Die Kammgarnspinnerei zu Leipzig
Verlassen wir in westlicher Richtung Leipzig mit seinem ununterbrochenen, von lebhaftem Verkehr zeugenden Straßengewühl, so gelangen wir bald an den Eingang des freundlichen und allbeliebten Rosenthals und uns hier rechts wendend, erreichen wir nach wenig Minuten Pfaffendorf, an welchem die hier in der Nähe sich mit der Parde vereinigte Pleiße vorüberfließt und es von dem Rosenthal trennt.
Pfaffendorf ist eigentlich nur ein Vorwerk, welches schon im dreizehnten Jahrhundert bestand und 1213 von dem Markgrafen Dietrich dem Bedrängten dem von ihm in jenem Jahre gestifteten Thomaskloster geschenkt wurde. Von dieser Zeit an führt es auch vermuthlich seinen jetzigen Namen. 1223 bestätigte Kaiser Otto und 1228 Kaiser Friedrich diese Schenkung. Nach der durch die Einführung der Reformation in Leipzig bewirkten Aufhebung des Thomasklosters erkaufte 1543 der Rath zu Leipzig mit den anderen Klostergütern auch Pfaffendorf (für sämmtliche Klostergüter zahlte der Rath damals 83,342 Gulden, 11 Groschen, 3 Pfennige) und blieb seitdem im Besitz desselben. – In den Kriegsjahren befand sich hier ein großes Lazareth, welches aber am 15. October 1813, als in der Umgegend Leipzigs schon jener heiße Kampf begann, welcher die Vernichtung der französischen Oberherrschaft über Deutschland herbeiführte, in Flammen aufging, wobei die unglücklichen Kranken theils verbrannten, theils in den Fluthen der Pleiße ihren Tod fanden. 1830 brachte der Wollhändler Ferdinand Hartmann diese Besitzung käuflich an sich und errichtete daselbst die erste Kammgarnspinnerei in Sachsen.
Der ansehnliche, von der Pleiße bespülte Gebäudecomplex dieses Etablissements besteht aus
- drei Hauptgebäuden, in welchen Wollsortirung, mechanische Kämmerei und Spinnerei betrieben wird, und
- einem Nebengebäude zur Wohnung für Unterbeamtete.
[93] Freundliche Gärten umgeben auf der Vorderseite die Gebäude.
Die hier gesponnenen Kammgarne und Zephyrgarne finden ihren Hauptabsatz außer nach allen Gegenden Deutschlands auch nach Rußland und England.
Diese Gespinnste befanden sich auf den Industrieausstellungen zu Dresden, Berlin, Leipzig, London, München und Paris und es wurde deren Vorzüglichkeit auf den erst genannten vier Ausstellungen – in Dresden in den Jahren 1840, 1845 und 1850 – durch den ersten Preis und auf den letzten beiden durch den zweiten Preis anerkannt.
Die vollständig nach französischem und englischem System eingerichtete mechanische Kämmerei hat 39 Mule- und 25 Water-Spinnmaschinen, welche durch drei Dampfmaschinen in Bewegung gesetzt werden. Diese Maschinen sind zu 25, 50 und 80 Pferdekraft, letztere besteht in zwei Zwillingsmaschinen à 40 Pferdekraft.
Die Zahl der hier fortwährend beschäftigten Personen beläuft sich außer einem Commis und zehn Maschinisten auf 504.
Im Besitz des Etablissements ist ein Actien-Verein, für welchen die Herren A. M. Bußmann und A. Zeising die Procura führen.
Wie schon erwähnt wurde das Etablissement 1830 von Ferdinand Hartmann gegründet. Ihm trat sein Neffe, Herr Wilhelm Hartmann bei und beide Herren führten das Geschäft fort bis 1836, wo sie das Etablissement an einen sich in jener Zeit constituirenden Actienverein für 88,000 Thaler verkauften, dabei aber fortwährend als vollziehende Direktoren an der Spitze des Geschäftes fungirten. Seit dem 1842 erfolgten Ableben seines Onkels Ferdinand Hartmann befindet sich Herr Wilhelm Hartmann allein in der genannten Stellung. Außerdem besteht das Directorium noch aus vier, den angesehensten Handlungshäusern angehörenden Herren, deren amtliche Function aller drei Jahre wechselt; als vorsitzender Director befindet sich gegenwärtig der hannöversche General-Consul, Herr Gustav Moritz Clauß, Ritter mehrerer hohen Orden, an der Spitze des Etablissements. – Vergrößerungen des Geschäfts haben in den Jahren 1838, 1842, 1850 und 1855 Statt gefunden.
Der vollziehende Director Herr Wilhelm Hartmann, besitzt das Verdienst, in Gemeinschaft mit seinem verstorbenen Onkel Ferdinand Hartmann die Handkämmerei zuerst in die königlich sächsischen und preußischen Strafanstalten eingeführt zu haben, für diese, sowie für Errichtung feiner Handkämmereien in Sachsen-Altenburg, Anhalt etc. wurde derselbe durch fünf Orden von Sachsen, Preußen, Sachsen-Altenburg, Anhalt und Hannover ausgezeichnet.