Eben so einflußreich als die Schwerkraft ist die Wärme. Wir können sie aber im eigentlichen Sinne keine Kraft nennen. Was wir als Wärme wahrnehmen, ist eine periodische Aufeinanfolge von unendlich kleinen Schwingungen. Wenn aber Körper erwärmt werden, so treten noch andere Erscheinungen auf, unter denen die auffälligste die Ausdehnung der Körper ist. Diese Ausdehnung geschieht namentlich bei luft- und dampfförmigen Körpern mit großer Gewalt und in Folge dessen wird die Wärme die Quelle einer bewegenden Kraft. Wir erinnern nur an die Dampfmaschine, an die neuerdings construirte heiße Luftmaschine. Wir können also die Wärme insofern, als sie die Körper auszudehnen und dadurch Bewegungserscheinungen hervorzubringen vermag, als eine Naturkraft bezeichnen, die nicht blos von den Menschen zum Betriebe der Maschinen und anderen Dingen benutzt worden ist, sondern deren sich die Natur selbst vielfach zur Erreichung ihrer Zwecke bedient.

In ähnlicher Weise werden Bewegungen hervorgebracht, wenn gewisse Körper in den Zustand treten, den wir electrisch und magnetisch nennen. Wir können also in diesem Sinne Electricität und Magnetismus ebenfalls als Naturkräfte bezeichnen, obschon wir über die eigentliche Natur dieser Potenzen noch nicht vollständig aufgeklärt sind, auch noch nicht einmal alle Erscheinungen namhaft zu machen wissen, bei welchen sie ihre Hand im Spiele haben. Daß sie z. B. auf das organische Leben einen großen Einfluß ausüben, ist mehr als wahrscheinlich; aber welchen? davon sind wir noch weit entfernt. Sie zum Betriebe von Maschinen zu benutzen, hat man angefangen, aber noch lange nicht zur Vollendung geführt.

Die Naturkräfte wirken nur selten einzeln, in der Regel mehrere in Gemeinschaft. Dadurch wird die Erscheinung sehr zusammengesetzt, bisweilen in solchem Grade, daß es schon zu einer sehr schweren Aufgabe wird, die Erscheinung selbst richtig zu erkennen. Wo nun die Thatsachen der Beobachtung, d. h. die Wirkungen der Kräfte noch nicht mit Sicherheit festgestellt sind, kann man selbstverständlich noch nicht daran gehen, die wirkenden Kräfte aufzusuchen. Die Erscheinungen des Lebens z. B. sind in allen ihren Punkten noch lange nicht vollständig bekannt; es giebt hier noch manche nur sehr oberflächlich beobachtete Parthien. Daher ist es sehr voreilig, schon nach den hier wirkenden Kräften und baarer Unsinn, nach einer Lebenskraft suchen zu wollen.

Wenn wir oben sagten, Kraft sei das, was Bewegung hervorbringen könne, so ist damit über das eigentliche Wesen, über die Natur der Kraft noch durchaus kein Aufschluß gegeben. Es ist das von Seiten des Physikers auch nicht möglich und kann höchstens eine Frage für den Philosophen sein. Die Antworten aber, welche von dieser Seite her erfolgen, sind für den Physiker von wenig Belang; ihm ist es für seine Forschungen genug, wenn das seinem Wesen nach unbekannte Etwas, welches er durch Kraft bezeichnet, ein strenges Gesetz befolgt, und sich durch seine Wirkungen genau messen läßt. Der Astronom kennt das Gesetz und die Größe der Anziehungskraft, welche die Himmelskörper nöthigt, ihre Bahnen um einander zu beschreiben, und ist dadurch in den Stand’ gesetzt, den Ort der Himmelskörper für jede beliebige Zeit genau zu bestimmen. Was nun eigentlich diese Kraft ist, weiß er nicht, wie überhaupt Niemand. Aber wenn er es auch wüßte, so würde dadurch die Astronomie um keinen Schritt weiter geführt.

Was zur Anstellung einer mathematischen Rechnung nöthig ist, weiß man und etwas Weiteres verlangt der Astronom nicht. Wie hier in diesem einzelnen Falle, ist es bei allen physikalischen Forschungen. Was die Kraft eigentlich ist, danach fragt der Physiker niemals, wenn er nur ihr Gesetz kennt, um die Sache auf mathematischen Grund und Boden versetzen zu können.