Die Kurzsichtige und der Komet

Textdaten
<<< >>>
Autor: Max Dauthendey
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Kurzsichtige und der Komet
Untertitel:
aus: Geschichten aus den vier Winden, S. 241–280
Herausgeber:
Auflage: 4. und 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Albert Langen
Drucker: Hesse & Becker
Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
Die Kurzsichtige und der Komet

Es war in einem Winter, als die Astronomen von Europa einen bisher unbekannt gewesenen kleinen Kometen entdeckt hatten, der kurz nach Sonnenuntergang am Abendhimmel mit bloßen Augen zu sehen sein sollte, später in der Nacht aber hinterm Horizont verschwand.

In jenem Winter sah man täglich um die fünfte Abendstunde die Leute mit Operngläsern in den Händen auf verschiedenen freien Plätzen von Berlin sich zusammenrotten. Und einer versuchte vom andern die Stellung des neuen Kometen zu erfahren. Indessen der Wagenstrom laut und lärmend wie immer auf dem Straßendamm rollte, stockte auf den Bürgersteigen der Verkehr. Die Leute schoben und drängten und standen den Eilenden im Wege, und niemals haben zu gleicher Zeit nachts so viele Augen in den Sternen gesucht als in jenen Winterabenden in der Stunde nach Sonnenuntergang in Berlin und in ganz Europa.

Ich hatte mehrmals am Potsdamer Platz versucht, den Kometen für mich zu entdecken, aber die Lichtreklamen, die dort über den Kaffeehäusern und über den Dächern der Potsdamer Straße und der Königsgrätzer Straße gegen den Himmel auf- und abflammten, erschwerten das ruhige Betrachten des Nachthimmels.

Deshalb war ich eines Abends mit der elektrischen Straßenbahn nach dem südlichen Teil der Stadt zum Kreuzberg gefahren, um dort von den Parkanlagen des Hügels aus beschaulicher nach dem Kometen suchen zu können.

Als ich in der Nähe des Kreuzbergs aus der Straßenbahn stieg, bemerkte ich, daß viele Leute denselben Weg nahmen wie ich. Ganze Familien gingen in Reihen vor mir her. Auch laute Schulknaben, die sich zusammengerottet hatten, und stille Liebespaare stiegen dort in den Parkwegen hügelaufwärts und Hunderte kamen vom Kreuzberg herunter. Es war ein allgemeines Wandern, als wäre da oben ein Jahrmarkt.

Die Wege waren ziemlich dunkel; selten brannte eine Laterne. Schnee lag in dünner Schicht vor den finstern Tannengruppen, und der klare, eisige Winterhimmel war trotz der späten Stunde noch leicht hell und schimmerte zwischen den finstern Bäumen.

Dort, wo es in den Anlagen ganz dunkel war und Treppenstufen zwischen künstlichen aufgetürmten Stufen emporstiegen, halfen sich die Menschen mit lautem Gelächter weiter. Die Heruntersteigenden lachten, und die Hinaufkletternden lachten. Und man tastete sich aneinander vorüber, und die jungen Mädchen, in Pelzmäntel vermummt, kicherten, und die jungen Männer erschreckten sie mit plötzlichen Zurufen; und mancher zündete ein Streichholz an, um ein Geländer oder eine Treppenstufe zu beleuchten.

Ich hatte mich an meinem Spazierstock bergauf getastet und traf, bald oben, auf der Höhe des Hügels unter den Bäumen eines verschneiten Grasplanes wohl hundert Menschen, die über die Häuserwelt von Berlin wegsahen und, gen Westen gewendet, den Himmel absuchten, wo die Sonne untergegangen war und ein Stückchen vom zunehmenden Mond blinkte.

Mir kam es aber vor, als ob keiner den Kometen wirklich fände, alle aber ihn im Geiste sahen. Und da sie ihn heftig gern zu sehen wünschten, deuteten sie auch alle nach einer Richtung, wo hier und da ein Stern blitzte, und jeder vermeinte, in diesem oder jenem Stern den Kometen zu sehen. Ich glaube, jeder fand sich seinen eigenen Kometen. Die, die keinen am Himmel entdeckten, fanden ihn sicher auf der Erde. Denn es streifte im Dunkeln manch blitzendes Auge umher. Alle Menschen hier hatten den einen Zweck, herumzustehen, und manche durften sich anreden und ihrer Redelust Luft machen und ihrer Wissenslust und ihrem Gefühlsdrang Raum geben beim Schauen in den aufrichtigen Nachthimmel, auf diesem Hügel, der da im weiten steinernen Häuserkranz Berlins wie eine Insel zwischen Wellenkämmen lag.

Man lieh sich gegenseitig Gläser und Brillen und Fernrohre. Man half sich, im nächtlichen Garten des Himmels spazierenzugehen, wobei die Augen als Füße dienten, und man unterstützte sich gegenseitig hilfreich im Lustwandeln am Nachtfirmament.

Manche Pärchen sonderten sich ab und setzten sich trotz Kälte und Schnee auf einsame Bänke, die da auf der Hügelhöhe standen.

Einige Knaben bildeten Gruppen, einzelne rauchten verbotene Zigaretten, und die anderen leisteten ihnen neidisch Gesellschaft.

Ältere Herren im Kreise von Bekannten erzählten von früheren Kometenjahren, und auch Fremde stellten sich um sie herum und gaben ihre Weisheit dazu.

Von der Stadt sah man nur einige mattgelb erleuchtete Straßenzüge mit unzähligen glitzernden Fenstern. Aber eigentlich fühlte man von der großen Stadt hier oben nichts mehr. Berlin war nur noch ein gespenstiger Körper rund um den Hügel, ein Körper, der sich ins Unendliche verlor und hier und da aus seinen Poren Feuerstaub zu atmen schien.

Ich hatte so eine Weile in Betrachtung der Stadt, der Menschen und des Himmels mich an meinem Stock gelehnt, den ich wagrecht gegen den Stamm eines Kiefernbaumes gestemmt hatte.

Vor mir lichtete und verdichtete sich das Gedränge der Menschen. Nur der Himmel über mir blieb immer gleich klar und unbeweglich.

Ich stellte mir eben vor: so aller Berufe entkleidet, so gleichgemacht und von dem einen einzigen Gedanken der Ewigkeit und Unendlichkeit entrückt, müßten auf irgendeinem Eiland, wenn es das gäbe, die Schatten der Gestorbenen umhergehen, aufgestiegen in Höhen, wo sich keine Weltunrast mehr findet, und hingegeben einzig dem Betrachten der Ewigkeit in uns und um uns …

Schatten gingen und neue Schatten kamen über den weißen, leicht beschneiten Grasflächen. Menschen lösten sich aus Bäumen, und andere schienen in Bäume zu verschwinden.

Der Schnee, der fein bläulich schimmerte wie eine Phosphormasse, schien mir aus weißen, eisigen Blüten zu bestehen, den Blumen der Vergessenheit, die diesem Eiland im Weltraum unklares Licht gaben, und über denen die Schatten der Menschen sich lautlos begegneten.

Sobald wir vergessen können, sind wir selbst nicht mehr und werden unendliches Gefühl ohne Wissen …

Wie ich noch diesem Gedanken nachhing, sah ich eine Dame, ein wenig vorgebeugt, mit unsicheren kleinen Schritten über den Schnee kommen, und ich erkannte sie sofort, trotzdem ich nichts sah als den schwarzen Schattenriß ihrer Gestalt. Sie war aus einer dunklen Baummasse hervorgetreten, und wie ein Teil des Dunkels erinnerte sie mich an Geschehnisse, an Herzenserlebnisse, die in meiner Vergangenheit lagen, in jener gespenstigen Vergangenheit, die wir im Rückblick Jugend nennen.

Wer kann aber sagen, daß er jemals altert!

Die zierliche kleine Dame kam näher, und ich sah, wie sie sich bückte. Zu beiden Seiten ihrer Füße stand je ein kleiner Hund, und sie band diese beiden Tierchen an einen Riemen. Die Tiere liefen dann aneinandergekoppelt vor ihr her, indessen sie die Riemenschnur in der Hand hielt.

Sie kam gerade auf den Baum zu, an dessen Stamm gestützt ich meinen Stock hielt. Mir schien es, als wollte sie die Hunde an den Baumstamm anbinden.

An ihrem Gang und ihrer Art merkte ich, daß sie noch immer sehr kurzsichtig war, und ich erinnerte mich jetzt, daß sie schon viele Abenteuer infolge dieser starken Kurzsichtigkeit hatte erleiden müssen.

Ich wollte abwarten, bis die Dame ihre Hunde an den Baum gebunden habe, und wollte dann zu ihr treten und sie begrüßen.

Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen, seit langen Jahren uns aus den Augen verloren, und vielleicht wäre es gar nicht gut, wenn ich die beinah Vergessene begrüßen würde. Vielleicht würden die Erinnerungen, die wir aufwühlen mußten, Martern werden.

Man lernt sein eigenes Wesen niemals ganz kennen und weiß niemals, wie tief die Wunden zuheilen. Wir wissen auch nicht, ob wir Unheilbares in uns tragen, oder ob wir unverwundbar sind. Solange wir atmen in diesem warmen Leibe, den wir uns aufgebaut haben, studieren wir diesen Leib, von dem wir wissen, daß er nur künstlich und vergänglich ist. Aber wir schaudern oft im geheimen vor seinem Dasein, weil unser Leib uns ebenso fremd bleibt wie unser ewiges Teil. Weil der Leib plötzlich im Blut Sehnsüchte wie Abgründe öffnen kann.

Gottlob, daß Leib und Seele nicht mit Zahlen, nicht mit Gesetzen, nicht mit Maßstäben, nicht mit Erfahrungen zu begreifen und zu ergründen sind. In seiner Unbegreiflichkeit ergänzt der sterbliche Teil den ewigen Teil.

Ich wußte nicht, sollte ich jene Dame grüßen oder sollte ich ihr ausweichen. Ich wollte eben meinen Spazierstock, den ich in der Höhe meiner Hüfte wagrecht gegen den Baumstamm gestellt hatte, zurückziehen und wollte einige Schritte weitergehen.

Da sehe und fühle ich erstaunend, daß die Dame ihre Foxterrier an meinen Spazierstock, den sie wohl für einen Baumast hielt, festband.

Ich hielt den Stock jetzt belustigt still, während mich der eine Hund beschnüffelte und der andere an seine Herrin hochsprang.

Diese war ganz in ihre mühsame Arbeit vertieft und band die Riemenschnur um meinen Stock zu einem festen Knoten. Vorher hatte sie ganz flüchtig mit ihrer behandschuhten Hand meinen nicht glatten, sondern etwas knorrigen Stock abgetastet und sich überzeugt, daß er fest genug war, um die beiden Hunde zu halten.

Viele Leute kamen und gingen. Ich fiel der Dame nicht weiter auf, sie hielt mich eben für einen der vielen Herumstehenden, die nach dem Kometen suchten.

Wie seltsam war dieses Wiedersehen! Tragisch-komisch, wie alle kurzsichtigen Abenteuer jener Dame.

Ich sah, daß sie ein Opernglas umhängen hatte, und zugleich baumelte an einer langen Kette über ihrem Mantel ein Lorgnon, das ich so gut aus früheren Jahren kannte.

Die Dame entfernte sich jetzt einige Schritte, nachdem sie ihren Hunden geboten hatte, sich niederzulegen.

Die Tiere aber gehorchten nicht gleich. Sie zerrten an der Schnur, und ich mußte mich mit meiner ganzen Kraft mit dem Stock gegen den Baum stützen und hatte alle Mühe, meinen Spazierstock festzuhalten.

Sie aber sah nichts anderes als ihre Hunde. Sie rief ihnen nochmals zu, und da sie glaubte, daß sie sie an einem Baumast festgebunden, ging sie weiter, wobei sie ihr Opernglas aus dem Lederbehälter nahm.

Ich kannte die Hunde beim Namen, und als die Dame weit genug über den Schnee fortgegangen war, flüsterte ich den Tieren ihre Namen zu. Sie sahen erstaunt nach mir und stellten das gemeinsame Kläffen ein, beschnüffelten mich nochmals, wedelten ein wenig belustigt mit ihren Schweifstummeln und setzten sich still zu meinen Füßen nebeneinander.

Ich nahm mir vor, die Terrier festzuhalten und meinen Stock einen Baumast vorstellen zu lassen, bis die Hunde von der Kurzsichtigen wieder abgeholt wurden.

Ich sah die zierliche Gestalt der Dame sich am Rand der Hügelfläche gegen den Nachthimmel abzeichnen und sah, wie sie abwechselnd das Lorgnon nahm und dann wieder das Opernglas, um unter den Menschen zu suchen und unter den Sternen am Himmel.

Es war eine Unruhe über ihr, die mir von ihrer Kurzsichtigkeit auszugehen schien. Und während alle Leute den Kometen im Westen finden wollten, hatte sie sich allein nach der östlichen Himmelsrichtung gewendet, wo sie den Kometen sicher niemals erblicken konnte. –

Wir hatten uns vor Jahren auf eine sonderbare Weise kennen gelernt.

Ich saß damals eines Tages auf der Terrasse des Café Josti am Potsdamer Platz. Es war an einem Nachmittag zur Pfingstzeit. Frühlingslebhaftigkeit war über allen Menschen. Blumenverkäuferinnen mit Flieder, Schneeballen und Pfingstrosen standen mit ihren breiten Körben draußen vor der Terrassenbrüstung neben den Zeitungsverkäufern. Damen mit neuen Sommerhüten und Herren mit neuen Strohhüten spazierten, eilten und schlenderten vorüber.

Die langen Reihen der Straßenbahnen, die Autos und Lastkarren stockten manchmal, wenn einer der vielen Polizisten an den breiten Straßenmündungen die weißbehandschuhte Hand hob.

Ich sah zufällig über den Platz hin und bemerkte, daß ein Schutzmann eine junge Dame, die mit zwei Foxterrier den Fahrdamm überschreiten wollte, herübergeleitete, und daß die Dame, am Trottoirrand angekommen, ihr Portemonnaie zog, um den Schutzmann ein Trinkgeld zu geben.

Die Umstehenden lachten. Der vielbeschäftigte Schutzmann aber grüßte nur kurz und ließ die Dame stehen. Diese erkannte die Verlegenheit, in die sie den Schutzmann und die Umstehenden gebracht hatte, und darüber etwas ratlos, gab sie das Geldstück, das sie nun einmal in der Hand hielt, einer Blumenverkäuferin.

Diese meinte natürlich, die Dame wolle eines ihrer kleinen Moosrosensträußchen kaufen, und beeilte sich, ihr einen Strauß aus ihrem Korb zu geben. Indessen schritt aber die Kurzsichtige schon zum Eingang der Terrasse des Cafés. Die Blumenverkäuferin wußte nun nicht, wem sie das Sträußchen geben sollte, und gab es einem Herrn, der den Verkauf beobachtet hatte, und bat ihn, der Dame nachzueilen.

Der Herr lachte und holte die Dame gerade am Eingang des Cafés ein. Dort zog er höflich den neuen Strohhut, verneigte sich und reichte der Kurzsichtigen den kleinen Rosenstrauß. Sie sah den Herrn erstaunt von der Seite an. Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ließ sie ihn mit den Blumen stehen, denn sie hielt ihn augenscheinlich für einen Zudringlichen und glaubte wahrscheinlich, die Überreichung des Sträußchens bezwecke eine Annäherung. Dann stieg die Dame die wenigen Stufen zur Caféhausterrasse empor, und die Foxterrier, die in der Hitze mit offenen Mäulern stoßweise atmeten, zogen die Dame seltsamerweise nach meinem Tisch hin.

Vielleicht hatten die Terrier mein Interesse, das ich an ihrer Herrin nahm, in Fernwirkung empfunden. Denn ich hatte die Ankommende zwischen, über und neben den Köpfen der um mich Sitzenden mit meinen Augen aufmerksam verfolgt.

Und nun saß sie nach einer Weile neben mir. Die Hunde lagen unter dem Tisch. Sie entnahm einer Handtasche ein kleines Taschentuch und säuberte eifrig die Gläser ihres Lorgnons.

Sie war unauffällig geschmackvoll gekleidet. Ich erinnere mich, daß ein großer, brauner Strohhut mit sehr breiter Krempe mir ihr Gesicht verdeckte, das ich nur einen Augenblick vorher gesehen hatte. Es war mild und blaß, und zwei dunkelbraune Augen schauten aus ihm in die Welt, ohne die Welt genau zu sehen.

Die Dame kam mir damals vor, als ginge sie in einer Dunkelheit und müsse sich im Gehen und Handeln mehr auf ihren Instinkt als auf ihre Augen verlassen.

Sie hatte bei dem vorüberrennenden Kellner eine Limonade bestellt. Der Kellner hatte mir eben auch meine Limonade gebracht. Ich las dann aber in meiner Zeitung weiter und wurde für ein paar Augenblicke von einem Artikel gefesselt. Als ich wieder aufsah, trank die Kurzsichtige neben mir meine Limonade aus meinem Glase.

Ich rührte mich nicht und ließ die Dame im Glauben, daß das ihre Limonade war. Bis der Kellner kam, hatte sie das Glas ausgetrunken. Und als er die bestellte Limonade vor sie hinsetzte, sah sie ihn erstaunt an, nahm ihr Lorgnon vor die Augen und bemerkte nun auch mich. Aus ihren Bewegungen konnte ich ersehen, wie sie sich über sich ärgerte. Ich dachte, sie würde mir jetzt ihre Limonade anbieten und eine Entschuldigung vorbringen. Sie aber ließ ihr Lorgnon fallen, zuckte mit der einen Schulter, legte rasch Geld aus ihrem Portemonnaie auf den Tisch und murmelte dabei: „Das ist doch unverschämt.“ Dann stand sie mit einem Rucke auf, zog ihre Hunde, die sich eben zum Schlafen hingestreckt hatten, hinter sich her und verließ offensichtlich geärgert die Terrasse.

In der Schnelligkeit hatte sie nicht bemerkt, daß ihr Taschentuch von ihrem Schoß unter den Tisch gefallen war. Ich war aber durch den Ausspruch „Das ist unverschämt“ so verwundert, daß ich mich nicht gleich bücken mochte. Dann aber belustigte mich das Ganze. Ich nahm das Taschentuch an mich, und als der Kellner kam, fragte ich ihn, ob er die Dame kenne, die eben da gesessen.

„Ja,“ sagte er, „sie hat ein paar Mal morgens ihren Kaffee hier getrunken. Sie scheint sehr zerstreut zu sein. Neulich hat sie in Gedanken unsere Getränkekarte beim Aufstehen mitgenommen, und als einer von uns sie darauf aufmerksam machte, zeigte es sich, daß sie geglaubt hatte, ihr Notenheft in der Hand zu halten. Sie ist Musikschülerin, und ich sah sie auch schon öfters mit einem Geigenkasten vorübergehen. Sie muß hier in der Nähe wohnen.“

Ich hatte das Taschentuch zu mir gesteckt und mir vorgenommen, es der jungen Dame selbst auszuhändigen, wenn ich sie einmal wieder sehen sollte.

Gleich am nächsten Nachmittag, ungefähr um die selbe Stunde, traf ich die Kurzsichtige wieder. Diesmal war sie ohne ihre Hunde.

Sie stand an dem Schaufenster eines Photographen und betrachtete durch ihr Lorgnon die Bilder. Der Kasten befand sich dicht an einer Straßenecke.

Ich war auf der anderen Seite der Straße und mußte einige Automobile vorüberfahren lassen, ehe ich den Fahrdamm überschreiten konnte. Als ich dann durch das Wagengedränge hinüberkam, sah ich, wie die Dame, immer noch mit dem Lorgnon vor den Augen, um die Ecke der Straße ging. Dort mußte sich ein zweiter Photographenkasten befinden, denn sie sah mit voller Aufmerksamkeit gegen das Haus.

Ich zögerte einen Augenblick, ihr sofort zu folgen, und stellte mich vor die Bilder an den Kasten, vor dem sie vorher gestanden. Mein Herz klopfte ein wenig, als ich überlegte, mit welchen Worten ich ihr das Taschentuch überreichen sollte hier an der Straßenecke. Wahrscheinlich würde sie mich gar nicht anhören, wenn ich mich verbeugen und meinen Hut ziehen würde. Vielleicht würde sie mich kurz angebunden stehen lassen, wie sie den Herrn neulich mit dem von ihr selbst bezahlten Rosenstrauß hatte stehen lassen.

Nur wenige Augenblicke überlegte ich das alles und stellte mir vor: wenn ich jetzt um die Ecke des Hauses treten würde, wollte ich mich zuerst neben sie stellen und die Widerspiegelung ihres Gesichtes in dem Schaukasten ein wenig beobachten, ehe ich sie anspräche. Ich konnte sehen, daß sie noch dort stand, denn ich sah die Spitze ihres grünseidenen Sonnenschirms.

Zugleich bemerkte ich aber jetzt, daß die meisten Leute, die an der Dame vorübergegangen waren und um jene Straßenecke bogen, sich erstaunt, verblüfft oder belustigt lachend nach ihr, die nur mir noch verborgen war, umsahen.

Es war doch nicht möglich, daß sie alle diese Leute kannte! Auch sah ich nicht, daß ein einziger von ihnen grüßte oder gegrüßt hatte. Einige sogar kehrten um, und ich sah an den Schatten, die über den weißen Asphalt der Straße fielen, daß sich Menschen dort ansammelten, wo sie stand.

Was ist da nur so Urkomisches an dem Schaukasten des Photographen zu sehen, fragte ich mich.

Ich trat nun um die Ecke des Hauses. Da war gar kein Photographenkasten an der Wand. Da war auch kein Plakat, keine Inschrift. Da war nur eine leere Mauer, eine einfach gekalkte Wand, an deren Mörtel für mich nichts zu sehen war. Aber vor der Wand stand jene Dame, die ich suchte, mit ihrem Lorgnon vor den Augen und sah so hin und her an der Wand, ein wenig hinauf, ein wenig zur Seite, ebenso wie sie es vorher vor dem Schaufenster getan hatte.

In einigem Abstand hinter ihr waren die Leute stehen geblieben, vorübergehende Herren und Damen, Dienstboten und Arbeiter, die sich mit Gesten und Blicken stumme Zeichen machten.

Ich begriff nun: die Kurzsichtige mußte tief in Gedanken sein, und weil sie an der einen Seite der Ecke vorher Bilder betrachtet hatte, schien sie auch hier Bilder erwartet zu haben, und schien im Geist auch solche zu sehen.

Das Ganze spielte nur wenige Sekunden. Dann schien die Dame sich bewußt zu werden, daß die Wand leer war.

Auf diesen Augenblick mußten alle Umstehenden gewartet haben. Mit demselben Ruck, mit dem die Kurzsichtige gestern vom Tisch aufgestanden war, trennte sie sich plötzlich von der leeren Wand, erleuchtet von einer schreckhaften Erkenntnis ihrer Zerstreutheit. Dann schob sie das Lorgnon zusammen und schritt energisch an den Leuten vorbei, in Flucht vor dem grausamen Lächeln der anderen. Sie überquerte den Fahrdamm und trat drüben mit demselben Ruck und Eifer in einen Schreibwarenladen ein.

Nun wußte ich, ich würde ihr öfters begegnen, und ich beeilte mich nicht, ihr mit dem Taschentuch nachzulaufen. Ich hatte an ihrem Gang gemerkt, daß sie in dieser Straße zu Hause war. Sie schien immer zu dieser Stunde Besorgungen oder einen Spaziergang zu machen.

Ich hatte aber nicht gedacht, daß ich bald ihren Namen erfahren würde, ohne sie danach gefragt zu haben.

Einen Tag später merkte ich zu meinem Erstaunen, daß von dem Schreibwarenladen, in welchem jene Dame neulich eingetreten war, bis zu einem Haus nahe bei jenem, in welchem meine Wohnung lag, Visitenkarten reihenweise hingefallen lagen. Es regnete, und einige Karten waren von den Füßen der Straßengänger in den Rinnstein geschoben worden. Dort schwammen sie im Regenbach entlang der Straße, wie weiße, kleine Gondeln.

Als ich eben an der Haustüre, wo das letzte Visitenkartenhäufchen lag, vorübergehen wollte, öffnete sich diese und eine Frau trat heraus, die die Hausmeisterin jenes Hauses sein mußte. Sie schlug die Hände zusammen und sah schmunzelnd und lachend auf die verlorenen Karten. Und als sie mich auch staunen sah, erklärte sie mir, in ihrem Hause wohne eine kurzsichtige und sehr zerstreute Geigenspielerin. Die habe ein Paketchen Visitenkarten so ungeschickt nach Hause getragen, daß sie alle Karten auf dem Wege zwischen dem Laden und der Haustüre verloren habe. Die Schachtel, die seitlich zu öffnen gewesen, habe sie leer nach Hause gebracht, da die Gummischnur unterwegs zerrissen war, die das Päckchen zusammengehalten hatte. Die Dame schäme sich nun fürchterlich oben in ihrem Zimmer, und darum habe sie die Hausmeisterin gebeten, hinauszugehen und die Visitenkarten aufzulesen.

Ich benützte die Gelegenheit und gab der Hausmeisterin, als sie mir eine Visitenkarte gezeigt hatte, das Taschentuch, das die Dame neulich im Café hatte liegen lassen.

„O,“ sagte die Frau, „sie weiß nie, wohin ihre Taschentücher verschwinden. Aber über die ganze Stadt liegen ihre Taschentücher zerstreut.“

Dann fragte mich die Hausmeisterin, ob ich der Herr sei, der im Nebenhause die Atelierwohnung gemietet habe.

Als ich es bejahte, sagte sie, das kurzsichtige Fräulein habe die gleiche Wohnung in diesem Hause, Atelier, Schlafzimmer und Küche. Die Häuser seien Zwillingshäuser und hätten dieselbe Einteilung.

Da schoß es mir durch den Kopf, daß vor einigen Wochen jemand nachts um zwölf Uhr, als ich mich ausgekleidet hatte, um zu Bett zu gehen, am Schloß meiner Flurtür mit einem Schlüssel herumgestochert hatte. Erst hatte ich geglaubt, es wäre ein Einbrecher, dann war mir das Geräusch doch zu selbstverständlich erschienen, und ich dachte, es müßte sich jemand im Stockwerk geirrt haben. Als nun die Hausmeisterin weiter erzählte, daß die kurzsichtige Dame eines Nachts die Haustüren verwechselt hätte, wußte ich, daß es die Kurzsichtige gewesen war, die mich an meiner Tür erschreckt hatte.

Am nächsten Nachmittag war schönes Wetter, und ich stellte mich ans Fenster, um die Dame, wenn sie ausgehen würde, zu beobachten. Sie kam auch, wie ich mir gedacht hatte. Sie hielt in der einen Hand einen Brief, und dann sah ich, wie sie den Brief in ihre Seitentasche schob und langsamen Schrittes am Bürgersteig hinging bis zum nächsten Briefkasten. Dort aber steckte sie nicht den Brief in den Kasten, sondern ein kleines Futteral, das nur ein Brillenfutteral sein konnte.

Ich mußte herzlich für mich lachen. Ich sah der Dame weiter nach. Sie überschritt die Straße und ging in eine Konditorei, wo sie in einem stillen Hinterzimmer ungestört ihren Nachmittagskaffee trinken wollte.

Die Arme hat ihre Brille in den Briefkasten geworfen und wird sie sehr bald vermissen! Ich muß ihr die Brille wieder verschaffen und sie ihr in die Konditorei bringen.

Sie war wie eine hübsche kleine Japanerin, harmlos und gedankenvoll, scheinbar immer der Welt entrückt.

Ich nahm Hut und Stock und ging hinunter an den Briefkasten und wartete, bis der Radler auf seinem Postrad kam, der den Briefkasten in seine große braune Leinwandtasche leeren sollte. Ich sagte ihm, ich hätte aus Versehen mit einem Brief zusammen mein Brillenfutteral in den Briefkasten gesteckt.

Er begriff mich erst nicht, und ich mußte meine Rede wiederholen. Dann lachte er, und mich ein wenig geringschätzig von Kopf bis zu Fuß ansehend, wie man einen bedauerlichen Dummkopf betrachtet, händigte er mir, nachdem er den Kasten aufgeschlossen, ein viel gebrauchtes und abgenütztes Brillenfutteral ein, in welchem eine Brille klapperte.

In der Konditorei drüben fand ich die Dame dann bei einer Zeitung sitzend.

Ich näherte mich ihr. Sie hatte ihr Lorgnon schnell bei der Hand, und es kam mir vor, als habe sie mich erstaunlicherweise erkannt; und doch war sie ein wenig sprachlos, denn wir kannten uns ja gar nicht. Aber die Hausmeisterin mußte ihr erzählt haben, daß ich ihr Taschentuch aufgehoben hatte.

„Können Sie denn meinen Brief schon haben?“ fragte sie. Bin ich denn stundenlang hier gesessen und weiß es gar nicht? setzten ihre unruhigen Augen hinzu.

„Nein, Ihren Brief habe ich nicht bekommen. Aber ich habe Ihr Brillenfutteral, das ich Ihnen hier bringe.“

„Um Gottes willen, wo habe ich das wieder liegen lassen?“ stieß sie gequält hervor und sank auf einen Stuhl.

„Im Briefkasten lag es,“ sagte ich und zwang mich, ein möglichst harmloses Gesicht zu machen.

Sie begriff sofort, und mit jenem Ruck, den es ihr immer gab, wenn eine blitzartige Erkenntnis über sie kam, griff sie nach ihrer Manteltasche und tastete darin nach dem Brief, den ich knistern hörte.

Ohne aber den Brief aus der Tasche zu ziehen, bat sie mich, Platz zu nehmen, und berichtete mir, sie habe mir geschrieben und für das Taschentuch gedankt und zugleich um Entschuldigung gebeten, daß sie einen harten Ausdruck gegen mich gebraucht habe. Das Wort „unverschämt“ sei ihr aber entfahren, weil sie mich für jenen Herrn gehalten habe, der ihr unverschämterweise einen Rosenstrauß am Eingang des Cafés angeboten. Sie hätte im Brief dazugesetzt, daß sie sich persönlich entschuldigen wollte, wenn wir uns einmal begegnen würden.

Dann erzählte sie mir seufzend, daß ihre Kurzsichtigkeit und ihre Zerstreutheit ihr schon viel Schabernack gespielt habe.

Das wußte ich schon. Wir sprachen dann von etwas anderem, von Musik, von Tagesangelegenheiten, und waren nach einer Weile wie alte Bekannte geworden.

Die Konditorei hatte noch ein kleines Nebenzimmer, in welchem an einer Säule ein Springbrunnen plätscherte, um den Wassergläser standen, die zum Kaffee gereicht wurden.

Der Springbrunnen störte mich ein wenig mit seinem plätschernden Laut, der so einförmig wie ein Regenfall war. Es fiel mir auf, daß während unseres Gespräches die kurzsichtige Dame öfters leicht bekümmert zur Seite horchte, und dann sprach sie vom schlechten Wetter der letzten Tage.

Ich hielt das für eine Eigenart von ihr und dachte, sie leide vielleicht bei schlechtem Wetter an Gliederreißen oder etwas Ähnlichem.

Nach einer Weile stand ich auf und verabschiedete mich von ihr. Sie sagte, daß sie das Wetter erst abwarten wollte.

Ich glaubte, sie fühle ein heraufziehendes Gewitter kommen und fürchte sich zu Hause allein zu sein.

Ich ging, und als ich nach ein paar Stunden wieder am Laden vorüberkam – es war inzwischen kein Unwetter gewesen, schöner stiller Himmel und Sommerabend voll Sterne und Klarheit –, da stand der Konditor unter der Türe und blinzelte mir mit den Augen zu und sagte:

„Ihre Dame ist eben erst fortgegangen!“

„Welche Dame?“ fragte ich ganz in Gedanken und erstaunt.

„Nun, die Kurzsichtige, die im Hause neben Ihnen wohnt. Sie hat beim Geräusch von meinem Springbrunnen geglaubt, daß es regnet, und hat Kaffee getrunken und Chokolade getrunken und Limonade getrunken und alle Zeitungen gelesen, weil sie bei dem trostlosen Regenabend, wie sie sagte, nicht zu Hause sitzen wollte, und weil sie ein Kleid anhatte, von dem sie behauptete, daß es von den Regentropfen Flecken bekommen könnte. Dann hat sie gegessen und getrunken und gelesen. Endlich hat sie einen meiner Gehilfen zu sich gerufen und hat ihn zu ihrer Hausmeisterin hinübergeschickt und hat sich ihren Schirm holen lassen. Die Frau konnte gar nicht begreifen, warum das gnädige Fräulein bei dem schönen klaren Abend einen Schirm nötig habe. Wir waren ebenfalls sehr erstaunt, bis die Dame beim Fortgehen zur Ladentür kam und verwundert entdeckte, daß kein Tropfen Regen fiel. Dann ist sie aber ganz wütend über sich selbst fortgerannt, und war wahrscheinlich ärgerlich, daß sie den schönen Abend im Laden verbracht und den plätschernden Springbrunnen für einen Regen gehalten hatte.

Sie lebte das Leben auf ihre eigene Weise. Und als ich sie einmal befragte, ob sie sich nicht fürchte, überfahren zu werden, wenn sie so in Gedanken sei, sagte sie: „Nein, ich habe meinen eigenen Gott, dessen Schutz ich mich immer empfehle.“

„Was ist das für ein Gott?“ fragte ich.

„Der Gott der Idioten,“ sagte sie schmunzelnd und kicherte ein feines Lachen, das ihr sehr gut stand.

Unter anderem war ihr auch einmal passiert, daß sie nach einem Mittagessen in einem Restaurant beim Fortgehen einen großen silbernen Löffel senkrecht vor sich hergetragen. Und als der Kellner sie aufmerksam gemacht, daß sie ja einen silbernen Löffel mitnähme, war sie zu Tod erschrocken gewesen, denn sie hatte geglaubt, sie halte den silbernen Griff ihres Sonnenschirms in der Hand.

Als ich sie dann zum letztenmal sah, es war an einem Hochsommerabend, da ich von einem Ausflug heimradelte, begegnete sie mir in unserer Straße. Sie schien sehr in Hast zu sein, als wenn sich wieder etwas ereignet hätte, was sie kopflos machte.

Ich ließ meine Fahrradklingel trillern, vielleicht etwas heftiger als sonst, da ich die Dame zum Aufschauen zwingen wollte, um sie grüßen zu können. Aber mein Schrecken war groß. Kaum, daß meine Glocke schrillte, lag die junge Dame flach auf der Erde wie umgeklappt, als wenn ein unsichtbares Fahrrad über sie fortgeradelt wäre.

Ich sprang ab und half ihr auf und entschuldigte mich, sie erschreckt zu haben.

Sie war tief in Gedanken gewesen, sagte sie, und das laute Klingeln schien ihr so nah, daß sie sich geduckt hatte, ausgeglitten und gefallen war mit dem Gefühl, sie sei überfahren worden.

Nachdem sie sich aufgerichtet und ein wenig erholt hatte, erklärte sie mir, sie wäre so schreckhaft, weil oben bei ihr ein betrunkener Mensch auf der Treppe läge. Sie wolle morgen aufs Land reisen und habe ihren Koffer gepackt, und sie würde erst im Herbst in die Stadt zurückkehren. Sie fürchtete, der Betrunkene sei vielleicht ein Einbrecher gewesen, der sie bestohlen habe. Sie habe die Hausmeisterin rufen wollen, diese sei aber nicht zu Hause gewesen, und nun wäre sie fortgerannt, um an der nächsten Straßenecke einen Polizisten zu holen, denn jener liege quer über den Treppenabsatz, und sie getraue sich nicht, über ihn hinwegzusteigen.

Ich erbot mich mit ihr hinaufzugehen, um den Betrunkenen aufzuwecken und fortzuweisen.

Sie dankte mir, und wir gingen in ihr Haus, und atemlos horchend stiegen wir zusammen hinauf.

In dem Stockwerk, das unter ihrer Wohnung lag, sagte ich, sie solle warten. Mit meinem Stock tüchtig aufstampfend, um den unverschämten Eindringling zu stören, ging ich allein höher.

Nichts regte sich in der Dämmerung des Treppenhauses. Auf dem Treppenabsatz stand in der Ecke ein gepackter Korbkoffer und quer bei der Treppe, in einen Plaidriemen eingeschnallt, lag ein langer zusammengerollter Reiseschal. Diesen muß die Kurzsichtige für einen Menschen gehalten haben.

Ich rief ins Treppenhaus hinunter, und die Dame kam scheu und vorsichtig heraufgestiegen und wollte es mir nicht glauben, daß kein Mensch da wäre und daß nur ihr zusammengerollter Reiseschal sie erschreckt hätte. Sie behauptete, der Mensch wäre fortgelaufen.

Ich sah es ihr an, wie sie sich schämte, es sich selbst einzugestehen, daß sie wieder getäuscht worden sei. Ich fragte, ob sie den Menschen durch ihr Lorgnon gesehen hätte. Nein, sie hatte ihr Lorgnon vergessen, wollte aber trotzdem nicht zugeben, daß sie den Reiseschal für einen Menschen angesehen hatte. Dann bat sie mich, da ich mal oben war, einen Augenblick bei ihr einzutreten.

Drinnen in den Zimmern war alles in größter Unordnung. Wie buntes Gemüse lagen die Dinge durcheinander, und sie entschuldigte sich, daß sie mit dem Packen noch nicht fertig sei. Ich mußte zwischen verschiedenen Gegenständen in einer Ecke des Sofas Platz nehmen.

Dann ging sie in die Küche, wo die Terrier eingeschlossen waren, die ihr sehr zugetan schienen. Sie konnte aber den Knoten der Schnur, die an die Türklinke angebunden war, nicht aufmachen, und so ging ich hinzu und half ihr.

Mein Blick fiel zufällig, während ich den Knoten löste, auf einen Kohlenkasten, der da stand, und ich wurde von ein paar seltsam blauen Papieren, die dort lagen, angezogen. Es schienen zerknitterte Geldscheine zu sein. Ich hob dann auch wirklich ein paar Hundertmarkscheine auf, die, wie sich herausstellte, das ganze Reisegeld der Dame waren. Das Geld hatte sie vorher erst von der Bank geholt. In der Meinung, es seien alte blaue Briefumschläge, hatte sie die Geldscheine in der Hast des Packens fortgeworfen, während sie den leeren Briefumschlag sorgfältig in ihre Handtasche gesteckt hatte.

Nun begann sie vor Schrecken zu weinen, und wie zu ihrer Entschuldigung sagte sie:

„Jemand hat mir nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Kopf gestohlen.“

Später, als sie mir sehr schön auf ihrer Violine vorgespielt hatte, sagte ich ihr, sie müsse mir das Bild dessen zeigen, der sie dem Gott der Idioten ausgeliefert habe.

Sie zeigte mir das Bild eines jungen Kapellmeisters, der außer einem großen Haarbüschel, der ihm in die Stirn hing, nichts besonderes zu bieten schien. Und ich war sicher, daß auch hier, in der Liebe zu dem Musikanten, ihre Kurzsichtigkeit ihr einen Streich spielte. Sicher liebte sie mehr die unklare Vorstellung, die sie sich von dem Menschen machte, als das klare Bild des Mannes selbst, das sie niemals sehen konnte.

Ich war eifersüchtig auf diesen Haarmenschen, das fühlte ich, und ich fühlte auch, wie leicht es sein würde, diesen Nebenbuhler zu verdrängen, der, wie mir schien, seine Rolle im Herzen der jungen Dame bereits ausgespielt hatte. Ich tat, wozu mich mein Herz drängte, und warb von dieser Stunde an um jenes Mädchen. Ich folgte ihr nach aufs Land, wo sie den Sommer verbrachte, und im nächsten Winter besuchte ich in Berlin mit ihr Konzerte und Vergnügungen.

Nachdem wir glückliche Monate verlebt hatten, in denen ich ihre Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit zuerst als eine belustigende Lebenswürze genossen hatte, wurde ich allmählich von dem Doppelleben, das sie führte, nervös, denn es war auf die Dauer unheimlich, wieviel Zeit und Lebenskraft sie aufwenden mußte, um die Abenteuer zu überstehen, die ihr ihre Zerstreutheit und Kurzsichtigkeit bereiteten. Und Tage reichten oft nicht aus, gut zu machen, was sie in Sekunden der Zerstreutheit harmlos sich und anderen angetan hatte.

Sie ging später auf Konzertreisen, und wir schrieben uns immer seltener. Ohne daß wir uns Vorwürfe machten, fühlten wir beide, daß die Zeit unserer Innigkeit vorüber war. Die junge Dame fand viele Verehrer, denn sie war liebreizend und von heiterer Gemütsart und wurde nicht einmal verstimmt, wenn sie an ihre Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit erinnert wurde. –

Nun stand sie dort, nicht weit von mir, im Schnee und suchte den Kometen, der im Westen stand, mit ihrem Opernglas im Osten. Und ich hielt ihre beiden Terrier, die zitternd zu meinen Füßen saßen, an meinem Spazierstock, den sie für einen Baumast gehalten hatte, fest.

Bald aber bemerkte ich, daß meine Freundin ihr Opernglas gar nicht mehr zum Himmel richtete, sondern daß sie den Hügelabhang hinuntersah, wo immer noch einzelne Menschen bergauf stiegen.

Während ihre Augen noch suchten, trat die dunkle Gestalt eines jungen Mannes an ihre Seite. Er hielt einen Schneeballen in der Hand. Er schien sie zu begrüßen und schien der zu sein, den sie mit ihrem Opernglas im Himmel und auf Erden gesucht hatte. Er streckte ihr den Schneeballen hin, den sie in ihrer Kurzsichtigkeit für seine Hand hielt, worüber er laut auflachte. Worauf sie den Schneeballen nahm und ihm denselben vertraulich an die Brust warf.

Da zog ich meinen Stock vom Baum zurück und streifte den Riemen, an denen die Hunde gebunden waren, vom Spazierstock ab und sagte zu den beiden Tieren: „Lauft!“

Die munteren Tiere verstanden mich sofort und sprangen kläffend zu ihrer Herrin. Ich ging indessen langsam zu einer Bank, wo ich mich niedersetzte.

Von der Kurzsichtigen hörte ich einen Ausruf des Erstaunens. Sie glaubte, die Hunde hätten den Baumast abgebrochen.

Der junge Mann lachte und rief laut: „Das glaube ich niemals. Du wirst die Hunde an die Luft angebunden haben.“

Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige geben mögen, da er so respektlos zu ihr sprach. Aber ich sagte mir, er wird wahrscheinlich mit ihr schon hundert ähnliche Fälle erlebt haben und hatte das Recht zum Lachen.

Nun hörte ich, wie die junge Dame sagte, sie wolle den Baumast ansehen. Er könne sich überzeugen. Der Ast müsse abgebrochen sein.

Ich sah, wie sie zum Baum ging und dort in die Luft fühlte, wo mein Stock gewesen. Aber da war in ihrer Handhöhe weder oben noch unten irgendein Zweig am Stamm. In doppelter Menschenhöhe erst setzten die Zweige der Tanne an.

Sie sah sprachlos am Baum empor und begriff jetzt erst, daß sie sich getäuscht haben müsse.

„Aber es war doch ein daumendicker Ast da,“ hörte ich sie versichern.

„Was du gesehen und gefühlt hast, braucht noch lange nicht ein Ast gewesen zu sein,“ höhnte der junge Mann.

„Es war ein Ast. Ich habe das Holz gefühlt. Wo ich bin, ist die Welt immer verhext,“ erklärte sie zuletzt. „Denke dir, was mir gestern wieder passiert ist!“

Sie kamen beide im Sprechen näher zur Bank, auf der ich mit hochgeschlagenem Mantelkragen und mit in die Stirn gezogener Pelzmütze saß und in den Himmel starrte. Ich brauchte bei ihrer Kurzsichtigkeit nicht zu fürchten, daß sie mich erkennen würde. Sie ließ sich in der Mitte der Bank nieder, kaum eine Handbreite von mir weg, während ihr Begleiter sich neben sie setzte.

„Gestern abend, als du nicht kamst, wollte ich mir die Zeit vertreiben, und da ich Appetit auf einen Pfannkuchen hatte und ich seit Ewigkeit keinen selbstgebackenen Pfannkuchen gegessen habe, ging ich aus, um alles zum Backen Nötige einzukaufen. Ich kaufte die Sachen gleich in allernächster Nachbarschaft, Milch, Mehl und Eier. Unterwegs kam ich an einem Postkartenstand vorbei, wo in kleinen offenen Kasten Ansichtspostkarten geschlichtet lagen. Ich bücke mich mit Milchflasche, Mehltüte und Eiertüte und gehe langsam an dem Kasten entlang und betrachte mir die Postkarten. Plötzlich höre ich einen glucksenden Laut und sehe, daß die letzten Tropfen meiner Milchflasche auslaufen. Ich hatte beim Entlanggehen an dem Kasten meinen ganzen Milchvorrat über die verschiedenen Serienfächer des Ansichtskartenverkaufes gegossen, denn der Kork hatte sich von der Flasche gelöst. Ich war außer mir vor Schrecken und rannte davon.

In meiner Aufregung presse ich aber unterwegs die Mehltüte und das Eierpaket fest an mich, um sie ja nicht zu verlieren. Bei meiner Haustür angekommen, scheint mir die Mehltüte unverhältnismäßig dünn geworden zu sein. Ich ahne nichts Gutes und bemerke auch zugleich hinter mir eine weiße Mehlfährte, die von der Postkartenhandlung bis zu meiner Haustüre führte. Die Tüte war geplatzt, und das Mehl war ausgelaufen. Ich warf die leere Tüte in den Rinnstein. Als ich oben in meinem Zimmer die Eiertüte öffnete, war nur noch eine gelbe Brühe und zerbrochene Eierschalen im Papier. Verzweifelt habe ich mich aufs Sofa gesetzt, habe gehungert und geweint und endlich musiziert.“

Diese letzten Worte sprach die Kurzsichtige zu mir, denn sie hatte wahrscheinlich vergessen, auf welcher Seite der Bank ihr Begleiter saß. Dann nahm sie ihr Lorgnon, und ich dachte schon, sie wolle sich klar machen, daß sie nach der falschen Seite hinsprach. Aber nein. Sie betrachtete meinen Stock, griff mit der Hand danach, immer noch meinend, daß ich ihr Begleiter sei und rief jubelnd:

„Da hast du ja den Baumast in der Hand! O, du Falscher, du hast ihn heimlich abgebrochen, damit ich glauben sollte, ich hätte mich geirrt.“

„Entschuldigen Sie, das ist mein Stock,“ erwiderte ich ruhig und stand auf.

Ich wußte, sie hatte meine Stimme erkannt, denn es wurde grabstill neben mir. Da rief der junge Mann, der während der ganzen Zeit mit dem Opernglas den Himmel abgesucht hatte, laut:

„Ich habe den Kometen gefunden!“

Ich hörte noch wie sie tief aufatmete und doppelsinnig sagte: „Ich habe auch einen entdeckt, trotz meiner Kurzsichtigkeit, aber er ging so schnell, wie er einmal kam.“