Die Nachtigall und die Lerche
Die Nachtigall sang einst mit vieler Kunst;
Ihr Lied erwarb der ganzen Gegend Gunst;
Die Blätter in den Gipfeln schwiegen,
Und fühlten ein geheim Vergnügen.
Und hörte Philomelen zu.
Aurora selbst verzog am Horizonte,
Weil sie die Sängerinn nicht gnug bewundern konnte.
Denn auch die Götter rührt der Schall
Und ihr, der Göttinn, ihr zu Ehren,
Ließ Philomele sich noch zweymal schöner hören.
Sie schweigt darauf. Die Lerche naht sich ihr,
Und spricht: Du singst viel reizender, als wir;
Doch Eins gefällt uns nicht an dir,
Du singst das ganze Jahr nicht mehr, als wenig Wochen.
Doch Philomele lacht und spricht:
Dein bittrer Vorwurf kränkt mich nicht,
Ich singe kurze Zeit. Warum? Um schön zu singen.
Ich folg im Singen der Natur;
So lange sie gebeut, solange sing ich nur.
O Dichter, denkt an Philomelen,
Singt nicht, so lang ihr singen wollt.
Natur und Geist, die euch beseelen,
Sind euch nur wenig Jahre hold.
So singt, so lang ihr feurig seyd,
Und öffnet euch mit Meisterstücken
Den Eingang in die Ewigkeit.
Singt geistreich der Natur zu Ehren;
So eilt, um rühmlich aufzuhören,
Eh ihr zu spät mit Schande schweigt.
Wer, sprecht ihr, will den Dichter zwingen?
Er bindet sich an keine Zeit.
Und singt euch um die Ewigkeit.