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Titel: Die Lotosblume
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 184
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[173]

Lotosblume.
Originalzeichnung von G. Marx.

Der Mond, der ist ihr Buhle;
Er weckt sie mit seinem Licht,
Und ihm entschleiert sie freundlich.
Ihr frommes Blumengesicht.

Heinrich Heine.

[184] Die Lotosblume (vergl. Abbildung auf Seite 173) ist ein botanisch und mythologisch gleichermaßen interessanter Gegenstand, welchen Poesie und bildende Kunst vielfach in ihr Bereich gezogen haben. Unser Stimmungsbildchen, das wir G. Marx’ geschickter Hand verdanken, zeigt uns die indische Seerose (Nelumbium speciosum) oder die prächtige Nelumbo im höchsten Schmuck. Die Alten nannten sie bald Rose, bald Lilie (Wasserlilie), je nachdem sie die Färbung oder die Form der Blätter oder Blüthen in Betracht zogen. Ihre Heimath ist in stehenden und in langsam fließenden Gewässern des südlichen und mittleren Asiens; sie kam aber auch als Lilie oder Rose des Nils vor, und ihr verdanken die Griechen und Römer die gepriesene „ägyptische Bohne“. Der Wurzelstock dieser vielbewunderten Pflanze kriecht wagrecht unter der Erde hin, knotig und röhrig, und aus den Knoten heben sich auf langen Stielen die Blätter über die Wasserfläche empor; ebenso treten die Blüthenstiele, den Blattstielen ähnlich, über das Wasser heraus. Die Blüthen sind groß (sechs Zoll im Durchmesser) und gewähren das reizendste Bild, wenn sie, weiß mit rosigem Anhauch, aus dem Wasser hervorschimmern. Der große grüne Fruchtboden der abgeblühten Blume ähnelt merkwürdig einem Gießkannen-Seiher, so zwar, daß die etwas vergrößerten Durchlaßlöcher mit je einem Samenkern besteckt sind.

Die Lotosblume ist die heilige Blume der Inder, des Ganges heiliger Schmuck, und in Aegypten wurde sie hoch gefeiert als Sinnbild der Befruchtung des Landes durch den Nil und zugleich der Unsterblichkeit; sie war der Isis und dem Osiris geweiht. – Die großartigste Rolle spielt der Lotos in der indischen Mythologie, wo die Lotos-Weltblume, deren Fruchtknoten der heilige Berg Meru, der Wohnsitz der indischen Götter ist, die vier Hauptblätter ihrer Blumenkrone als vier Hauptländer nach den Weltgegenden ausstreckt, während ihre übrigen Blätter als Inseln auf dem Ocean schwimmen. Dies erinnert uns an die Esche Yggdrasill unserer nordischen Mythologie, deren drei Wurzeln bekanntlich auch nichts Geringeres, als die Stütze der Welt sind. Man sieht, in der gewaltigen Phantasie ihres alten Götterglaubens zeigen Inder und Germanen sich ebenbürtig und stammverwandt.