Die Lumpensammler von Paris

Textdaten
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Autor: Max Nordau
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Titel: Die Lumpensammler von Paris
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 163-165
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Lumpensammler von Paris.

Von Max Nordau.


Vom phantastischen Hintergrunde des Pariser Lebens heben sich drei Figuren ab, welche die Poesie und die Legende mit allem Zauber der Romantik ausgestattet hat: Mimi Pinson, Gavroche, Vireloque. Der Fremde, der von der französischem Hauptstadt nichts weiß, als was er in den Romanen der Pariser Autoren und in ihren zugleich übertriebenen und verwässerten ausländischen Nachahmungen, in stereotypen Reisebeschreibungen und in den lyrisch-hyperbolischen Ergüssen, zu denen sich jeder Journalist in seinen ersten Aufsätzen über Paris verpflichtet glaubt, gelesen hat, kann an die Stadt nicht denken, ohne die Gestalt der gemüthvollen und anmuthigen Grisette, des geistsprühenden und heroischen Gassenjungen und des gnomenhaft geheimnißvollen und philosophischen Lumpensammlers vor seinem Auge aufsteigen zu sehen. Aber diese Gestalten, mit denen die Einbildungskraft des Fernstehenden Paris bevölkert, der Bewohner der Stadt wird sie vergebens in den Straßen suchen. Wer sie wirklich antreffen will, der muß in den Büchern von Musset, von Victor Hugo, von Murger, von Privat d’Anglemont, in der Literatur der langhaarigen Romantiker aus den dreißiger Jahren nach ihnen ausschauen; im Leben wird er ihnen nicht begegnen.

Mimi Pinson wohnt da nicht in blumengeschmücktem Dachkämmerlein, singt nicht mit einem Canarienvöglein um die Wette harmlose Lieder voll unschuldiger Heiterkeit oder thränenfeuchter Melancholie und hängt nicht in selbstloser Liebe an einem Studenten, dessen einziger Reichthum seine zwanzig Jahre sind, sondern sie ist eine arbeitsscheue Dirne, dumm wie ein Fisch, langweilig wie ein Regentag, eitel und selbstsüchtig wie kein anderer Menschentypus in der weiten Welt, ein erniedrigtes Geschöpf, das sich dem Meistbietenden verkauft und dessen Anhänglichkeit genau so lange währt, wie die Freigebigkeit des Verehrers.

Gavroche ist nicht der witzige Beobachter und Kritiker, der aus einem Chore des Artstophanes ausgebrochen zu sein scheint, der die Mächtigen mit dem Scheidewasser. seines Spottes überschüttet und die Tapferen mit einem feinsinnigen Compliment wie mit einer Bürgerkrone bekränzt, eine jede Lage in einem überraschenden Witzworte zusammenfaßt, an Festtagen in den Straßenbacchanalen als Verkörperung hinreißender Lustigkeit die erste Rolle spielt und in den Stunden des Kampfes um große Freiheitsideen mit einem geistreichen Epigramme auf den Lippen stirbt, sondern er ist ein trübseliger, blutarmer, skrophulöser Junge, vorzeitig reif und bis ins Knochenmark verdorben, frech allerdings und ohne Achtung vor irgend etwas Lebendem oder Todtem, aber zugleich unwissend und beschränkt, voll böser, schmutziger Instincte und unfläthiger Gewohnheiten, fähig, einem mühselig humpelnden Mütterlein ein Bein zu stellen, einem Blinden die Almosenpfennige aus der Schale zu stehlen und einem auf der Boulevardbank duselnden Betrunkenen den Bart abzusengen oder die Kleider anzuzünden, in Volksaufständen gern plündernd und meuchlings mordend und auf der Barricade mehr aus leichtsinniger Verkennung der Gefahr als aus bewußter Tapferkeit sterbend.

Und ebenso wenig ist Vireloque ein seltsamer, tiefsinniger Weltweiser, eine Art Diogenes ohne Faß, doch mit einer Kiepe, einer Blendlaterne und einem Stöberhaken, der in schweigender Nachtstunde plötzlich an einer Straßenecke auftaucht, mit dem verspäteten Wanderer ein schopenhauersches Gespräch anknüpft, in welches er Anführungen aus classischen Dichtern, geschichtliche Anekdoten und intime Bemerkungen über hochstehende Persönlichkeiten einflicht, und an einer andern Straßenecke den erstaunten Begleiter ebenso jäh wieder verläßt, sondern er ist ein ganz gewöhnlicher, bescheidener Proletarier, der mit unsauberer, aber immerhin nicht ganz unnützer Arbeit einige Franken täglich verdient und in die tödtlichste Verlegenheit geriethe, wenn man von ihm eine Causerie verlangen würde, wie sie ihm von den poetischen Schilderungen in den Mund gelegt werden.

Dennoch ist Vireloque während der letzten vierzehn Tage der Held im Drama des Pariser Lebens gewesen. Alle Zeitungen haben sich mit ihm beschäftigt, emsige Federn seine Naturgeschichte, seine Psychologie, seine auf- und absteigenden Lebensläufe geschrieben, die Salons über ihn geplaudert, die Vertretungskörper der Gemeinde und des Staates über ihn berathen. Reporter haben ihn in seiner Wohnhöhle aufgesucht und ihm die Geheimnisse seines Daseins abgefragt, Politiker ihm ihr Wort zur Verteidigung seiner Interessen angeboten, Parteien sich ihn streitig gemacht. Was war der Anlaß, daß sich die allgemeine Theilnahme der Weltstadt plötzlich so bestimmt der dunkelsten Classe ihrer Bevölkerung zuwandte? Die Präfectur hatte angeordnet, daß der Kehricht eines jeden Hauses in einen Behälter gesammelt und Morgens vor die Hausthür gestellt werde, um in den zu bestimmter Stunde vorüberkommenden Kehrichtwagen geleert zu werden. Rücksichten der Reinlichkeit und Gesundheit forderten diese Maßregel, welche einen Fortschritt gegen die früheren Zustände bedeutete. Denn bis dahin war der Hauskehricht einfach auf die Straße geworfen worden und die städtischen Arbeiter konnten zusehen, wie sie mit seiner Wegschaufelung fertig wurden.

Ja, aber diese fröhlich unter der Sonne – oder unter den Sternen – ausgebreiteten Kehrichthaufen gestatteten den Lumpensammlern, in aller Bequemlichkeit zu wühlen und zu stöbern, während der tiefe Behälter, der zur bestimmten Stunde auf der Straße erscheinen und alsbald wieder verschwinden soll, seine bescheidenen Schätze viel eifersüchtiger birgt und den armen Vireloque zu einer wahren Bergmannsthätigkeit zwingt, um aus den gleichgültigen Abfällen bis auf den Boden des Gefäßes hinab alles für ihn Werthvolle zu erschürfen. Die Lumpensammler klagten und jammerten, und das Publicum nahm für sie Partei. Es fand zu seiner eigenen Ueberraschung, daß es für Vireloque eine gewisse, fast hätte ich gesagt sentimentale Zärtlichkeit empfinde. Gegen die Verordnung der Präfectur läßt sich nichts Vernünftiges sagen; sie beseitigt eine Barbarei, die man allenfalls in Constantinopel oder Kairo, aber nicht im eleganten Paris begreift. Und doch fordert man ungestüm ihre Abschaffung, weil man nicht will, daß an das Interesse des braven Lumpensammlers gerührt werde.

Es ist bei dieser Gelegenheit viel Falsches und Uebertriebenes von ihm erzählt worden. Man hat behauptet, daß es in Paris 30, ja 50,000 Lumpensammler gebe, die durchschnittlich 6 Franken täglich erstöbern. Das gäbe täglich 300,000 und jährlich 1091/2 Millionen Franken oder nahezu 88 Millionen Mark, weit mehr als irgend ein bekanntes Goldbergwerk liefert, sodaß man glauben müßte, der Pariser Kehricht berge reichere Schätze in sich als die „placers“ Californiens. Das ist aber blos Reporteraufschneiderei. Die Wirklichkeit zeigt weniger großartige Verhältnisse. Nach einer amtlichen Darstellnug des Chefingenieurs von Paris, Herrn Alphand, beschäftigen sich 7050 Personen beiderlei Geschlechts mit Lumpensammeln, von denen 5248 in Paris selbst und 1802 in den Vororten außerhalb der Ringmauer wohnen, von wo sie allnächtlich zur Stadt wandern, um mit dem Morgengrauen unter der Last ihrer gefüllten Kiepe keuchend heimzukehren. Auch einen so reichen Lohn, wie die enthusiastischen Schilderer meinen, wirft das Gewerbe nicht ab. Vireloque darf auf keine höhere Tageseinnahme als 3 Franken rechnen, und die gesammte Ausbeute der ehrenwerthen Körperschaft stellt, wenn das Jahr herum ist, höchstens einen Werth von 6 bis 7 Millionen dar.

Das ist noch immer eine ansehnliche Summe, und man ist zu der Frage berechtigt, welche Schätze denn eigentlich der Kehricht enthält, daß man Millionen aus demselben auslesen kann? Findet der Lumpensammler vielleicht Perlen oder Schmucksachen aus Edelmetall oder Geldscheine? Nein, das ist es nicht; wenn er ausnahmsweise auch einmal dergleichen aufstöberte, so wäre er gehalten, es dem „Concierge“ oder Thorwart des betreffenden Hauses zurückzugeben, und man versichert, daß er dies in der Regel ehrlich thut. Die Kostbarkeiten, nach welchen der Lumpensammler fahndet und deren Werth doch auch Millionen beträgt, sind viel bescheidenerer Natur; es sind Knochen, Papier- und Stofffetzen, Glasscherben, Metallabfälle; aber da gilt das Wort: „Die Menge muß es machen“.

Einzeln werthlos, erreichen diese Dinge in größeren Partien ganz annehmbare Preise, die nur wenig schwanken und über welche der früher genannte Herr Alphand zuverlässige Angaben machte. Es werden in Paris bezahlt: für 100 Kilo Knochen 4 Franken, Papier (je nach dessen Feinheit) 1 bis 5 Franken, Schafwolllappen 40 Franken, Kupferabfälle 80 Franken, Sardinen- und [164] Conservendosen 3 Franken, weißes Glas 6 Franken, grünes (Flaschen-)Glas 1,20 Franken. Die Industrie hat für all diese als unnütz weggeworfenen Abfälle Verwendung. Die Knochen werden zu Mehl vermahlen und als Dünger verkauft oder zu Kohle verbrannt; aus den Papierlumpen wird neues Papier bereitet; die Schafwolllappen dienen zur Verfertigung billiger und natürlich auch nicht sehr dauerhafter sogenannter „Shoddy“-Tuche; von den Blechdosen, in welchen Sardinen u. dergl. verkauft werden, lebt eine ganze, recht interessante Industrie, deren Erzeugnisse so billig abgegeben werden müssen, daß sie ihren Rohstoff, das Eisenblech, unmöglich vom Blechwalzer selbst beziehen könnte, nämlich die Fabrikation von Metallsoldaten, welche mittels einfacher Maschinen aus den Blechdosen ausgestanzt werden; und die Glasscherben kehren in Gestalt neuer Glaswaaren auf unseren Tisch zurück.

Das Lumpensammeln ist zwar eine freie Kunst, aber seine Adepten haben doch ein festes Zunftgefüge, welches sogar Rangabstufungen zuläßt. Zu unterst stehen die „biffins“ oder „chineurs“, halb Dilettanten, halb Desperados, Leute, die tagüber etwas Anderes treiben, mit einbrechender Nacht aber zum Stöberhaken greifen und auf’s Geratewohl vor sich hin wandernd ihr Glück versuchen. Sie sind von ihren Genossen höherer Ordnung scheel angesehen, weil sie das Herkommen der Zunft nicht kennen oder nicht achten, in die Vorrechte Anderer eingreifen und überhaupt im wohlgeregelten Getriebe der ehrsamen Körperschaft das Element der Pfuscher und Störer darstellen.

Respectabler sind die „rouleurs“, Lumpensammler von Beruf, von denen jeder seinen bestimmten Straßenbezirk ausbeutet, ohne seinen Cameraden in’s Gehege zu streichen, wogegen er dieselbe Rücksicht für sich und sein eigenes Revier erwartest. Auf der höchsten Sprosse der Rangleiter stehen die „placiers“. Dieselben gelten als die Aristokraten der Brüderschaft. Sie haben das Privilegium, im Kehricht zu stöbern, ehe er noch auf die Straße geworfen wird. Sie dürfen in die Häuser selbst eintreten und da in aller Ruhe arbeiten. Der Concierge kennt sie und steht mit ihnen auf dem Fuße wohlwollender Herablassung. Ein jeder „Placier“ sucht 10 bis 30 Häuser ab und macht sich den Concierges für ihre Duldung durch kleine Dienstleistungen z. B. Wassertragen, nützlich. Die Stelle eines Placier hat einen gewissen Werth, namentlich in den reichen Stadtvierteln; gedenkt er, sich von den Geschäften zurückzuziehen, so verkauft er sie einem Nachfolger, den er an einem Sonntage, ganz sauber gekleidet, den Concierges seines Reviers in aller Form vorstellt und ihrem Wohlwollen empfiehlt. Man versichert, daß einzelne Placiers für ihre Stelle bis zu 1000 Franken bekommen haben.

Das sind die verschiedenen Kategorien der eigentlichen Lumpensammler, die persönlich auf Beute ausgehen. Außerdem giebt es aber Unternehmer, welche ihnen ihre Sammelfrüchte abkaufen, dieselben durch Tagelöhner sortiren lassen und nach Gattungen geordnet in großen Posten weiter verkaufen. Solcher Unternehmer zählt man etwa 100, darunter vier oder fünf, die mit Millionen arbeiten, und Alle gelangen sehr rasch zu Wohlstand, in vielen Fällen zu großem Reichthume. Seit dem Jahre 1868 tritt bei jeder Municipalrath- und Abgeordnetenwahl in Paris ein Herr Berton als Candidat auf. Er ist die lustige Person aller Pariser Wählen. Er nennt sich den „Menschheitscandidaten“, „le candidat humain“. Seine Ansprachen an die Wähler sind auf rosenfarbigem Papiere gedruckt und mit seinem wohlgetroffenen Ebenbilde in Holzschnitt geziert. Er verspricht gewöhnlich in apokalyptischem Stile die Beglückung der ganzen Menschheit, und in erster Linie der Pariser, und erklärt den Wählern, sie seien es der Civilisation schuldig, ihm ein Mandat anzuvertrauen. Nun denn, dieser Herr Berton war ein Lumpenhändler, der sich nach zwanzigjähriger Thätigkeit in noch jungen Jahren mit einer Rente von 60,000 Franken zur Ruhe gesetzt und dem die Arbeit der „rouleurs“ und „placiers“ die Muße geschaffen hat, auf die Beglückung des Menschengeschlechts zu sinnen.

Die Lumpensammler hausen in bestimmten Straßen, welche dann keine andere Bevölkerung enthalten. Die bekannteste unter diesen Straßen ist die Rue Moussetard am linken Seine-Ufer, doch giebt es auch in Montrouge im Süden und in Montmartre und La Villette im Norden starke Lumpensammlercolonien. Ihre Wohnstätten sehen wie Lager wandernder Zigeuner aus. Auf einem unbedeutenden Grunde, den sie entweder vom Eigenthümer oder einer Mittelsperson miethen, errichten sie sich eine an Wigwams oder Kibitken erinnernde Hütte aus den wunderlichsten Bestandtheilen. Die Wände sind aus Lehm gestampft oder wie in den Pfahlbauten der Schweizer Seen aus Weidenruthen geflochten und mit Erde beworfen. Oft vertritt ein Wagenrad, Speichen mit geöltem Papiere beklebt sind, das Fenster. Als Dach dient eine Theerdecke, im besten Falle stückweise zusammengeschleppte Dachpappe. Einzelne Gebäüde sind freilich auch aus Backsteinen, Gyps und Holzsparren aufgeführt, aber diese beherbergen nur die Reichsten und Glücklichsten des Handwerks. Große Reinlichkeit herrscht in diesen Niederlassungen natürlich nicht; das ist schon durch die Vorräthe an „Waare“ ausgeschlossen, die in und vor den Hütten bis zum Verkaufe aufgestapelt sind; in ihrer leiblichen Erscheinung sind jedoch die Lumpensammler weniger schmutzig, als man glauben sollte, und [165] die epidemischen Krankheiten fordern unter ihnen nicht mehr Opfer, als unter der übrigen Armenbevölkerung.

Der größte Theil der Lumpensammler hat nie ein anderes Gewerbe betrieben. Man ist Lumpensammler vom Vater auf den Sohn. Man arbeitet schwer, muß große Lasten schleppen, die Nacht zum Tage machen, bei Sturm und Regen hinausgehen, aber man hat sein Auskommen. Ein dürftiges, aber gleichmäßiges Auskommen, gleichmäßiger, als es manches andere höher stehende Handwerk gewährt, in welchem man es auf 10 bis 12 Franken Tagelohn bringen kann, aber auch Perioden der Arbeitslosigkeit ausgesetzt ist. Zur Polizei unterhalten die Lumpensammler die besten Beziehungen. Wenn sie auch ziemlich außerhalb der bürgerlichen Sittengesetze leben, selten vor dem Standesamte eine Ehe eingehen, gewöhnlich keiner Religion angehören, ohne sicheren Civilstand geboren werden, altern und sterben, so sind doch Verbrechen unter ihnen nahezu unbekannt, und sie gehören vor Allem zu den friedlichsten und gehorsamsten Bewohnern des unruhigen Paris. An den häufigen Revolutionen nahmen sie keinen Antheil, selbst während des Commune-Aufstandes verhielten sie sich ruhig, und man erzählt den bezeichnenden Zug, daß sie auf ihren nächtlichen Rundgang auszogen und ruhig stöberten, als in der „blutigen Woche“ des Jahres 1871 ein Theil von Paris brannte und in anderen Theilen Versailler und Communards noch mit der Wildheit von Menschenfressern gegen einander kämpften.

Alle diese Züge ergeben zusammen das Bild eines ehrlichen, aber recht prosaischen Arbeiters, der sich in seinem einigermaßen schmarotzerischen Gewerbe als Rohstofflieferant gewisser nebensächlicher Industrien und Verwerther unbrauchbarer Abfälle nützlich zu machen sucht. Wie konnte nun gerade diese Figur eine der populärsten des Pariser Lebens werden? Wie konnte sie solches Interesse und solche Sympathie in Paris und darüber hinaus erwecken? Wie konnte ihr die Legende einen Glorienschein um das struppige Haupt zaubern? Ich erkläre mir dies nur dadurch, daß die Romantiker sich viel mit dem Lumpensammler beschäftigt und ihn idealisirt haben. Daß sie aber auf ihn geriethen, das lag bei ihren allgemeinen Tendenzen und Neigungen nahe. Die Romantiker hatten einen Haß auf alles normal Bürgerliche und herkömmlich Regelmäßige. Sie schwärmten für das Ungewöhnliche, für das, was aus der philiströsen Ordnung des Staates, der Gesellschaft, des Erwerbslebens heraustrat; deshalb waren ihnen Zigeuner interessanter, als ansässige, Gewerbssteuer zahlende Gewürzkrämer, Verbrecher und Scharfrichter anziehender, als Schutzmänner und Richter, thörichte Jungfrauen lieber, als weise. Der Lumpensammler mußte den Romantikern in’s Auge stechen. Er arbeitete nicht am Tage wie ein Schuster und Schneider, sondern zur schauerlichen Nachtzeit; er brach wie die Fledermäuse aus unbekannten Schlupfwinkeln hervor und verkroch sich wie diese bei aufgehender Sonne wieder; man begegnete ihm zur mysteriösen Geisterstunde in den schweigenden, schlafenden Straßen, welche mit ihm nur noch die auf Eindrücke, Stimmungen und Entdeckungen ausgehenden Romantiker theilten, und er trug vor Allem eine Blendlaterne. O, diese Blendlaterne! Ich bin überzeugt, daß sie allein mehr als alles Andere dazu beigetragen hat, den Lumpensammler zur Lieblingsfigur der Romantiker zu machen. Die Ideenassociation spielt bei Phantasiemenschen eine große Rolle, und die Blendlaterne erweckt die Vorstellung von außerordentlichen Erlebnissen, nächtlichem Gräuel und dramatischer Missethat. Vom Lichte seiner eigenen Blendlaterne ist ein Strahl auf den Lumpensammler gefallen und hat ihn in poetisches Licht gesetzt. Ginge Vireloque am Tage seinem Gewerbe nach, er hätte nie die Ehre eines Romans oder Dramas erhalten.

Zweifellos giebt es unter den Lumpensammlern, namentlich unter den „Bönhasen“ des Gewerbes, den dilettantischen „biffins“, curiose Gestalten, die aus dem Rahmen der Alltäglichkeit heraustreten. Die Deserteure und Nachzügler des Kampfes um’s Dasein, die Declassirten aller höheren Berufe mögen oft genug zum Stöberhaken greifen, da seine Handhabung keinerlei Vorbereitung erfordert. Wie man in den Pariser Asylen für Obdachlose verkommene Marquis und Grafen, Priester und Professoren, Aerzte und Advocaten, ehemalige Präfecten und erste Tenöre antrifft, so mag ab und zu ein solcher Schiffbrüchiger des Lebens auch unter die Bevölkerung der Rue Mouffetard verschlagen sein – Abfälle der Weltstadt, die sich von Abfällen der Weltstadt zu fristen suchen! So ergeben sich wunderliche Begegnungen wie die, welche der arme Gérard de Nerval erzählt. Er ging eines Nachts gegen drei Uhr leicht angetrunken nach Hause und holte einen Lumpensammler ein, der langsam vor ihm einherschritt.

„Wie viel Uhr ist es, mein Freund?“ fragte der Dichter.

„Quota hora est?“ antwortete der Angeredete, „tertiam esse credo.“[1]

Und als Gérard de Nerval ihn überrascht ansah, fuhr der Lumpensammler in elegantestem Salonfranzösisch fort:

„Sie wundern sich, edler Trunkenbold, daß ich mit Ihnen lateinisch spreche? Erfahren Sie, daß Sie die Ehre haben, mit dem langjährigen Secretär und Mitarbeiter des Herrn von Beaumarchais zu sprechen.“ Darauf grüßte er und schwenkte in eine Seitengasse ab.

Wie gesagt, solche Begegnungen sind möglich, aber sie dürften wohl äußerst selten sein. Die volksthümliche Legende jedoch verallgemeinert diese ausnahmsweisen Anekdoten und macht aus jedem Ritter des Stöberhakens einen Incognito-Herzog oder heruntergekommenen Archäologen. Das ist die Macht der Literatur auf den Volksgeist. Vireloque ist und bleibt in der Vorstellung der Menge eine romantische Figur. Mit leichter Aenderung des Dichterworts kann man sagen: die Menschenclasse, bei der ein dichterischer Geist idealisirend verweilte, „sie bleibt geweiht für alle Zeiten“.

  1. „Wie viel Uhr es ist? Ich glaube, es ist drei Uhr.“