Textdaten
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Autor: H. v. Götzendorff-Grabowski
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Titel: Die Kamerunerin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30–35, S. 512–515, 528–532, 540–544, 558–562, 575–579, 590–592
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Kamerunerin.

Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski.
1.0 Stürme und Stimmungen.

Draußen tobte ein heftiger Schneesturm, er warf spitzige Hagelkörner an die Scheiben, rüttelte an den Fensterläden und heulte allerlei unheimliches Kauderwelsch durch den Kamin ins Zimmer hinein; drinnen aber war’s traulich und hell und warm. Die beiden Männer rauchten bei einer Flasche Rheinwein gemüthlich ihre Nachtischcigarre, und die junge Frau des einen, des Hausherrn, nähte mit Emsigkeit an einem Puppenkleidchen, wobei ihr der andere, der Gast, träumerisch zuschaute.

„Sie thun unserm braven Hochheimer heute gar nicht die gebührende Ehre an, Freund Claudius,“ sagte Frau Edith endlich. „Ist es, weil ich nicht genug nöthigte? O, Sie würden das begreifen und entschuldigen, wüßten Sie etwas von den hundert und aberhundert Fragen und Sorgen, mit denen der Kopf einer Hausfrau und Mutter vierzehn Tage vor Weihnachten angefüllt ist!“

„Sie verkennen mich, Frau Edith. Ich bin zu sehr daheim bei Ihnen, als daß es mir gegenüber jener Formen bedürfte. Ich habe mich ja von Anfang an bei Ihnen wie zu Hause fühlen dürfen.“

„Dank für dieses wohlthuende Wort, Freund Claudius! Nun müssen Sie aber auch darnach handeln oder wenigstens beichten, warum heute Ihre Stirn so umwölkt, Ihr Blick so trübe, Ihre Neigung zum sonst ganz wohlgelittenen Abendtrunk auf Null herabgestimmt ist!“

„Ist es so? Davon weiß ich selbst nichts. Vielleicht macht es die Nähe des vierundzwanzigsten Dezember. Weihnachten ist ein Familienfest, da erwachen in dem Alleinstehenden liebe Erinnerungen und er erkennt klarer als zu jeder andern Zeit die Leere und Freudlosigkeit seines Daseins.“

„Ganz recht,“ fiel der Professor ein. „So empfand ich ehemals auch, aber bald suchte ich mir das einzig unfehlbare Heilmittel gegen derartige Anfechtungen. Wer hindert Dich, es ebenso zu machen, alter Junge?“

„Ja, warum denken Sie nicht endlich einmal ernstlich an die Wahl einer Lebensgefährtin, Sie armer ‚alleinstehender‘ Mann?“

Doktor Claudius schien die Beantwortung dieser Frage ziemlich schwer zu finden, denn er wollte nicht gleich mit der Sprache herausrücken.

„Ich verstehe mich nicht auf den Umgang mit Frauen,“ entgegnete er nach einer kleinen, gedankenvollen Pause. „Dergleichen muß in der Jugend gelernt werden, und mir ließ man niemals Zeit dazu. Ich mußte mich frühzeitig mühen, um in die Stellung, in die Verpflichtungen hineinzuwachsen, welche mir durch des Oheims Erbe, die Farbenfabrik, auferlegt wurden. Während meine Altersgenossen – darunter auch Du, Eberhard – sich im Ballsaal, im Minnedienst die ersten Sporen verdienten, saß ich über meinen Büchern oder chemischen Versuchen. Das Laboratorium war mein Salon. Das Studium der Farbentechnik mußte mir dasjenige des Frauencharakters, die Lehre von der stofflichen Zusammensetzung meiner Fabrikerzeugnisse jene über den Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht ersetzen. Im Fluge verging die Zeit, und eines Tages sah ich mich als den Besitzer von Hermannsthal. Die Leute nannten es eine ‚Goldgrube‘ und priesen mich glücklich, niemand erwog den Umstand, daß ich dieses Erbe mit meiner goldenen Jugend bezahlte! Ich hatte sie nicht genossen, sie war vorübergegangen wie ein harter Traum, und der Mann vermochte nicht nachzuholen, was der Jüngling versäumt hatte.“

„In gewissem Sinne kannst Du es dennoch, Claudius. Dein Herz ist jung geblieben. Und daß der schlanke Studiosus der Chemie zum stattlichen Doktor und Fabrikbesitzer geworden ist, sichert Dir ein um so wärmeres Willkommen beim schönen Geschlecht.“

„Laß es gut sein, Eberhard! Ich möchte etwaige Erfolge nicht diesen Aeußerlichkeiten verdanken. Außerdem haben die Frauen und Mädchen, denen ich hier begegne, wenig Anziehendes für mich. Ihr Lebenszweck ist das Vergnügen, ihr Ziel eine gute Partie, das will sagen: ein Freibrief für alles, was Geld kostet und außerhalb der Häuslichkeit, der eigenen vier Wände liegt. Oder meinen Sie, Frau Edith, daß eine von ihnen mit der Aufgabe, mein Stillleben durch ihre Anmuth, ihre sorgende Liebe zu verklären, einverstanden und zufrieden sein würde?“

„Eine aus der von Ihnen gezeichneten Spielart wohl kaum. Aber Sie können nicht leugnen, es giebt gottlob noch Mädchen, welche eine auf das Innenleben gerichtete Erziehung erhalten haben, welche gediegene Bildung mit schlichtem, häuslichem Sinne vereinigen und ihr Glück darin finden würden, Königin Ihres Herzens und Ihres kleinen Reiches zu sein.“

„Zugegeben! Allein auch Sie werden nicht sagen wollen, daß dieser weiße Rabe, dieser Wundervogel auf den Kasinobällen oder in den ästhetischen Theekränzchen unserer Stadt zu finden sei!“

„Dort so gut als anderswo! Auf welche Weise sollten heirathslustige junge Männer denn sonst zu Damenbekannrschaften gelangen?“

„Vielleicht gedenkt Claudius sich seine Zukünftige ‚auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege‘ zu gewinnen,“ sagte der Professor neckend. „Das wäre allerdings romantischer.“

„Eberhard!“ rief Frau Edith entrüstet.

„Warum denn nicht, Mäuschen? Schließlich ist ein Weg so gut als der andere, wenn das Glück mit dem Wanderer geht. Ein Glücksspiel, bei welchem alles gewonnen und alles verloren werden kann, bleibt die Ehe in jedem Fall.“

Frau Edith wurde ernstlich böse. „Wir lernten einander bei einer Landpartie des Cäcilienvereins kennen,“ sagte sie empfindlich, „und ich kann es durch zahlreiche Beispiele aus meinem Bekanntenkreise beweisen, daß die glücklichsten Ehen gerade auf derartige gesellige Vereinigungen zurückzuführen sind!“

„Das bleibt unbezweifelt, liebe Frau! Ebenso kann aber ich aus eigener Anschauung berichten, daß auch durch jene verpönten Zeitungsanträge – denen ich übrigens keineswegs das Wort reden will! – schon mancher zu seinem Glücke gelangt ist. Das Schicksal erwählt sich oft wunderbare Werkzeuge und Wege, um verwandte Seelen zusammenzuführen. Möge es auch unseren Freund, gleichviel auf welcher Straße, bald die Krone des Lebens finden lassen! Leeren wir darauf dieses letzte Glas!“

Die drei Kelche begegneten einander mit klingendem Ton und wurden auf einen Zug geleert. Dann verabschiedete sich Claudius.

Es hatte bereits zehn Uhr geschlagen und er wollte zu Fuß nach dem eine halbe Stunde von der Stadt entfernten Hermannsthal zurückkehren. Die breite, von Obstbäumen umsäumte Fahrstraße lief gerade darauf zu. Es wanderte sich gut durch die abendliche Einsamkeit. Der Sturm hatte nachgelassen, hier und da schimmerte ein Stern durch die zerrissenen Wolken. Claudius war tief in Gedanken. Das Gespräch dieses Abends hatte ihn erregt und eine besondere Saite in ihm zum Tönen gebracht. Ja, warum sollte nicht er so gut als andere eines Tages finden, was ihm noth that? Natürlich nicht im Gesangverein oder im [514] klassischen Lesekränzchen von Kronfurth, sondern anderswo – in der Welt draußen! Ein Mädchen von Herz und Geist, schlicht in Erscheinung und Wesen, ernst in der Auffassung des Lebens, fröhlich in der Erfüllung der Pflichten, fähig, in guten wie in bösen Tagen des Mannes treue, verständnißvolle Gefährtin und Beraterin zu sein! Wie wollte er ihr, dieser Verborgenen, Namenlosen, das Glück danken, welches sie ihm gab! Wie wollte er ihr Dasein reich und hell machen, wie sollte sie ihr Wesen frei ausgestalten dürfen, nur durch das eigene Gefühl gebunden und regiert! Herrliche Träume, an denen das sehnsüchtige Herz sich erwärmte! Aber selbst wenn die Namenlose irgendwo vorhanden war, welcher unter den zahllosen, die Erde kreuz und quer durchschneidenden Fahr- und Fußwegen führte zu ihr? Wenn sie war, wie er sie dachte und wollte, fand er sie auf dem großen Markte nicht! Viel eher saß sie gleich ihm in irgend einem einsamen Erdenwinkel und träumte den gleichen unerfüllbaren Traum. Aus derartigen Lebenslagen und Empfindungen mochten manche jener unzart oder überspannt erscheinenden Zeitungsanfragen hervorgehen, über welche dann die Welt, wie heute Frau Edith, hart und absprechend urtheilte. Er selbst hatte ja bis zu diesem Abend wie die Menge gedacht. Und im Grundsatze mußte seine Ansicht von der Sache auch stehen bleiben. Indessen der einzelne Fall sprach doch wohl für sich selbst und konnte unter Umständen eine besondere Beurtheilung beanspruchen.

Hier zerriß der Gedankenfaden; rauhes Hundegebell ertönte, und Claudius, aus seinem Traume erwachend, gewahrte, daß er schon in Hermannsthal angelangt war. Das Herrenhaus lag einige Minuten von den Fabrikgebäuden entfernt sehr malerisch am Saum eines prächtigen Laubwaldes. Es war ein großer, seltsamer Bau, dessen wunderliche Eigenart wohl mehr der Willkür des Urgroßvaters von Claudius als dem Plane des Baumeisters ihre Entstehung verdankte. Letzterer mochte durch den wenig verfeinerten Geschmack des Fabrikherrn in stille Verzweiflung versetzt worden sein, schließlich aber dennoch seine Künstlerehre dem klingenden Vortheil des Geschäftes geopfert haben. Und so erstanden denn die großen, alterthümlichen Bogenfenster, die rundkuppeligen Seitenthürme mit ihren vieleckigen Erkern, die breite, von steinernen Drachen bewachte Freitreppe, sie erfreuten sich noch heute ihres Daseins und gefielen – allen Gesetzen des reinen Stils und guten Geschmacks zum Trotze – ausnahmslos jedermann auf den ersten Blick.

Weniger gewiß ließ sich das von dem soeben auf der obersten Treppenstufe erscheinenden Herrn Florian Amadeus Kalbfleisch behaupten, obschon besagte Persönlichkeit in ganz Hermannsthal nicht anders als der „schöne Amadeus“ genannt wurde. Dieser schmeichelhafte Beiname hing ihm aus der Vergangenheit an und mochte einstens gepaßt haben – einstens, da die lange, dürre Gestalt jung und geschmeidig, das spärliche blonde Haar glänzend und voll, die gerade, spitze Nase noch nicht roth gewesen war; einstens, da Herr Florian Amadeus noch nicht daran dachte, von seinen künstlerischen Bedientenrollen auf einem leidlich guten Provinzialtheater zum prosaischen Diener des Besitzers von Hermannsthal herabzusteigen. Das „Herabsteigen“ war übrigens nur bildlich zu nehmen. In Wahrheit befand sich der schöne Amadeus heute und hier um vieles besser als in der sogenannten Ruhm- und Glanzperiode seines Lebens, in welcher es neben eingebildeten Triumphen wirklichen Mangel, wirkliche Entbehrungen an allen Ecken gegeben hatte. Das Schicksal wollte dem armen Burschen aufrichtig wohl, als es ihn eines Abends zu unrechter Zeit in einer Versenkung verschwinden ließ und damit seiner künstlerischen Laufbahn ein jähes Ende bereitete. Der Unfall hatte einen Beinbruch, dieser lebenslängliches Hinken zur Folge, und so sah der ehrgeizige und begeisterungsvolle Jünger Thalias seine Theaterlaufbahn vernichtet, sich selbst einer ungewissen Zukunft preisgegeben. Aber das Schicksal vollbrachte seine Arbeit nicht halb, es führte dem Rathlosen in dem damaligen Besitzer von Hermannsthal einen Schutzpatron zu.

Doktor Claudius der Onkel besaß wie mehr oder minder jeder seines Namens und Stammes eine angeborene Hinneigung zum Ungewöhnlichen, eine Vorliebe für alles, was abseits vom ausgetretenen Wege des Althergebrachten lag. Er hatte des schönen Amadeus schreckliches Geschick, auf offener Bühne mit einem Präsentierbrett voller Flaschen und Gläser urplötzlich von der Erde verschlungen zu werden, zufällig miterlebt und den in dem Lustspiel nicht vorgesehenen „Zauber“ nicht gleich den übrigen Zuschauern als einen guten Witz belacht, sondern sofort theilnehmende Erkundigungen eingezogen. Das Ergebniß derselben veranlaßte ihn dann, dem schönen Amadeus zunächst eine Unterstützung zutheil werden zu lassen und ihn schließlich, als er brotlos geworden war, in seine Dienste zu nehmen. Weder Herr noch Diener fanden jemals Anlaß, diese Schicksalsfügung zu beklagen. Dagegen erheiterte der ehemalige Komödiant die letzten Lebensjahre des kränkelnden Fabrikherrn durch seinen auf vergangenen „Künstlerfahrten“ eingeheimsten, unerschöpflichen Vorrath an lustigen Vorträgen und abenteuerlichen Theatergeschichten recht erheblich.

„Du bist wahrlich ein begabter Bursche,“ pflegte der alte Herr zu sagen, wenn er wieder einmal die wohlthätige Wirkung eines zwerchfellerschütternden Lachens an sich verspürt hatte, „und ich glaube gern, daß bei geeigneter Ausbildung etwas Besonderes aus Dir geworden wäre.“

„Es hat schon mancher trotz einer von Hause aus vernachlässigten Erziehung hohe Ziele erstrebt und auch erreicht, Herr Doktor,“ lautete gewöhnlich die Entgegnung; „so hoffe auch ich durch Kraft und Ausdauer –“

„Ja, ja – die ‚Nachteule‘, lieber Amadeus,“ unterbrach ihn dann wohl der alte Herr mit zustimmendem Kopfnicken, „die ‚Nachteule‘!“ Und obgleich das ein bißchen spöttisch klang, bildete es doch allemal das Stichwort, auf das hin der schöne Amadeus mit dem Auskramen seiner innersten Gedanken, Absichten und Pläne begann.

Die „Nachteule“! Das war sein Lebenstraum, war der Schlüssel, mittels dessen er sich dereinst die Pforten des Nachruhms zu erschließen hoffte.

„Noch nicht heute oder morgen, Fräulein Mertens, wissen Sie,“ äußerte er in mittheilsamen Augenblicken zu der Küchenbeherrscherin, seiner zweiten Vertrauten. „Ich habe gar keine Eile damit, denn Hermannsthal, wo mir des Doktors Bibliothek und vollauf Zeit zu den erforderlichen Studien zur Verfügung steht, das ist gerade der richtige Ort, um mein Volksschauspiel, ‚Die Nachteule‘, zu einer des Gegenstandes würdigen Vollendung ausreifen zu lassen.“

Ein Umstand – und gerade dieser bildete das heimliche Band, welches den schönen Amadeus fester als irgend ein anderes an Hermannsthal knüpfte – blieb unerwähnt: daß Doktor Claudius seine angebrochenen Wein- und Rumflaschen stets offen umherstehen und zum Ueberfluß auch noch den Kellerschlüssel frei an der Anrichte hängen ließ und so dem Dichter der „Nachteule“ die unschätzbare Gelegenheit bot, sich für sein schwieriges und anstrengendes Werk noch aus andern Quellen als den trockenen alten Lederbänden der Bibliothek Kraft und Begeisterung zu schöpfen!

Der Besitzwechsel auf der Fabrik veränderte nichts. Doktor Claudius der Neffe hatte den schönen Amadeus testamentarisch mit übernommen und stand auf dem besten Fuße mit ihm, wenn er auch keinen besonderen Sinn für Theatergeschichten und keinerlei Antheilnahme für das Gedeihen der „Nachteule“ an den Tag legte.

„Unser jetziger Herr ist nicht so poetisch veranlagt als der vorige,“ erklärte Amadeus gelegentlich der Königin des Küchenreiches. „Aber aus diesem Mangel darf ihm natürlich kein Vorwurf gemacht werden.“

„Natürlich nicht,“ erwiderte die Mertens ohne eine Ahnung, um welchen „Mangel“ es sich eigentlich handle. „Natürlich nicht! Und eine Frau wird er doch wohl trotzdem bekommen, Herr Amadeus, wie?“

„An jeden Finger eine, wenn er nur wollte! Scheint jedoch in dieser Hinsicht seinem Herrn Onkel nachzuarten. ‚Süß getrunken, sauer bezahlt!‘ sagte der in Bezug auf die Ehe und blieb ledig!“

Damit griff der schöne Amadeus zur Lampe, um dem heimkehrenden Gebieter entgegenzugehen. Es war der Abend, an welchem Doktor Claudius den Weg von Kronfurth nach Hermannsthal wie im Fluge zurücklegte, an dem ein lichter, lieblicher Traum von Zukunftsglück an seiner Seite ging! Der schöne Amadeus – er konnte in seiner Abendgewandung, einem gestrickten grauen Wams und einer dito Hausmütze mit Ohrenkappen, recht wohl für das Titelbild seiner dramatischen Dichtung gelten! – verscheuchte das Gesicht. Aber es kehrte zu mitternächtiger Stunde dem einsam wachenden Fabrikherrn in verdoppelter Lieblichkeit zurück.



[515]
2.0 Wenn die Vernunft spazieren geht!

Obschon zwischen Doktor Claudius und den angesehenen Bewohnern von Kronfurth das beste Einvernehmen bestand, hatten diese dennoch bisher vergebens einen engeren Verkehr mit Hermannsthal angestrebt. Trotzdem ließ man es an keiner Aufmerksamkeit für den Mann fehlen, der seinerzeit mit dem Antritt seines Erbes eine große Schenkung an Kronfurth verbunden und sich seitdem an allen gemeinnützigen städtischen Unternehmungen in freigebigster Weise betheiligt hatte. Wer so handelte, nahm Antheil an der Stadt und konnte ihr nicht lebenslang fern bleiben, sondern heirathete sich schließlich doch noch darin fest! Das war die stille Zuversicht sämmtlicher Väter und Mütter der weiblichen Jugend von Kronfurth.

Diese Jugend! Dem Doktor kam es vor, als sei sie dutzendweis in einer Puppenfabrik entstanden und dutzendweis nach dem gleichen Muster modern herausgeputzt worden. Alle Puppen von vierzehn bis zu vierzig Jahren trugen die neueste Mode zur Schau, leider aber nicht in einer dem Alter und Aeußern der Einzelnen entsprechenden Verschiedenheit, sondern völlig uniform, so daß eine gesellige Vereinigung der jungfräulichen Kronfurtherinnen an nichts so sehr gemahnte als an eine militärische Parade.

Ernst Claudius entsann sich eines Junisonntages, an welchem er die Stadtpromenade wie eine Modenzeitung studiert hatte und schließlich durch anderthalb Dutzend Mozartzöpfe unter Rembrandthüten in die Flucht geschlagen worden war.

Als die Puppen eines Tages mit langen Stockschirmen und Herrenhüten erschienen, sagte Claudius – noch Schlimmeres gewärtigend – der Stadtpromenade und ihren Grazien für immer Lebewohl.

Das städtische Kasino, schließlich der einzige Ort, welchen er noch bisweilen zum Zweck des Zeitungslesens aufsuchte, hatte sich seines Besuches nun auch seit nahezu Jahresfrist nicht mehr erfreut. Da schien plötzlich eine Wendung zum Besseren eintreten zu wollen – eines Nachmittags, mehrere Tage, nachdem das zur Zeit noch verschleierte Bild der Namenlosen von des Doktors Gedanken Besitz genommen hatte, erblickten ihn die Kronfurther Stadtväter zu ihrer nicht geringen Genugthuung im Lesesaal des Kasinos, von Zeitungen umgeben und offenbar ganz in die Neuigkeiten vertieft. Er studierte eine Weile die „Norddeutsche Allgemeine“, dann schaute er gedankenvoll darüber hinaus und nun lag ein zerstreuter, unruhiger Ausdruck in seinen dunklen Augen.

„Vielleicht spekuliert er!“ flüsterte der Polizeirath Adler dem Bürgermeister Weinland ins Ohr.

„Oder er ist verliebt!“ entgegnete dieser, der glückliche Besitzer von einem halben Dutzend der erwähnten Mozartzöpfe, und setzte sich zurecht, um im Schatten der „Kölnerin“ den zur Begrüßung mit Claudius geeigneten Augenblick abzuwarten.

Leider vereitelte das Schicksal für diesmal seinen Plan. Als der Fabrikherr endlich einmal die Augen erhob, geschah es, weil jemand, der soeben eingetreten war, seine Schulter freundschaftlich mit der Hand berührt hatte. Dieser „jemand“ war eine in Kronfurth gleichfalls wohlbekannte Persönlichkeit: Herr Albert Gerlach, Frau Ediths Bruder und gleichzeitig zweiter Direktor von Hermannsthal.

Claudius hatte den jungen Mann bei Eberhards Hochzeit kennengelernt und sich sogleich durch dessen frisches, freimüthiges Wesen lebhaft angesprochen gefühlt. Bald wünschte er sich aufrichtig Glück, eine so tüchtige, vielseitige Kraft zur Mitwirkung gewonnen zu haben, und schätzte seinen Arbeitsgenossen um so höher, je mehr dieser nicht nur den Vortheil des Geschäfts klug und gewissenhaft vertrat, sondern auch ganz ersichtlich mit dem Herzen an Hermannsthal und dessen Eigenthümer hing. Sobald Gerlach nicht durch amtliche Reisen fern gehalten wurde, theilte er mit Doktor Claudius die trauliche Einsamkeit des Herrenhauses, welches er wegen der die Treppe hütenden steinernen Ungethüme die „Drachenburg“ getauft hatte. „Ich darf dies um so eher, da mein Chef sich eines fröhlichen, ledigen Standes erfreut,“ äußerte er gelegentlich in seiner scherzenden Art, „angesichts eines lebendigen Drachen würde mir doch der Muth dazu mangeln.“

Hinsichtlich der Kronfurther kannte und theilte der junge Direktor die Ansichten seines Freundes, aber es belustigte ihn dennoch, bisweilen an den städtischen Vergnügungen theilzunehmen und dieser oder jener der Puppen etwas weis zu machen. Vielleicht wurden seine leichten Aufmerksamkeiten nicht ernster genommen, als sie es verdienten, jedenfalls war Albert Gerlach den Kronfurtherinnen, welche nach Abzug der Ballväter und Eisonkel nur über sehr wenige Herren verfügten, als Tanz- und Kränzchenkavalier unschätzbar. Daß er einen wenn auch schwachen Verbindungsfaden zwischen Kronfurth und Hermannsthal bildete, stellte ihn natürlich noch erheblich höher im Kurs!

Erst diesen Nachmittag war der junge Mann von einer mehrwöchigen Abwesenheit zurückgekehrt und, da er den Doktor in der Drachenburg nicht vorfand, sofort nach Kronfurth gegangen.

„Eberhards, bei denen ich vorsprach, wußten nichts von Ihnen,“ sagte er nach der ersten, herzlichen Begrüßung. „Da begab ich mich aufs Gerathewohl hierher. Aber Sie scheinen ärgerlich oder verstimmt, werther Freund. Irre ich?“

„Leider irren Sie nicht, lieber Gerlach. Ich bin verdrießlich und unzufrieden.“

„Unzufrieden – mit wem?“

„Mit mir selbst! Haben Sie noch etwas in der Stadt zu thun, oder können wir nach Hermannsthal zurückkehren?“

„Sogleich, wenn Sie Ihre Zeitungen im Stich lassen wollen.“

„Ich bin fertig.“ Trotz dieser bestimmten Erklärung und obwohl sich Ernst Claudius unverzüglich erhob, schienen sich seine Blicke nicht von der Zeitung losreißen zu können, welche er eben aus der Hand gelegt hatte.

Gerlach errieth, daß es damit eine besondere Bewandtniß haben müsse. „Nehmen wir sie mit,“ sagte er halblaut. „Es ist eine ältere Nummer.“

Ernst Claudius blickte rasch auf und erröthete wie ein Schulknabe. „Sie sind sehr freundlich, lieber Gerlach, ich danke Ihnen.“

Das konnte für eine Ablehnung gelten, allein der junge Direktor verstand es anders und schob das Blatt in die Tasche seines Ueberziehers. Bald darauf befanden sich die beiden Männer auf dem Heimwege und schritten tapfer aus, um Hermannsthal vor dem Dunkelwerden zu erreichen. Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Der unter ihren Schritten knisternde Schnee bildete fast das einzige Geräusch in dieser winterlichen Stille.

Endlich begann Claudius: „Können Sie sich vorstellen, lieber Gerlach, daß ein Mann meiner Art eines Tages urplötzlich seine gesunde Vernunft spazierengehen heißt und deren Abwesenheit dazu benutzt, eine rührselige Jünglingsthorheit, einen Narrenstreich, ein – ich finde keinen Namen dafür! – zu begehen?!“

„Warum nicht, Verehrtester? Gerade etwas derart, ein Quentchen göttlichen Leichtsinns, fehlte Ihnen in meinen Augen noch zur Vollkommenheit, oder besser: ich fand es jammerschade, daß jener leichte Muth so ganz unter Pflichten und Würden und gutsherrlicher Ehrbarkeit begraben lag; denn an seinem Vorhandensein habe ich niemals gezweifelt, auch niemals angenommen, Sie könnten sich diesen kostbaren Besitz um Gold und Ehren abkaufen lassen, wie jener Thor im Märchen sich das Lachen abkaufen ließ.“

„Das nenn’ ich geredet! Schließlich werden Sie mir gar meine Eselei als eine verdienstliche Leistung und die Fähigkeit, noch mit sechsunddreißig Jahren dem ‚dummen Jungen‘ zu spielen, als eine Tugend anrechnen!“

„Sicherlich, Doktor! Im Ernst gesprochen: diese Stunde rückt mich Ihnen doppelt nahe und ich wünsche aufrichtig, Sie möchten mir vollends Ihr Vertrauen schenken.“

„Das soll geschehen, noch heute, nach der Abendmahlzeit! Ich glaube auch, auf diese Weise am besten mit der Sache fertig zu werden.“

„Trefflich! Und lassen wir, wenn es Ihnen recht ist, eine Flasche Ihres ausgezeichneten alten Burgunders die Dritte im Bunde sein. Es beichtet und büßt sich besser mit feuchter Kehle.“

„Eine für Euch, eine für mich!“ murmelte der schöne Amadeus, als er, unter jedem Arm eine verstäubte Flasche, die Kellertreppe emporklomm. „Es kann niemand verlangen, daß ich die Verschwörungsscene, den Glanzpunkt der ‚Nachteule‘, bei Wachholderschnaps zustande bringe!“

[528] So schnell sich Claudius durchweg in die freundlichen Räume der Drachenburg eingewöhnt hatte – ein Zimmer unter allen hielt er besonders werth. Es lag im linken Seitenflügel und sein vieleckiger Erker gewährte einen reizvollen Rundblick ins Land hinein. Hier war das Reich der Arbeit, aber auch dasjenige der Träume. Hier stand der altmodische, von einer schönen Aristotelesbüste gekrönte Schreibtisch, dessen sich schon so mancher Claudius bedient hatte, um in ernster Arbeit der Zeit Schätze abzuringen. Rings an den Wänden liefen hohe, dichtbesetzte Bücherständer hin und zwischen diesen hatte Claudius seine wenigen Erinnerungen aus der Vergangenheit angebracht, die über dem Cereviskäppchen gekreuzten Rapiere und einige sonstige Waffen, seiner Eltern Bilder, die Schattenrisse mehrerer Studienfreunde. Hier flossen ihm Vergangenheit und Gegenwart in eins zusammen; hier ward er sich seines Werthes als Mensch und Arbeiter klarer bewußt als draußen im Tageslärm; hierher, zu seinen Büchern, zu seinen Träumereien über Menschenbeglückung rettete er sich, wenn seine Seele matt werden wollte im Kampfe mit der Selbstsucht, Engherzigkeit, Verständnißlosigkeit ringsum – mit den unzähligen kleinen Bitternissen des täglichen Lebens, gegen deren Skorpionenstiche er, der Alleinstehende, keinen heilkräftigen Zauber besaß. Daß die so empfangenen Wunden bisweilen schmerzten, würde Claudius allerdings niemand, kaum sich selbst zugestanden haben, und niemand wäre es in den Sinn gekommen, hinter dem tüchtigen Geschäftsmanne, welcher ein so gleichmäßiges, ruhig kühles Wesen zur Schau trug und der doch, wenn es der Augenblick gebot, ein heiterer und anziehender Gesellschafter zu sein verstand, noch eine andere, weltschmerzliche Seite zu suchen. Selbst Albert Gerlach hatte von einer solchen bis zum heutigen Abend nichts gewußt; bis zum heutigen Abend, an welchem der Fabrikherr und sein Direktor unter den Augen des alten Aristoteles ihre Flasche Burgunder leerten.

„Ich kann Ihnen wirklich nicht genau sagen, wie die Tollheit so plötzlich über mich kam, Gerlach! Hab’ ich doch schon so manches liebe Jahr meinen einsamen Weihnachtsabend gehabt und schon eine geraume Weile in Eberhards glückliches Eheleben hineingeschaut, ohne mein freies Junggesellendasein darum weniger anziehend zu finden. Es ist nun aber einmal so, daß mich heuer alle Vorbereitungen zum Christfest, jedes sinnig ausgeschmückte Schaufenster, jedes lächelnde Kinderantlitz davor, jeder unschuldige Tannenbaum, den man zufällig an mir vorbeitrug – daß mich alle diese Dinge stören und verdrießen. Als ich letzthin bei Eberhards vorsprach, unterhielten sich die Mägde auf der Treppe vom bevorstehenden Kuchenbacken. Im Wohnzimmer saß der Professor in Hemdärmeln und wirthschaftete mit Pinsel und Kleistertopf. ‚Tritt nur näher, ich tapeziere eine Puppenstube für unser herziges Nellychen,‘ rief er mir vergnügt entgegen. ‚Und ich nähe ein Festgewand für das dazugehörige Puppenfräulein,‘ fügte Edith strahlend hinzu. Später mußte ich noch die Liebesgaben begutachten, mit welchen sich das Ehepaar gegenseitig zu überraschen gedachte, und ward zu diesem Zweck von jedem insgeheim bei Seite genommen! Danach schmeckte der Hochheimer sonderbar bitter. Ins Pfefferland mit all dem sentimentalen Krimskrams! dachte ich, gleich darauf aber: es ist doch herzlich traurig, an diesem Feste der Liebe so mutterseelenallein dazustehen, ohne ein von freundlicher Hand angezündetes Weihnachtskerzlein, ohne ein noch so geringfügiges Gedenkzeichen, das die Theilnahme ersann und das von menschlicher Zusammengehörigkeit zeugt!“

„Nun, ich muß bekennen, ungeschickt gearbeitete Schlummerrollen, auf denen man sich Beulen in den Kopf liegt, Visitenkartentaschen, die zu klein, Cigarrentaschen, die zu groß sind, Hausschlüsselfutterale, welche nur dazu bestimmt scheinen, dem glücklichen Besitzer heimtückisch aus der Tasche zu rutschen, und dergleichen verhängnißvolle weibliche Liebesgaben niemals unter die Annehmlichkeiten der Familienfeste gerechnet zu haben,“ entgegnete Gerlach lachend, als Claudius innehielt. „Und was das ‚herzige Nellychen‘ angeht, den kleinen Unhold, der täglich mindestens zweimal frisch gewaschen wird, aber trotzdem immer so schwarz wie ein Mohrenkind aussieht und seinen ganzen nach dieser Richtung leider schon recht entwickelten Verstand dem edeln Zwecke widmet, die gehorsamen Eltern in alle erdenklichen Verlegenheiten und Aengste zu versetzen – ich weiß wirklich nicht, ob dessen Besitz Ihnen eine erhebende Weihnachtsfeier sichern würde! Die Ehe an sich endlich –“

Gleichfalls lachend erhob Claudius die Hand. „Schweigen Sie, Gerlach! Es bedarf keiner Standrede gegen die Ehe, weil ich nicht daran denke, zu heirathen.“

„So ist es keine Liebesgeschichte, welche Sie mir beichten wollen?“

„Nicht eigentlich, wenigstens handelt es sich dabei nicht um ein Weib von Fleisch und Blut. Wir haben es nur mit einem Traumbild zu thun, mit einem Traumbild von Liebe und Glück, welches während eines Gespräches mit Eberhards urplötzlich in mir aufstieg. Frau Edith hatte mich gefragt, warum ich nicht endlich an die Wahl einer Lebensgefährtin denke, ich bemühte mich, ihr das ‚Darum!‘ klar zu legen. Schließlich entspann sich zwischen den Eheleuten ein kleiner, scherzhafter Streit über die Wege, auf welchen ein Mann die ‚Rechte‘ finden, verwandte Seelen zu einander gelangen könnten. Ihr Schwager meinte: auf jedem, wenn das Schicksal es will, sogar auf jenem nüchternen durch die Zeitung. Und da stand plötzlich mein Traumbild vor mir! Ich fühlte mich in einen Rausch wie von süßem Most versetzt! Ja, warum sollte ich nicht auch einmal die ‚Rechte‘ finden? Und warum sollte es nicht geschehen können mit Umgehung jenes entsetzlichen gesellschaftlichen Spießruthenlaufens bei Freunden und Verwandten, das jeder regelrecht zustande kommenden Verbindung in unseren Kreisen vorangeht? Meine Bewegung hielt noch an, als ich durch die frische Abendluft [530] heimgegangen war, und verleitete mich zu jener großen Thorheit, deren ich mich heute, bei klaren Sinnen, so gründlich als möglich schäme! Alles weitere sagt Ihnen das Zeitungsblatt, das Sie mitgenommen haben.“

„Hier!“

Claudius wies auf eine im Anzeigentheil der Zeitung befindliche Stelle. „Lesen Sie!“

Gerlach las: „Ein alleinstehender Mann in gesicherter Lebenslage, den besondere persönliche Verhältnisse sowie ein starker Widerwille gegen die heutige Mädchenerziehung bisher vom geselligen Verkehr in Damenkreisen zurückgehalten haben und der gegenwärtig nicht mehr geneigt ist, das Versäumte auf dem herkömmlichen Wege nachzuholen, wünscht mit einem Mädchen von gediegener Erziehung und schlichtem häuslichen Sinne in brieflichen Verkehr zu treten. Sollte dieser Aufruf in die rechten Hände, das heißt in diejenigen eines weiblichen Wesens gelangen, welches weder Herrenhut noch Stockschirm trägt, Freude am eigenen Heim und Sinn für ein harmonisches Stillleben besitzt, welches ein gutes Buch einer seichten Unterhaltung und anregenden Geistesverkehr anspruchsvollen, geselligen Vergnügungen außerhalb des Hauses vorzieht – so möge man unter ‚Freimuth, postlagernd Grützburg‘ ihn erwidern.“

Claudius, welcher den Lesenden scharf beobachtete, nahm sehr wohl das verrätherische Zucken in dessen Mundwinkeln wahr. „Platzen Sie nur heraus, Gerlach. thun Sie sich keinen Zwang an!“ sagte er gutmüthig. „Ich erwarte und verdiene nichts anderes, als tüchtig ausgelacht zu werden.“

Jetzt blickte Gerlach rasch auf. „Aber ich denke nicht daran, Sie auszulachen, Doktor! Was eben meine Heiterkeit erregte, ist nur der Gedanke, wie wir Menschen uns unter einander anzuführen, oder, wenn Ihnen das besser gefällt, in einander zu irren vermögen! Wer würde in Doktor Ernst Claudius, dem Vertreter des gesunden Wirklichkeitssinnes, dem Musterbilde eines Groß-Industriellen, den Verfasser dieser merkwürdigen schriftstellerischen Leistung vermuthen?“

„Spotten Sie immerhin, mein Freund, aber bedenken Sie auch, was ich Ihnen sagte: die Anfrage ward in einer Art Trunkenheit – anders kann ich den Zustand wirklich nicht bezeichnen – von mir niedergeschrieben. Nachdem sie noch in derselben Morgenfrühe abgegangen und der Tag mit seinen Berufspflichten wieder in seine Rechte getreten war, kam ich schnell genug zum Bewußtsein meiner Narrheit und schämte und ärgerte mich so gründlich als möglich!“

„So haben Sie das Gesuch in der That vollkommen ernsthaft gemeint?“

„Während ich es schrieb, vollkommen. Erschien es mir doch in jenen verzauberten Nachtstunden fast als gewiß, daß sie, die ‚Rechte‘, meinen Ruf vernehmen und wie etwas längst Erwartetes aus der Tiefe ihres Herzens beantworten werde!“

„Nun, was das anbetrifft, einige Beantwortungen wird der ‚Aufruf‘ sicherlich finden.“

„Vielleicht! Aber keinesfalls befindet sich ein Mädchen unter den Schreiberinnen, wie ich es schilderte. Ein solches würde – heute, mit klaren Sinnen, weiß ich das recht wohl! – sich niemals dazu verstehen, auf dem Zeitungswege Bekanntschaften anzuknüpfen. Uebrigens hab’ ich jenen Traum von Zukunftsglück gleich vielem anderen sachte ins Grab versenkt. Und jetzt – füllen Sie unsere Gläser, Gerlach! – jetzt soll die ganze Angelegenheit abgethan und vergessen sein!“

Das erscheint mir durchaus nicht als das Richtige. Wir Männer sollten unter allen Umständen den Muth haben, einmal Begonnenes auch, so oder so, zu Ende zu führen! Eberhard sagte mir einmal, Sie seien in Ihren Jünglingsjahren ‚unnatürlich vernünftig‘ gewesen und es brause noch ein gutes Theil unverbrauchter Jugendlust in Ihnen. Wohlan! Erklären wir uns so jene ‚Trunkenheit wie von süßem Most‘ und behandeln wir Ihren Einfall, wie er es verdient: als guten Scherz. Ich selbst werde, sofern Sie mich dazu ermächtigen, die unter ‚Freimuth‘ eingelaufenen Briefe von der Grützburger Post abholen."

„Thun Sie, was Ihnen gefällt, Gerlach, nur lassen Sie mich aus dem Spiel! Es ist übrigens nicht wahrscheinlich, daß sich Ihr anderthalbstündiger Ritt nach Grützburg in irgend einer Hinsicht lohnen wird.“

„Mag sein; allein ich habe nun einmal zu der Sache Stellung genommen, und Sie, Doktor, müssen mit mir durch dick und dünn! So verlangt es die Gerechtigkeit.“




3.0 Folgen einer Thorheit.

Der nächste Tag brachte beiden Männern viel Arbeit durch wichtige, vortheilhafte Geschäftsabschlüsse.

„Das war ein gesegneter Tag,“ sagte Gerlach, als sie beim Abendessen zusammentrafen – „und wenn Sie mir nachher noch eine kurze Unterredung im Aristotelestempel gewähren wollten, so wäre ich in der Lage, ihm einen würdigen Abschluß zu geben.“

„Ich traue Ihnen nicht ganz, Gerlach! Sie waren doch nicht etwa in Grützburg?“

„Zu dienen. Und mein Pflichteifer ward glänzend belohnt. Unsere Ernte besteht in vier, sage vier jungfräulichen Episteln, an deren Eröffnung wir gehen können, sobald Sie sich in die erforderliche weihevolle Stimmung versetzt haben werden.“

„So kommen Sie, Erbarmungsloser! Ich sehe schon, daß mir nichts geschenkt werden soll, und will die Früchte meines Handelns mit Würde verzehren.“

Da lagen nun die vier unschuldigen Brieflein auf der mit grünem Tuch ausgeschlagenen Tischplatte. „Welchen zuerst?“ fragte der junge Direktor mit lustig blitzenden Augen.

„Jenen mit den kühn geschwungenen Schriftzügen, wenn es denn sein muß! Lesen Sie vor!“

  "Hochzuverehrender Herr!

‚Es gießt keinen Zufall,‘ sagt schon Schiller – ‚und was uns blindes Ungefähr nur dünkt, gerade das steigt aus den tiefsten Quellen!‘ Daran mußte ich denken, als mir gestern einer meiner Zöglinge eine zusammengeballte Zeitung ins Gesicht schleuderte und ich, aus gewohnter Ordnungsliebe sie wieder glättend, Ihre Anfrage darin fand. Mein Herr! Ich begrüße Sie als das Ideal, nach welchem meine Seele ein langes Leben hindurch vergeblich geseufzt hat! Wenn ich sage, ein ‚langes‘ Leben, so dürfen Sie daraus keine Schlüsse auf mein Alter ziehen. Ich befinde mich in den besten Jahren. Aber ein Leben der Knechtschaft muß dem zur Freiheit geborenen Geiste immer lang erscheinen. ‚Das Leben ist sonnenlose Nacht, wenn nicht die Freiheit drüber lacht!‘ sagt im ‚Pharus‘ ein gewisser Duller, von dem ich sonst nichts weiß. Mein Herr! Ich bin Lehrerin. Das sagt Ihnen genug. Ich bin arm an schnödem Mammon, aber reich an Geist und Gemüth und allen weiblichen Tugenden, in deren wichtigster, der Geduld, ich mich dank meinen Zöglingen täglich mehr vervollkommne. ‚Dulde, mein Freund! Geduld ist die schönste Zierde der Edlen!‘ sagt Herder, wie Ihnen bekannt sein dürfte … Ich spreche und lese sieben Sprachen, weiß die Klassiker aller nennenswerthen Litteraturen beinahe auswendig und habe in meinen Mußestunden zwei Bände Poesien, ‚Trübsalstropfen‘, verfaßt, deren Erscheinen nur das eine im Wege steht, daß ich noch keinen Verleger fand. Wenn sich ein Briefwechsel zwischen uns entspinnen sollte, so werden Sie finden, daß derselbe nicht nur unterhaltend, sondern auch bildend und belehrend für Sie sein wird.“

Hier ward der Vorleser durch ein heiteres Lachen des Fabrikherrn unterbrochen und er stimmte sogleich mit ein.

„Bravo, Doktor! Das ist Ihnen herzlich gesund,“ rief er. „Sehen Sie nun, wie recht ich hatte, die heilkräftigen Papyrusrollen nicht selbstsüchtig für mich zu behalten?“

„Sie sind ein trefflicher Bursche, Gerlach. Weiter!“

– – „sondern auch bildend und belehrend für Sie sein wird. Ihre Ansichten über die heutige Mädchenerziehung stimmen wahrscheinlich mit den meinigen überein. Ich finde, daß alle modernen Vergnügungen, besonders das Tanzen und die Gesellschaftsspiele, geradezu entsittlichend auf das weibliche Geschlecht wirken! Meine selige Mutter, eine Tochter des bekannten Pädagogen Wacker, ließ uns Mädchen an dergleichen niemals theilnehmen. Wenn Vater männlichen Besuch erhielt, nahm uns Mutter bei der Hand und führte uns hinter das Haus. Mit achtzehn Jahren hatte ich noch kaum mit einem Manne, Vater und Lehrer ausgenommen, ein Wort gewechselt. Ja, mein Herr! So wurden wir erzogen! Und nun stehe ich schutzlos in dieser Welt, welche inzwischen noch viel verderbter geworden ist.

Die Pünktlichkeit, meine zweite Grundtugend, zwingt mich, diesen Brief zu schließen. In fünf Minuten beginnt der Unterricht.

[531] Meine Zöglinge stehen vor meinem Fenster. Adolf wirft nasse Erdklöße an die Scheiben, Laura schneidet respektswidrige Grimassen und Edelfried, der künftige Majoratsherr, streckt die Zunge gegen mich heraus. Ja, mein Herr, die Zunge! Und ich muß zufrieden sein, wenn es dabei bleibt. Ziehen Sie daraus keine nachtheiligen Schlüsse auf meine Person, hochzuverehrender Herr! Ich bin nur als Lehrerin angestellt und darf mich in die Erziehung nicht mischen … Einer baldigen Antwort entgegensehend bin ich einstweilen, mein Herr,
Ihre  
unter dem Druck der Sklavenketten seufzende  
Adele Finnig,  
geprüfte Lehrerin.  
Groß-Woltersdorf bei M …      

      Nachschrift.
Die ‚Trübsalstropfen‘ erhalten Sie zur Einsicht, sobald ich Ihre Adresse habe.“

„Das verhüte der Himmel!“ sagte Claudius mit Inbrunst. „Aber wir könnten der armen Person vielleicht ohne Namensunterschrift eine kleine Weihnachtsüberraschung bereiten. Etwa durch Uebersendung einiger Flaschen guten, alten Weines mit der Bezeichnung: ‚Trostestropfen‘!“

„Ein hübscher Einfall! Sehen wir nun, wie es die Briefschreiberin Nummer zwei anfängt, Ihr Herz zu gewinnen. Sie schreibt Ihnen auf parfümiertem rosa Papier und in der ängstlich regelrechten Handschrift eines Schulmädchens:

,Berlin SW. 
  Geehrter Herr!
Ich bin nicht abgeneigt, mit Ihnen in Briefwechsel zu treten. Auch ich wünsche mir über alles einen interessanten Geistesverkehr mit einem Unbekannten! Schon in der Pension schwärmten wir dafür und Alma probierte es auch, als wir eines Tages ein schwungvolles Gedicht, worin sich jemand fürchterlich nach einer ‚verwandten Seele‘ sehnte, in der Zeitung fanden. Sie korrespondierten danach ein Vierteljahr, Alma und der Unbekannte; er schrieb Briefe wie ein Gardelieutenant, sage ich Ihnen. Abgrundtief poetisch! Schließlich wollte er Alma aber auch kennenlernen, und das war das Schlimme. Alma trauert noch heute um ihren schönen Traum. Ihr Seelenfreund entpuppte sich als Apothekergehilfe. Seinen Beruf hätten wir ihm indessen nicht verübelt, denn ‚Pharmaceut‘ klingt ja recht hübsch wie alle Fremdwörter. Aber, was meinen Sie, er erschien mit Zwirnhandschuhen und schiefgelaufenen Stiefelabsätzen beim Rendezvous, roch ganz abscheulich nach Baldrian und Pfefferminze und lud uns – Therese und ich hatten Alma natürlich begleitet – schließlich zu einem Glas Bier in die ‚Zelte‘ ein! Sofort Kehrt machen und den Unseligen auf immer stehen lassen, war für uns das Werk eines Augenblicks! – –

Seitdem behalfen wir uns ohne Romantik. Nun aber, da wir die Pension verlassen und uns trennen mußten, geht es doch nicht mehr so. Das Leben daheim ist schmählich öde, besonders wenn man schon seine ganze Zukunft im voraus weiß. In zwei Jahren soll ich nämlich meinen Cousin Julius heirathen, der das große Wein-Importgeschäft unter den Linden hat. Wenn es Ihnen recht ist und mir Ihre Briefe gefallen, so könnten wir uns in der Zwischenzeit einander platonisch widmen. Ihre Briefe müßten natürlich so gehalten sein, daß ich vor Alma und Therese damit Ehre einlegen kann. Ich werde sie (die Briefe!) in einer verschließbaren Kassette aufbewahren – so etwas kommt in allen besseren Romanen vor! – und an meinem Hochzeitstage unter Thränen verbrennen. Das ist so poetisch! Und es wäre doch auch zu abgeschmackt, wenn nur die Männer an diesem wichtigsten Wendepunkte des Lebens etwas zu verbrennen haben dürften!

Uebrigens hoffe ich, daß Sie weit von Berlin wohnen und niemals herkommen werden. Nicht wegen etwaiger Zwirnhandschuhe oder schiefer Absätze, sondern wegen der Romantik. Die ist gleich futsch, sobald man sich kennt! …

Lieben Sie Paul Heyse? Ich rasend. Essen Sie gern Pralinées? Ich furchtbar gern. Gehen Sie gern ins Theater? lch lasse mein Leben dafür! Wie denken Sie über Ibsen und Karl Bleibtreu? Letzterer erscheint mir weit bedeutender!

Da wäre gleich Stoff für Ihren nächsten Brief. Ich werde mir denselben am Sonnabend vor Weihnachten von der Hauptpost abholen. Bitte zu adressieren: La Rabbiata. Berlin. Hauptpostlagernd. Betty.‘“ 

Diese Epistel wirkte noch um ein gutes Theil erheiternder als die vorangegangene auf Claudius und seinen Vertrauensmann. „Der Berliner Backfisch, wie er im Buche steht,“ meinte Gerlach, „das natürliche Ergebniß einer Erziehung, bei welcher die widerspruchsvollen Einflüsse der Töchterschulen-Dressur und des eigenartigen Berliner Großstadtlebens durcheinander wirken! ‚Cousin Julius‘ wird es nicht ganz leicht haben, in diesem zweifellos reizenden Köpfchen einigermaßen aufzuräumen, da Sie aber keinesfalls wünschen werden, sich der Kleinen auf zweijährigen Accord ‚platonisch zu widmen‘, so können wir nichts weiter in der Sache thun –“

„Und gehen daher zu Nummer drei über. Ganz recht, lieber Freund. Ich beginne wahrhaftig, an dem ‚Feenreigen‘ Geschmack zu finden!“

„Hinsichtlich der dritten ‚Fee‘ muß ich Sie leider enttäuschen, wie ich sehe. Hören Sie!

  ‚Ew. Hochgeboren
geistreiches Inserat in der ‚Norddeutschen Allgemeinen Zeitung‘ enthält zwar das Wort ‚Heirath‘ nicht ausdrücklich, doch ist eine solche, wie ich mit Sicherheit annehme, des Pudels Kern und ich glaube Ihnen daher einen Dienst zu erweisen, indem ich Sie auf ein Institut hinweise, dessen segensreiches Wirken von zahllosen Glücklichen beiderlei Geschlechts anerkannt und gepriesen wird. Mein Ehevermittlungs-Bureau arbeitet mit glänzendem Erfolge für alle Kreise und verfügt stets über die Mittel, jeder, selbst der exquisitesten Geschmacksrichtung Rechnung zu tragen. An jungen Damen der von Ihnen gewünschten Gattung könnte ich zur Zeit drei Stück empfehlen:

Nr. 1, höhere Beamtentochter, Waise, Erbin einer uralten Tante, in deren Hause sie lebt. Sehr gediegen und häuslich erzogen. Fügsam und geduldig. Evangelisch. Regelmäßige Kirchenbesucherin. Brünett. Sechsundzwanzig Jahre alt.

Nr. 2, Offizierstochter; von Adel. Hoffähig. Lebt mit Mutter von deren Witwen-Pension und kleiner Stiftsrente. Vierundzwanzig Jahr alt. Auffallend schön. Blond. Fein erzogen. Zur Repräsentation geeignet. Evangelisch. Heiteren Temperaments.

Nr. 3, Rentierstochter. Mutterlos. Vater ehemals Seifensieder, möchte die Tochter gern unter die Haube bringen, um seine Freiheit besser genießen zu können. Mindestens achtzigtausend Thaler Mitgift. Gut erzogen. Etwas dick, sonst recht nett. Hochblond. Vierundzwanzig Jahr alt. Etwas sentimental und schwärmerisch. Wäre vielleicht ganz nach Ew. Hochgeboren Geschmack.

Ich kann Ew. Hochgeboren nur rathen, der Sache näher zu treten, und stehe in jeder Hinsicht zu Dero geneigter Verfügung. Geschätzte Zuschrift erbitte unter ‚Eden‘. Erstes deutsches Centralbureau für Ehevermittelung.   Berlin SW. III."

„Da haben wir’s!“ sagte Claudius lachend. „Die sündige Menschheit besitzt wieder ein Eden!“

„Und dieses versendet die Aepfel der Versuchung durch die Post, in Gestalt solcher Musterkarten moderner Even! Jedenfalls das eigenartigste Stück unserer Ernte, diese Epistel aus Eden! … Nun haben wir es nur noch mit dem vierten und letzten Briefe zu thun. Kritzelige Handschrift, unleserlicher Poststempel.

      ‚Werthgeschätzter Herr Einsender des bewußten Inserats!
Ich bin sonst durchaus nicht für so etwas. Aber man muß immer wissen, wenn man es darf, und dieses ist das erste Mal, wo es mir so scheint. Also bitte, verkennen Sie mich nicht. Es ist nur wegen der Fortbildung! Im übrigen geht es mir gut, mein Geschäft blüht und es fehlt mir ebensowenig nicht an achtbarem Umgange. Der eine Herr, wo ich meistens die Theaterbilljette von kriege, macht sich nächstens selbständig in Wollwaaren und ließ schon mehrfach etwas fallen, woraus ich auf seine Absichten schließen kann. Aber das erlauben mir meine strebsamen Anlagen nicht (mein Vater war überseeischer Reisender in Tabak!), mich hier in Krummwinkel zu vergraben, umringt von einem Erdball, den ich noch nicht kenne, und unter Leuten, die keinen Schein von einem höheren Aufschwunge besitzen! Nein! ich will auf flüchtigen Schienen die Welt durcheilen, will den Erdball kennenlernen, wenigstens da, wo er ziehvielisirt ist! Vorher aber mir eine gewisse, sozusagende Salon-Politur und etwas [532] Weltkenntniß aneignen, ohne die man heutzutage auf Reisen nicht durchkommt und doch auch nicht für die Erste, Beste gehalten werden möchte!

Ich hoffe mich klar und vertrauensvoll ausgedrückt zu haben, woraus Sie ersehen werden, daß es mir nur um eine geistreiche bildende Korrespondenz mit einem feinen Herrn zu thun ist, der nebenbei mit Herz begabt ist und auf das Innere sieht, wie aus Ihrem Inserat hervorgeht. Auf Wunsch sende ich Photographie, bin aber auch zu persönlicher Vorstellung bereit, wenn Sie solche vorziehen sollten. Meine Mittel erlauben es mir, jedem Ihrer allerwerthesten Vorschläge entgegenzukommen, was noch durch ein Aeußeres unterstützt wird, von welchem ich aus Bescheidenheit nichts weiter sagen will.

Ich hoffe mich nicht in Ihnen getäuscht zu haben, insofern als indem wenn Sie bereits einer zuvorigen Reflektantin den Vorzug gegeben haben sollten, Sie es mir dann wenigstens zu wissen thun und einige Bestellungen bei mir machen werden. Für diesen Fall halte ich mein Prima-Handschuh-Geschäft bestens empfohlen. Preisliste gratis und franko. An Kunden werden alle Sendungen portofrei effekuiert und Ausbesserungen unentgeltlich vorgenommen. Da ich keinen Grund habe, mich meinerseits anonym oder inkognito zu verhalten, erlaube ich mir zu sein

Ihre  

einem guten Erfolge entgegensehende  
Julie Banz.  
Krummwinkel bei B …  

Gumpengasse 2.’"  

„Wissen Sie, daß es mir vorkommt, als hätten wir miteinander einer Lustspiel-Vorstellung beigewohnt, Doktor," rief Albert Gerlach, nachdem auch die Krummwinklerin weidlich belacht worden war. "Sie sind ganz fröhlich geworden, und selbst der alte Aristoteles dort oben scheint verstohlen zu lächeln."

„Ja, und doch hat auch dieses ‚Lustspiel‘ seine ernste Seite. Das heißt: jeder dieser Briefe zeigt uns eine aus den Eigenthümlichkeiten unserer Zeit herausgewachsene Menschenart, stellt also gewissermaßen ein Blatt aus der Zeitgeschichte dar.“

„Nicht abzuleugnen! Aber heute erlaube ich Ihnen nicht mehr, irgend ein Ding der Welt mit Weltweisheit zu beleuchten. Sie sollen zur Ruhe gehen und im Traume weiter lachen. Gute Nacht!“

[540] Während der nächsten zwei Tage erwähnte Gerlach nichts davon, ob und mit welchem Erfolge er der Grützburger Post einen Besuch abgestattet habe, und Claudius nahm an, er betrachte den Scherz als erledigt. Um so mehr überraschte es ihn, den Unermüdlichen am dritten Abend wieder mit einem Briefe in der Hand bei sich eintreten zu sehen, mit einem umfangreichen, viereckigen Briefumschlag, welchen er lustig in der Luft schwenkte.

„Nachernte, Doktor, soeben im Schweiße meines Angesichts eingeheimst! Da müssen Sie schon verzeihen, daß ich Ihre stumme Zwiesprache mit dem griechischen Weisen auf Ihrem Schreibtische für einige Minuten unterbreche.“

„Kommen Sie näher, Gerlach! Nun, dieser Brief sieht wenigstens vertrauenerweckend aus. Das starke, elfenbeinfarbige Papier, die schöne, kräftige Handschrift nehmen gleich zu Anfang ein. Da fühle ich übrigens etwas Steifes, Festes; sollte das eine Photographie sein?“

„Zweifellos, öffnen Sie nur! Es geziemt sich, daß Ihre Hand das Bildniß entschleiert.“

Während Claudius nach dem Papiermesser langte, überkam ihn plötzlich ein Gefühl, als müsse dieser Brief etwas Besonderes für ihn enthalten, – ein Stück Schicksal, dem er sich mit dem ersten Messerschnitt für alle Ewigkeit verpflichte. Da erklang schon wieder die frische Stimme seines Gefährten:

„Warum zögern Sie? Ich brenne vor Ungeduld! Eine Ahnung sagt mir, daß Nummer fünf in Wort und Bild unsere Erwartungen weit übertreffen wird.“

Zwei schnelle, scharfe Schnitte und Brief und Porträtkarte lagen vor ihnen. Fast gleichzeitig brachen beide in ein heiteres Gelächter aus. Was sie sahen, übertraf in der That ihr Erwarten, wenn auch in anderm Sinne, als Gerlach gemeint hatte. Die Photographie – sie war übrigens aus einem der ersten hauptstädtischen Ateliers hervorgegangen und trug auf der Rückseite die Firma des Verfertigers – stellte ein weibliches Wesen von ganz besonderer Beschaffenheit dar, eine mahagonibraune, jugendliche Schöne mit riesigen Gliedmaßen, krausem Wollhaar, fabelhafter Stülpnase und breiten Polsterlippen, deren wohlwollendes Grinsen das große vergnügte Gesicht in zwei Hälften theilte. Diese junge Wilde hatte ihren dicken Hals und die unförmlichen Arme über und über mit Schnüren von Glasperlen und sonstigem Flittertand behängt und mochte wohl so ihres Eindrucks auf „Jung Afrika“ nicht verfehlen. Die beiden Ritter von der Drachenburg jedoch huldigten einem andern Schönheitsbegriff und konnten deshalb nicht umhin, sich bei dem unerwarteten Anblick dieser fremdartigen Reize ehrlich zu entsetzen. Andrerseits blickte das dicke Mädchen so harmlos freundlich und sein Grinsen wirkte so unwiderstehlich erheiternd, daß man ihm trotz seiner Scheußlichkeit beinahe gut sein mußte. Jedenfalls war der Scherz – daß es sich um einen solchen handle, stand ja außer Frage – drollig genug, um selbst das Opfer desselben, Ernst Claudius, aufrichtig zu ergötzen. „Nun hat meine Thorheit noch zuguterletzt irgend einem Spaßvogel die erwünschte Gelegenheit zur Ausführung eines lustigen Einfalls gegeben,“ sagte er gutmüthig. „Sei’s denn! Ich muß meinen Kelch nun schon bis zur Hefe leeren.“

Die ‚Hefe‘ ist in diesem Falle der Brief. Also – die schwarzbraune Jungfrau bittet ums Wort:

      ‚Mein Herr!
Sie müssen in der That recht wenig von den Mädchen Ihrer Zone, insbesondere von jenen Ihrer eigenen Bildungsstufe wissen, um sich einzubilden, eine wohlerzogene junge Dame mit den von Ihnen erwähnten Eigenschaften werde Ihre Anfrage der Beachtung, geschweige denn der Beantwortung werth halten! Ach, und von welcher Art müssen Sie selbst sein, um sich das Wohlwollen einer Frau von Bildung und Gemüth auf einem solchen Umweg, durch ein solches gegen jedes zarte Gefühl verstoßende Mittel erwerben zu wollen!

Sie wünschen ein weibliches Wesen zu finden, welches sich von der für Sie unleidlichen deutschen Durchschnittsjungfrau vortheilhaft unterscheidet, indem es in seinem Aeußern die vollste Unabhängigkeit von der herrschenden Tagesmode zur Schau trägt, unbeengt von Anerzogenem und Vorgeschriebenem handelt und lebt, wünschen seine Bekanntschaft zu machen unter Umgehung des ‚herkömmlichen Weges‘, also ohne Rücksicht auf alle sonst in der guten Gesellschaft unerläßlichen Formen – – und Sie suchen dieses Wesen unter den Töchtern des gebildeten Deutschland?! Zuviel Ehre für Ihre Landsmänninnen, in der That! Warum wenden Sie sich nicht lieber nach Kamerun, mein Herr? Dort können Sie ‚ungestraft unter Palmen wandeln‘, das heißt ohne die Zwangsjacke der gesellschaftlichen Sitte umherlaufen, aufs formloseste Bekanntschaften anknüpfen und Seelenfreundschaften mit einer Schnur Glaskorallen einleiten. Luxusartikel wie Takt und Zartgefühl werden da nicht verlangt, auch stellt dort das weibliche Geschlecht nicht wie bei Ihnen die lächerliche Forderung auf, für etwas Besonderes angesehen, hochgehalten und verehrt, mit Rücksicht und Feinsinn behandelt zu werden. Keine modern europäische Erziehungsanstalt, keine Pariser Kleidermode, keine Nummer des ‚Bazar‘ oder der ‚Modenwelt‘ beleidigt in Kamerun Ihr Auge; dieses erfreut sich vielmehr überall an der wohlthuendsten Natürlichkeit … Daß die weibliche Jugend von Kamerun trotzdem nicht der Anmuth und Lieblichkeit entbehrt, beweist Ihnen die beifolgende Photographie, welche, wie Sie sehen, ein Duallamädchen in seiner ebenso geschmackvollen als anspruchslosen Nationaltracht darstellt. Wäre es nicht eine anziehende und lohnende Aufgabe für Herrn Freimuth aus Grützburg, sich dieses vom Gifthauch der Civilisation unberührte, durch keine europäische Erziehungspresse verdorbene Kind der Natur zu dem Edelstein heranzubilden, welchen er sonst niemals und nirgends finden dürfte –?

Es würde der Schreiberin dieser Zeilen eine große Genugthuung gewähren, Herrn Freimuth aus Grützburg zur Klarheit über seine Wünsche und zur Aussicht auf deren Verwirklichung verholfen zu haben.‘“

„Weiter, lieber Gerlach, weiter!“

„Der Brief ist aus, Doktor. Ich meine auch, wir könnten an dem Genossenen reichlich genug haben. Es läßt sich nicht gerade behaupten, daß Nummer fünf ein Blatt vor den Mund genommen hätte!“

„Durchaus nicht!“ entgegnete Claudius vergnügt. „Aber das ist ja gerade das Hübsche an der Sache! Verdiente ich denn nicht eine Bestrafung? Wahrhaftig, Gerlach, mich hat diese geharnischte Epistel einer für die Ehre ihres Geschlechtes Kämpfenden erfrischt und erquickt wie bei dreißig Grad Réaumur ein Quellbad! Es giebt also doch noch Mädchen, welche das Herz auf dem rechten Flecke haben!“

„Und die Zunge, bester Freund! Daß Nummer fünf das letzte Wort behalten will, ist auch echt weiblich. Der Brief hat keine Unterschrift, also will man keine Antwort.“

[541] „Auch das gefällt mir, weil daraus hervorgeht, daß es die Briefschreiberin nicht auf eine kokette Plänkelei abgesehen hat, sondern es mit ihrer Empörung ehrlich meint.“ Damit ergriff Claudius den Umschlag des Briefes und begann den Poststempel zu entziffern. „Hirschberg in Schlesien. Nun, das ist wenigstens etwas. Ich hätte nicht übel Lust, diesen Nasenstüber, den mir Nummer fünf versetzt hat, anmuthig heimzugeben.“

„Damit wäre ich ganz einverstanden. Aber wie? Wir haben ja keine Adresse!“

Eilig warf Claudius einige Bleistiftzeilen auf den vor ihm liegenden Briefumschlag und schob ihn Gerlach zu. „Wenn dieses sofort an die ‚Norddeutsche Allgemeine‘ abginge? ‚Kamerunerin wird zum Zweck nothwendiger Mittheilungen dringend um Adressenangabe postlagernd G … burg ersucht.   Freimuth.‘“

„Sie wird nicht antworten,“ meinte Gerlach, „indessen, der Versuch könnte ja gemacht werden, zumal da ich zur Zeit hier bin, um einen etwaigen Postlagernden von Grützburg abzuholen.“

So geschah es. Ein ahnungsvolles Vorgefühl sagte dem Fabrikherrn, daß sein Inserat nicht ohne Erwiderung bleiben werde, keineswegs aber hatte er diese so rasch erhofft, als sie in der That eintraf. Auch Gerlach war überrascht. „Ich fürchte, unsere ‚Kamerunerin‘ entpuppt sich jetzt, nachdem ihre Schlauheit den Fisch zum Anbeißen gebracht hat, doch noch als ‚europäische Durchschnittsjungfrau‘,“ sagte er lachend.

Inzwischen hatte Claudius den Brief geöffnet und begann halblaut zu lesen:

 „Mein Herr!
Es erscheint mir unbillig, nachdem ich das Recht einer rückhaltslosen Meinungsäußerung für mich in Anspruch genommen habe, Ihnen nicht die gleiche Freiheit zugestehen zu wollen. So senden Sie mir denn die ‚nothwendigen Mittheilungen‘ unter: ‚Kamerunerin, postlagernd Hirschberg‘, aber bedenken Sie es wohl: ich gestatte Ihnen nur einmal, an mich zu schreiben, ich würde auf einen weiteren Briefwechsel unter keinen Umständen eingehen und niemals wieder auf der Hirschberger Post nach postlagernden Briefen fragen, selbst wenn sich dieses Gebäude bis unter das Dach mit ‚nothwendigen Mittheilungen‘ des Herrn Freimuth aus Grützburg anfüllen sollte.“

[542] Soviel und kein Wörtlein mehr schrieb Nummer fünf, und Gerlach mußte gestehen, daß ihre zweite Kundgebung gleichfalls nicht unter Zuhilfenahme eines Komplimentierbuches verfaßt sein konnte. „Ich nehme meinen Verdacht reuevoll zurück,“ scherzte er. „Sie bleibt sich treu. Sie ist offenbar von Natur ein stachliges Ding! Mein Fall wäre das nicht!“

„Aber meiner!“ entgegnete Claudius lebhaft. „Und heute abend will ich mir die Erlaubniß dieser dornenreichen Rose zu nutze machen.“

Als die Geschäfte des Tages erledigt waren, zog sich Claudius in sein Heiligthum zurück, um die Antwort für Nummer fünf zu entwerfen. Allein das rechte Wort für den Anfang wollte leider nicht kommen. Trotz der friedlichen Abendstille, trotz der Havanna, einer Mitarbeiterin von erprobter Tüchtigkeit, trotz der Fülle an Stoff wollte die Sache nicht in Fluß gerathen. Da trat plötzlich etwas wie eine Wolke, etwas Lichtes, unbestimmt Gestaltetes in Ernsts Erinnerung, da stand es fast greifbar vor seinen Augen – sein Traumbild, die verschleierte Gestalt seiner „Namenlosen“! Und ebenso plötzlich floß diese mit der jener geheimnißvollen Korrespondentin in eins zusammen! Und da begann auch schon seine Feder ganz leise, wie von selbst, über das Papier zu laufen.

  „Mein Fräulein!
Zunächst muß ich Ihnen sagen, daß die Zurechtweisung, welche Sie mir ertheilen wollten, ihren ursprünglichen Zweck zweimal verfehlt hat. Erstens empfand ich beim Lesen Ihres Briefes statt der mir zugedachten, unangenehmen Ueberraschnng ein aufrichtiges Vergnügen, zweitens enthielt er fast nichts, was ich mir nicht vorher schon selbst gesagt hätte!

Warum aber sandte ,Herr Freimuth aus Grützburg’ ein derartiges Inserat in die Welt, wenn er sich über dessen Wirkung auf jedes wohlerzogene, feinfühlige Mädchen im voraus so klar war? höre ich Sie fragen.

Ja, mein Fräulein, um das zu begreifen, müßten Sie meine ganze Lebens- und Entwicklungsgeschichte kennen, müßten wissen, wie weltfern, wie einsiedlerisch ich meine Jünglingsjahre verbracht habe. Das Schicksal gab mir damals keine Zeit, mit den Frauen Fühlung zu suchen. So lange es jeden Tag Neues zu lernen und Erlerntes in Thaten umzusetzen galt, ward mir der Mangel in meinem Dasein nicht fühlbar; jetzt, da ich Zeit habe, von selbstgewonnenen Lebenshöhen zurückzuschauen, empfinde ich es plötzlich, daß ich alleinstehe! Und aus diesem neuen, fremden ,Heimwehgefühl’ heraus entstand jenes thörichte Inserat! Allerlei äußere Eindrücke, unterstützt durch den Zauber des nahen Weihnachtsfestes, machten mich auf einige Tage beinah wundergläubig, wie ich es einst als Kind gewesen war. Ich meinte, es müsse irgendwo eine gleichgestimmte Seele sein, die mir vom Himmel bestimmt sei, die auf meinen Ruf antworten werde. So entschloß ich mich zu jenem Inserat, das sofort versandt wurde. Bei einem für gewöhnlich nichts weniger als empfindsamen Geschäftsmanne können Stimmungen der geschilderten Art – und stiegen sie auch aus den natürlichsten Quellen – naturgemäß nicht lange anhalten. Das Alltagsgesicht seiner Umgebung, die trockene Einförmigkeit seines Lebens verscheuchen schnell genug die dichterischen Träume, welche ihn vielleicht einmal heimlich in stiller Raststunde aufsuchen, wenn irgend eine äußere Anregung besondere Saiten in seiner Seele zum Tönen gebracht hat. So erging es auch mir. Auf den Gefühlsrausch folgte schnell das Erwachen und brachte Erkenntniß und Reue mit. Aber was half das? Lief doch meine Thorheit bereits gedruckt durch die Lande! Ich beschloß, der Sache den Rücken zu kehren, sie zu vergessen. Selbst die etwa einlaufenden Antworten sollten ungelesen bleiben. Ihnen zu erzählen, was mich diesem Entschlusse schließlich doch noch untreu machte, würde zu weit führen. Ich wiederhole nur, daß Ihr Schreiben mich außerordentlich angesprochen hat. Sie besitzen Muth und innere Selbständigkeit, jenen richtigen Stolz, ohne welchen ein echtes Weib nicht denkbar ist; kurz und gut, Sie verhalfen mir zu der angenehmen Erfahrung, daß es Mädchen von der Art meiner ‚Erträumten‘ in der That auch heute giebt! … Eines nur hätte ich von jener, von meiner Erträumten, anders erwartet: die Form der Zurechtweisung; ich vermisse darin neben dem Spott die weibliche Milde, die Töne eines freundlichen Herzens.

Sehen Sie, mein Fräulein, ich mußte Ihnen das sagen! Sie sollen ein wahrheitsgetreues Bild des Mannes erhalten, auf welchen Sie Ihre scharf gespitzten Pfeile gerichtet haben, sowie der Eindrücke, die der Gemaßregelte empfing. Das ist der Zweck meines Briefes. Die Hoffnung, bei Ihnen nach dieser rückhaltlosen Aussprache einiges Verständniß und im Anschluß daran richtigere und wohlwollendere Beurtheilung zu finden, wird das freundlichste Lichtlein meines einsamen Weihnachtsabends sein.
Freimuth.“     

Der Brief war ganz anders ausgefallen, als Claudius ursprünglich im Sinne hatte; gern würde er einiges, zumal den gefühlsseligen Schlußsatz, gestrichen haben, allein er entschloß sich nach besserer Ueberlegung, das Schriftstück unverändert abzusenden. Handelte es sich doch für ihn hauptsächlich darum, daß das Mädchen ihn und sein Verhalten so bald als möglich im richtigen Lichte sah, selbst wenn sie niemals wieder von einander hörten.




4.0 Was der Weihnachtsmann brachte.

Wie alljährlich so auch diesmal hatten Eberhards den Doktor Claudius zur Feier des Christabends in ihr trauliches Heim eingeladen, und wie alljährlich hatte er diese Einladung abgelehnt. Er wollte ruhig daheim bleiben und den Abend mit einem vernünftigen Buche zubringen.

In Kronfurth waren inzwischen Gerlachs geheimnißvolle Ritte nach der Nachbarstadt bekannt geworden und man machte sich seinen Vers darauf; natürlich einen, der die Wahrheit nicht im entferntesten streifte. Frau Edith war recht böse, als ihr die schön ausgeschmückte Mär durch die jüngste und unternehmendste Trägerin eines Mozartzopfes zugebracht wurde.

„Albert soll eine Liebelei mit der Grützburger Postmeisterstochter angebändelt haben! Wie findest Du das?“ sagte sie gleich nach Aufbruch der Besucherin höchst aufgebracht zu ihrem Gatten. „Das Mädchen hat gar keine Erziehung und nicht einen Heller Vermögen! Da müssen wir sofort eingreifen!“

„Zunächst empfiehlt es sich, die Nachricht auf ihre Begründung zu prüfen, Mäuschen,“ erwiderte der bedächtigere Professor.

„Emmy Weinland, von der ich die Sache gehört habe, lügt nicht, lieber Mann.“

„Nein, aber sie verbreitet Erlogenes, und das ist fast gleichbedeutend. Sie trägt unbedenklich weiter, was beim Kronfurther Kaffee ersonnen wurde.“

„Nun, wir werden sehen. Jedenfalls ist es unsere Pflicht, Albert von thörichten Streichen abzuhalten, und ich hoffe, daß Du mich darin unterstützen wirst.“ –

Obschon Claudius für sich selbst von einer eigentlichen Weihnachtsfeier absah, that er doch alles dazu, um seine Angestellten zu erfreuen und insbesondere seinem Hause einen heitern, festtägigen Anstrich zu verleihen. Er dachte an alles und an alle. Sogar Fräulein Adele Finnig, die Verfasserin der „Trübsalstropfen“, war mit einer Kiste stärkenden Weines bedacht worden, und Albert Gerlach hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, jede Flasche mit der Nebenetikette „Trostestropfen“ zu versehen.

Nun saßen die beiden Freunde nach Besorgung dieser Überraschungen noch bei einem Glase Wein zusammen. Es war am Nachmittag vor dem Christabend.

„Ihr Wein ist gut, Doktor!“ begann Gerlach das Gespräch, „gut namentlich für mich, der ich mir Muth trinken muß. Meine Schwester scheint nämlich – nach der Kürze und dem eigenthümlichen Tone ihres Handschreibens zu urtheilen – etwas Besonderes, eine moralische Kopfwaschung oder dergleichen, für mich in Absicht zu haben. Da will ich, Ihre gütige Erlaubniß vorausgesetzt, nachher hinüberreiten, um der Sache auf den Grund zu kommen!“

„Dem steht nichts im Wege, nur hätte ich Sie gern um sechs Uhr, zur Leutebescherung, wieder hier. Sie könnten übrigens meinen Wagen nehmen und mir den Gefallen thun, meine kleinen Weihnachtsscherze für Eberhards bei dieser Gelegenheit abzuliefern. Man möge die bereits überschriebenen Päckchen unter den Christbaum legen und, wenn die Lichter brennen, freundlich des Sonderlings von der Drachenburg gedenken!“

„Soll bestens besorgt werden! Und um sechs Uhr bin ich sicher zur Stelle.“ –

Was für ein stiller Nachmittag das war! Niemand kam, dem einsamen Fabrikherrn einen Weihnachtsbesuch abzustatten, nicht einmal sein Traumbild! Claudius saß im Dunkeln am Fenster des [543] Speisezimmers und blickte in den Hof hinaus. Der war freundlich erhellt. Geschäftig, leuchtende Laternchen in den Händen, liefen feine Leute hin und her. Jedermann that heute seine Pflicht doppelt schnell, um nachher frei zu sein, jedermann besaß irgend ein Wesen in der Welt, um dessenwillen ihm der Weihnachtsabend zum echten, rechten Herzensfeste wurde! Nur er selbst hatte kein Heim, welches die Liebe zur wirklichen Heimath gemacht hätte, er kam sich verarmt vor inmitten der Behaglichkeit seines von vielen beneideten Junggesellenlebens.

So verstrich die Zeit. Kopfschüttelnd erschien der schöne Amadeus, um die Gaskronen anzuzünden. Er verstand seinen Doktor nicht mehr. Dieses stundenlange unthätige Sitzen im Dunkeln war kein gutes Zeichen. Die Mertens meinte es auch. Sie hatte die Karten zu Rathe gezogen und „Veränderung im Hause“ herausgelesen. „Und die kommt durch eine schwarze Frauensperson, Herr Amadeus, darauf können Sie Gift nehmen!“ Das that der Herr Amadeus nun gerade nicht. Er nahm statt dessen einen Schluck von seines Herrn altem Cognac und begnügte sich damit, der Pique-Dame, welcher die Mertens ihren dicken Zeigefinger auf die Brust gesetzt hatte, einen drohenden Blick zuzuwerfen. Aber die Sache ging ihm im Kopfe herum, zumal als er seinen Doktor jetzt so geistesabwesend am Fenster sitzen und in die Dunkelheit hinausstarren sah!

Nun schlug es fünf auf der Hermannsthaler Fabrikuhr. Und da rollte auch schon der Wagen mit Gerlach zum Hofthor herein. Gleich darauf trat dieser ins Zimmer und brachte eine Fluth frischer, reiner Winterluft mit.

„Grüß’ Gott, Doktor! Ich wollte nicht zögern, mich vom Urlaub zurückzumelden.“

„Brav, lieber Gerlach! Die ‚Kopfwaschung‘ scheint übrigens, nach Ihrer heiteren Miene zu urtheilen, nicht sonderlich schlimm ausgefallen zu sein.“

Der junge Mann warf seinen Ueberrock mit einer gewandten Bewegung ab und trat nun in tadellosem schwarzen Abendanzuge dicht vor den Fabrikherrn. „Schauen Sie mich an!“ sagte er mit Pathos. „So und nicht anders sieht ein Märtyrer der Freundschaft aus!“

„Nicht übel! Und für wen, wenn man fragen darf, hat dieser ‚Salon-Märtyrer‘ geblutet?“

„Für den, der fragt, Verehrtester! Ja, ja – im Ernst. Die Kopfwaschung betraf nämlich meine häufigen Ritte nach Grützburg, von denen Eberhards eine allerliebste Auslegung erhalten haben müssen! Edith eröffnete mir sogleich, daß ganz Kronfurth um meine nahen Beziehungen zu der Grützburger Postmeisterstochter wisse, und fügte wohlwollend hinzu, ich möge mich schämen, wenn mir die Fähigkeit dazu nicht etwa auch abhanden gekommen sei! Mein Schwager nahm die Sache ruhiger, aber selbst er hielt es für nöthig, mir vorzustellen: ich hätte vorsichtiger sein und die Unmöglichkeit einer Verbindung mit jenem Mädchen rechtzeitig bedenken müssen. Jetzt wäre wohl auch ich verdientermaßen zu Worte gekommen, hätte sich nicht das ‚herzige Nellychen‘ gerade diesen entscheidungsvollen Augenblick ausgewählt, um kopfüber in einen vermuthlich zu ganz anderm Zweck bestimmten Eimer voll Seifenwasser hineinzuschießen! Diese eigenartige Festaufführung nahm das erschrockene Elternpaar derart in Anspruch, daß an eine erfolgreiche Vertheidigungsrede meinerseits nicht mehr zu denken war. So benutzte ich denn die allgemeine Verwirrung, um zu entfliehen, in den Wagen zu springen und – hier bin ich!“

Claudius lachte herzlich. „Da haben Sie in der That für mich geblutet, armer Freund. Aber ich werde die Sache sowohl Eberhards als ‚ganz Kronfurth‘ gegenüber bald aufklären, dessen dürfen Sie gewiß sein.“

„Daran liegt mir nichts. Meine völlige Schuldlosigkeit gegenüber der vielleicht sehr verführerischen, leider von mir noch nie gesehenen Postmeisterstochter muß ja schließlich durch das Mädchen selbst an den Tag kommen. Lassen wir also den Dingen ihren Lauf, schon um Ihres kleinen Romans willen.“

„Der ist beendet und – halb vergessen.“ Sie wußten beide, daß das nicht der Wahrheit entsprach, aber jetzt fehlte die Zeit zu weiterem Gedankenaustausche. Die Stunde der Leutebescherung war da. Fröhlich ging die Feier heute wie allemal von statten, beschlossen durch einen vom Kronfurther Pfarrvicar gespielten Choral, in welchen groß und klein voll andächtiger Freudigkeit einstimmte.

Der schöne Amadeus und die Mertens erhielten ihre Gaben besonders und zogen sich dann sehr vergnügt in die punschdurchdufteten unteren Regionen der Drachenburg zurück.

„Nun sind wir frei,“ sagte Claudius, als er schließlich mit Gerlach in dem großen Bescherungssaal allein zurückgeblieben war. „Aber ich will Sie den Geschwistern nicht ungebührlich lange entziehen. Meine kleinen Freundschaftsgaben wird Ihnen Frau Edith in Kronfurth bescheren.“

„Sie beschämen mich, Doktor! Besonderer Gaben bedarf es wahrlich nicht, wo Ihr Vertrauen, Ihre Zuneigung mich täglich aufs neue so reich machen! Aus eigenem Können weiß ich nichts auch nur annähernd Gleichwerthiges dafür zu bieten. Doch hier“ – er zog einen Brief aus der Brusttasche seines Rockes und legte ihn unter den Tannenbaum, neben welchem sie standen – „hier ist eine kleine Festgabe, die Ihnen vielleicht Freude bringt. Ich fuhr nach dem Kronfurther Verhör noch schnell zur Grützburger Post hinüber. Eine Ahnung sagte mir, der vierundzwanzigste Dezember werde Ihnen ein Gedenkzeichen von Nummer fünf bringen!“

„Gerlach!“

„Lesen Sie den Brief nur erst, bester Freund! Vielleicht ist er recht stachlig, so stachlig wie die beiden andern, und dann werden Sie mir kaum noch Dank dafür wissen … Indessen gehe ich, mich zu meiner Fahrt nach Kronfurth zu rüsten.“

Kaum war Claudius in der Stille des Aristoteleszimmers allein, so öffnete er den Brief. Nummer fünf befleißigte sich auch diesmal der gewohnten Kürze, aber sie hatte ein offenbar vom eigenen Weihnachtsbaum gebrochenes, frischduftendes Tannenreis beigefügt. – „Noch einmal schreibe ich Ihnen, mein Herr! Das letzte Mal. Allein ich muß Ihnen sagen, wie leid es mir thut, Sie verkannt zu haben. Ja, verkannt! Ihr Inserat machte mir einen gesuchten, gekünstelten, mit einem Wort einen unwahren Eindruck. Nur die höchste Anmaßung und Verschrobenheit oder ein schlechter, sehr schlechter Scherz konnten nach meiner ersten Empfindung der Sache zugrunde liegen. Ich weiß nun, daß ich irrte, und bitte Sie, mir zu vergeben. Etwas möchte ich Ihnen außerdem sagen, etwas aufrichtig Gutgemeintes: stellen Sie sich den Frauen gegenüber auf einen neuen, einen richtigeren Standpunkt! Dann werden Sie auch – ich prophezeie es Ihnen – eines Tages jene ‚gleichgestimmte Seele‘ finden.“

„Du selbst bist es – die gleichgestimmte Seele!“ murmelte Claudius, und seine Hand schloß sich fester um das Tannenreis. Dann las er weiter: „Glauben Sie mir, Herr Freimuth, die Ihnen so verhaßte moderne Mädchenerziehung ist bei weitem nicht das, was Sie aus der Vogelschau in ihr erblicken. Geschraubtheit und Unnatur hat es immer gegeben, sie sind keine ausschließlichen Eigenschaften unserer Zeit. Auch die Mode, gegen welche Ihr Inserat gleichfalls einen kleinen Ausfall macht, brachte immer neben Gutem und Nützlichem Unschönes und Verkehrtes – und immer ließen sich hier und da selbst vernünftige Frauen durch Beispiel und Gewohnheit zu kleinen Geschmacksverirrungen verleiten, ohne dadurch ihres innern Werthes verlustig zu gehen. Und nicht selten ist die äußere Erscheinung das Ergebniß zwingender, namentlich materieller Lebensumstände, sodaß sich in geschmackloser oder gar lächerlicher Hülle eine köstliche Perle bergen kann. Damit ist nicht gesagt, daß Herr Freimuth aus Grützburg fortan jeder Vogelscheuche nachlaufen und sie auf ihren inneren Werth hin prüfen soll; aber gut acht haben, nicht von oben herab vorschnell verurtheilen, was er nicht kennt, und vor allem das Schöne und Gute seiner Zeit nicht über nutzlosen Träumen übersehen und versäumen – das soll er!

Lachen Sie nicht über diese Sittenpredigt! Ich habe gerade darüber viel nachgedacht. Mein Leben gleicht in seinen äußeren Umrissen einigermaßen dem Ihren. Auch ich wuchs weltfremd empor in eigenartiger geistiger Luft, durch die Verhältnisse vom rechten, echten ‚Jungsein‘ zurückgehalten, und finde nun den Weg in die Welt der Andern nicht mehr, ohne aber deshalb diese Welt zu verkennen oder gering zu achten. Ein Bekenntniß für das andere, Herr Freimuth! Sehen Sie in dem meinigen ein Zeichen der Achtung!

Und zuguterletzt: dieses Zweiglein soll Ihnen: ‚Fröhliche Weihnachten!‘ wünschen und fürs kommende Jahr ein reiches, echtes Glück!

Antworten Sie mir nicht, denn weitere Zuschriften würden nicht in meine Hände gelangen. Gott mit Ihnen!
Die ‚Kamerunerin‘.“ 
[544] „Und fürs kommende Jahr ein reiches, echtes Glück!“ Wär’s nicht, als habe das eine sanfte Frauenstimme in seine Einsamkeit hereingerufen?. „Ich werde Dich finden, auch wenn ich Dir nicht mehr schreiben darf!“ sagte Ernst Claudius in tiefem Sinnen. Da schob sich der schöne Amadeus, dessen bescheidenes Anklopfen der Fabrikherr offenbar überhört hatte, lautlos wie ein Schatten zur Thür herein, scharfen Auges die Lage überschauend. Seltsam! Da stand sein Herr, selbstbewußt und hochaufgerichtet wie einer, der vor einer wichtigen Unternehmung steht, und ein siegesgewisses Lächeln schwebte um seine Lippen.

„Was giebt es, Amadeus?“

„Herr Gerlach ist im Begriff, nach Kronfurth zu fahren, Herr Doktor. Er möchte sich verabschieden.“

„Schon recht. Bringen Sie ihm das hier!“

Es war ein Blättchen, worauf der Fabrikherr geschrieben hatte: „Warten Sie zehn Minuten! Ich fahre mit.“

Albert Gerlach war angenehm überrascht, als Claudius bald darauf zu ihm in den Wagen stieg. Der Fabrikherr schien trefflicher Laune zu sein.

„Lassen Sie mich Ihre Rechtfertigung bei Edith übernehmen, lieber Freund!“ äußerte er. „Ich denke, wir werden nachher alle miteinander einen recht fröhlichen Weihnachtsabend haben.“

Gerlach ahnte wohl, was den Fabrikherrn so plötzlich äußerlich und innerlich verwandelt hatte, aber er sprach sein Verständniß nicht in Worten, sondern nur durch einen kräftigen Händedruck aus. Dann fuhren sie in zufriedenem Schweigen nach Kronfurth.

[558] Frau Edith war erstaunt und erfreut zugleich, als sich im Vorzimmer zwei aus ihrer winterlichen Hülle schälten.

„Claudius! Nein, das ist zu reizend von Ihnen!“ rief sie fröhlich aus. „Es zeigt uns, daß Sie doch mehr auf unsere freundschaftlichen Beziehungen halten, als man Ihrer einsiedlerischen Zurückhaltung nach manchmal annehmen möchte. Ich habe übrigens Sophie Adler zur Bescherung eingeladen, das ist Ihnen doch nicht unangenehm? Das gute Mädchen stand mir während Nellys Krankheit so treu zur Seite und hat zu Hause wirklich gar nichts. Die älteren Geschwister schnappen ihr jedes Vergnügen vor der Nase weg.“

Unter andern Umständen würde der Doktor nicht viel für Frau Ediths Günstling übrig gehabt haben; heute aber, mit dem Briefe der „Kamerunerin“ in der Tasche, fühlte er sich geneigt, jedermann Wohlwollen und ein günstiges Vorurtheil entgegenzubringen. Vielleicht war Sophie Adler in der That ein gutes Mädchen. Jedenfalls wollte er sie heute dafür nehmen. So war er denn liebenswürdig gegen alle, liebenswürdig auch gegen Sophie. Ihr häufiges Erröthen verrieth, wie beglückt sie darüber war. Sie dachte an ihre Schwestern zu Hause. Flora und Dora werden sich schön ärgern, wenn sie ihnen heute nacht vor dem Schlafengehen die wundervollen Einzelheiten dieses Weihnachtsabends zum besten giebt! Mit einer kleinen Bosheit des Fabrikherrn konnte Sophie den Schwestern zu ihrer innigen Genugthuung auch aufwarten. Claudius hatte nämlich bei Tische den Ausspruch gethan, die Kronfurther Damen seien eigentlich zum größten Theil geborene Dichterinnen, und dann mit einem durchdringenden Blicke auf Sophie hinzugefügt, er hoffe indessen, daß ihr diese verhängnißvolle Gabe vom Schicksal versagt geblieben sei. Sophie wußte nicht, wo er hinauswollte, hielt es jedoch für angebracht, die Gesellschaft davon zu unterrichten, daß sie in der Schule stets zu den „Besten“ gehört habe, wenn man Darstellungen in gebundener Rede habe liefern müssen.

Darauf hatte der Doktor mit eigenthümlichem Lächeln erwidert: „Nun, hoffentlich haben Sie sich dann wenigstens an der neuesten Dichtung Ihrer phantasiereichen Schwestern in Apoll nicht betheiligt, mein Fräulein! Ich meine jene böswillige Erfindung über Herrn Gerlachs Ritte nach Grützburg, die er für mich unternommen hat. Es handelte sich dabei um Briefschaften von Wichtigkeit. Herr Gerlach hat die Sache wie alle meine Angelegenheiten mit höchster Gewissenhaftigkeit besorgt, und ich beklage es aufrichtig, daß gerade seine Pflichttreue die Veranlassung zu einer so unangenehmen Erfahrung für uns werden mußte!“

Nun hatte Sophiechen begriffen und war tugendsam erröthet. „Ach ja, ich hörte im Montagskränzchen davon,“ sagte sie schüchtern, „habe aber in keiner Weise Theil an dem Gerücht und wünschte herzlich, von allen übrigen Kronfurtherinnen dasselbe versichern zu dürfen.“

„Also ist an der ganzen Geschichte mit der Postmeisterstochter kein wahres Wort?“ rief Frau Edith, zu dem Nüsse knackenden Bruder gewendet.

„Leider nein, Schwesterchen! Zu meinem Bedauern habe ich noch nicht einmal die Nasenspitze meiner ,Zukünftigen’ zu sehen bekommen!“

Damit hatte diese „Verlobung“ ihr Ende gefunden, ehe sie angebahnt war. Die kleine Gesellschaft blieb noch einige Stunden heiter und gemüthlich beisammen, dann trennte man sich in bester Stimmung. Claudius fuhr mit seinem Direktor nach Hermannsthal zurück; Sophie eilte wie auf „Adlersschwingen“ nach Hause. Dort feierte sie den ersten Triumph ihres bisher nicht sehr freudenreichen Daseins. Hocherhobenen Hauptes trat sie gegen Mitternacht ins Wohnzimmer, wo die Familie noch vollzählig beisammen saß.

„Guten Abend! Ich komme ein bischen spät, aber es ließ sich nicht anders machen.“ Sie staunten alle über den selbständigen Ton, in welchem die sonst so schüchterne Sophie ihre Erklärung abgab, und begannen zu ahnen, daß sich bei Eberhards etwas Ungewöhnliches zugetragen haben müsse. Sophie bestätigte das in vollem Umfang.

„Der Hermannsthaler war auch da!“ sagte sie, mit der gleichen majestätischen Haltung wie vorhin – „der Doktor Claudius nämlich.“

Das gab einen förmlichen Aufstand. Dora und Flora sprangen von ihren Stühlen empor, die Mutter setzte die zum Trinken erhobene Theetasse schnell nieder, und der Vater nahm die Pfeife aus dem Munde. Sophie fühlte sich als die Heldin eines welterschütternden Ereignisses.

„Ja! Jawohl!“ rief sie – „er war da. Und wie war er! Laßt es Euch nur von der Frau Professor erzählen! So liebenswürdig, so heiter hat ihn noch kein Mensch gesehen!“

„Komm’ her, Sophie! Setze Dich zwischen uns! Du mußt alles genau und ordentlich der Reihe nach erzählen!“ baten Dora und Flora. Das war es, was Sophie ersehnt hatte! So erzählte sie denn, erzählte ohne Ende – hatte sie doch jedes Wort, jeden Blick, jede Bewegung des Doktors mit der Gewissenhaftigkeit eines Polizisten in ihrem Gedächtniß gebucht. Und [559] während der Redestrom unaufhaltsam von ihren Lippen floß, weideten sich ihre Augen an der gespannten Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft. Und nun kam der Schlußtrumpf: das Vielliebchen. Ja, Doktor Claudius hatte in der That ein Vielliebchen mit ihr gegessen und es, was noch mehr heißen wollte, an sie verloren.

„Aus Ritterlichkeit wahrscheinlich,“ meinte die Mutter.

„Und um eine Anknüpfung zu haben,“ ergänzte der Vater. „Möglicherweise steht sogar sein unerwartetes Erscheinen bei Professors in irgend einer Beziehung zu unserer Tochter Sophie.“

So hoch verstiegen sich Sophies Muthmaßungen nicht, aber sie ließ die andern gewähren und fand es schon sehr angenehm, plötzlich aus dem rechtlosen Aschenbrödel des Hauses für jedermann zu einer Person von Bedeutung geworden zu sein. Mochte nun dieser gesegnete Umschwung so lange oder so kurze Zeit währen, als es in den Sternen geschrieben stand!




5.0 Else.

Es war im April und es regnete. Der Regen mochte vielleicht den Frühling bringen, allein dieses schöne „vielleicht“ nahm der Gegenwart nichts von seiner Trübseligkeit. „Es gießt wie mit Kannen, Mama,“ sagte die hübsche Blondine, welche am Fenster saß und auf die Straße hinunterblickte. „Und sieh nur“ – hier ward das zierliche römische Näschen gegen die Scheibe gepreßt – „da ist der schlanke Schwarzbärtige noch immer! Er spaziert nach wie vor so wohlgemuth durch den um ihn herumspritzenden Schmutz, als habe er sein Lebtag nichts anderes getan.“

„Laß ihn spazieren, Else, und kümmere Dich lieber um das Packen meiner Handtasche!“ klang es ein wenig verdrießlich aus einer fernen Sofaecke hervor. „Ich muß, wie Du weißt, auch noch mein ‚Nervenelixir‘ einnehmen, sonst halte ich das Schaukeln des Eisenbahnwagens gar nicht aus. Die Belladonnatropfen kommen natürlich ebenfalls in die Handtasche.“

„Jawohl, Mama! Ich werde nun nach Minna schellen. In einer Viertelstunde kommt der Wagen.“

Bald darauf hatte der Fremde, welcher sich in der That herzlich wenig um das Wetter, desto mehr aber um die Villa Heydecker zu kümmern schien, das Vergnügen, Mutter und Tochter in Begleitung einer Dienerin einen Landauer besteigen und davonfahren zu sehen, nicht ohne daß die hübsche Blondine noch einmal verstohlen nach ihm zurückgeblickt hätte. – In demselben Augenblick trat drüben ein alter Diener in schwarzgrüner Livrée aus der Villa, offenbar in der Absicht, den vornehm aussehenden Fremden, dessen Gebahren auch ihm aufgefallen sein mochte, ein wenig näher zu betrachten und womöglich dessen Vorhaben zu erfahren. Jener trat rasch auf den Neugierigen zu. „Dieses ist doch das Besitzthum der Frau Forstrath Heydecker, nicht so, mein Freund?“ fragte er, den Hut lüftend.

„Ganz recht, mein Herr, ganz recht,“ antwortete der Graukopf dienstbeflissen. „Dachte mir gleich, daß der Herr über die im Stadtblatt ausgebotene Villa Bescheid wünscht. Ja, die Frau Forstrath will verkaufen und nach Berlin zu ihrem Bruder, dem Herrn Professor Wetter, übersiedeln. Es ist den Damen hier in Hirschberg zu einsam geworden, wissen Sie, seit unser junger Herr an die Berliner Regierung versetzt wurde.“

„War es die Frau Forstrath, welche soeben fortgefahren ist?“ fragte der Fremde.

„Jawohl, mein Herr. Die Damen begeben sich zu einer mehrwöchigen Kur nach Wiesbaden. Unsere Villa steht daher ganz leer, wenn Sie also das Innere zu besichtigen wünschen –“

„Dazu fehlt mir für jetzt die Zeit. Ich danke Ihnen, mein Lieber.“ Der Fremde ließ ein Geldstück in die Hand des alten Dieners gleiten, grüßte freundlich und entfernte sich mit schnellen Schritten. – –

Als Fräulein Else zu Wiesbaden in der vorausbestellten Fremdenpension Sonnenbergerstraße Nummer 18 angelangt war, hatte sie den Schwarzbärtigen vollkommen vergessen und würde wohl nie mehr seiner gedacht haben, wäre er nicht schon am folgenden Tage aufs neue vor ihr aufgetaucht; noch dazu in ihrer Pension, an der Mittagstafel, gerade Mama Heydecker gegenüber! „Herr Doktor Claudius!“ sagte die Dame des Hauses, den Neuangekommenen bei der übrigen Tischgesellschaft einführend. Die darauf folgenden Einzelvorstellungen zwischen dem Fremden und seinen Nachbarn halfen Else über die erste Verlegenheit hinweg. Wenn ihr dieser Mann, woran sich kaum zweifeln ließ, von Hirschberg nach Wiesbaden und bis in dieses Haus gefolgt war, so verrieth jedenfalls sein Benehmen nichts davon. Er zeichnete sich durch große Ruhe und eine alle Tischgenossen gleichmäßig berücksichtigende, feine Höflichkeit aus. Sehr selten – so selten, daß die Uebrigen nichts bemerken konnten – ließ Doktor Claudius seine Blicke zu Else hinüberschweifen; wenn es aber geschah, so lag unverkennbar etwas wie eine Frage, wie ein verhaltenes Geheimniß in denselben, und Else fühlte sich ganz gegen ihre eigentliche Natur befangen. „Es ist, als ob mir diese durchdringenden dunklen Augen bis auf den Seelengrund schauen wollten!“ dachte sie mit einem kleinen Schauder. „Auf solche Art hat mich noch keiner meiner Verehrer angeblickt, wahrhaftig! Was nur Walter dazu sagen würde?“

In den folgenden Tagen fügte es sich ab und zu, daß Else und der Doktor miteinander ins Gespräch kamen. Claudius wußte sehr anziehend zu plaudern, er war wie einer, der von einer andern Weltkugel kam, nicht ein bißchen nach der „Schablone“, sondern ganz originell. Er sah jedes Ding durch seine eigene, klare Brille an und sprach davon mit Worten, die nicht angelernt, sondern empfunden und bedacht waren. Else war ein kluges Mädchen, und so hätten diese Gespräche ihr eine Quelle reinen Vergnügens werden können, wäre nicht ihr Gegenüber offenbar bestrebt gewesen, bei allem ihre Neigungen und Gewohnheiten, ihre Ansichten über Leben und Gesellschaft zu erforschen; allerdings in taktvoller, unaufdringlicher Art, aber – warum überhaupt?!

„Jetzt kennt er mich schon so genau wie sein Reisehandbuch,“ sagte das junge Mädchen nach Verlauf einer Woche zu sich selbst – „und ich weiß nichts von ihm außer dem Einen, daß er mich wie eine Landkarte kreuz und quer durchstudiert hat! Schließlich wäre es wohl an der Zeit, daß ich ihn einmal ganz frank und frei nach dem Grund seiner recht schmeichelhaften, aber ein wenig unheimlichen Antheilnahme an meiner unbedeutenden Person fragen würde.“ Und dann kam wieder der Schluß, in welchen so ziemlich alle ihre Selbstgespräche mündeten: „Was nur Walter dazu sagen würde?“ –

Unterdessen führte Claudius, während er in einem einsamen Theile des Gartens seine Abendcigarre rauchte, in ähnlicher Weise ein Selbstgespräch. Auch er sagte sich, daß es so nicht weiter gehen könne. Diese elegante Else Heydecker – ein „Weltkind“ im wahren, wenn auch nicht im schlimmen Sinne des Wortes – bildete in Erscheinung und Wesen das vollkommene Gegenstück zu dem Weibe, welches er hinter der Schreiberin jener beiden eigenartigen Briefe vermuthet hatte und das seiner „Erträumten“ in jedem Zuge glich. Und doch mußte er seinen Nachforschungen zufolge gerade in ihr die Verfasserin der Episteln vor sich haben. Vermochte sich Else in der That nicht anders zu geben, hatte sie nur während des Briefwechsels mit ihm ein anderes Selbst „angezogen“? Dann war der Stern, dem er gefolgt, nichts als ein „Irrlicht“ gewesen, und er konnte nach gewonnener Erkenntniß nichts besseres thun, als still heimpilgern, heim in die gewohnte Einsamkeit.

„Da bin ich wieder, Gerlach! Der ‚Roman‘ hat nun wirklich sein wohlverdientes Ende erreicht, Sie sollen das Schlußkapitel hören; dann aber ein für allemal ins Grab der Vergessenheit mit ihm!“ So hörte Claudius schon im voraus sich selber sprechen.

Am folgenden Tage stellte die Forsträthin der Tischgesellschaft einen Gast vor, der sich zum Besuch bei ihr eingestellt hatte. „Freiherr von Grollmann-Uckerhaus, Premierlieutenant bei den Dragonern, Bruder der Braut meines Sohnes, des Assessors, der unlängst nach Berlin versetzt wurde,“ ließ sich die alte Dame umständlich, mit sichtlichem Stolze vernehmen. Fräulein Else hatte ein sehr kleidsames, „dragonerblaues“ Kleid angelegt und schien trefflicher Laune. Offenbar war der Gast durch sie über die Tischgenossen, insbesondere über den „Fall Claudius“ einigermaßen unterrichtet worden, denn er warf bisweilen einen prüfenden, keineswegs freundlichen Blick zu dem Fabrikherrn hinüber, was diesen höchlich belustigte.

Für den Abend hatte die Badverwaltung ein Konzert mit Feuerwerk angesetzt und die gesammte Pensionsgesellschaft fand sich deshalb nach zeitig eingenommener Abendmahlzeit vergnüglich im nahen Kurgarten ein, Claudius allein war zurückgeblieben, um die im Hause herrschende Ruhe zur Erledigung von geschäftlichen Angelegenheiten zu benutzen. Nach beendeter Arbeit zog er sich in seinen Lieblingswinkel im Musikzimmer zurück, in eine vom Mittelpunkt des großen Raumes ziemlich entfernte und deshalb außerhalb des Lichtbereichs liegende, tiefe Fensternische. [560] Während drüben am andern Ende des Saales „irgend jemand“ am Flügel saß und „irgend etwas“ spielte, ließ sich hier behaglich träumen. Auch heute hatte sich Claudius eben zu diesem Genuß zurechtgesetzt, als er plötzlich die Stimmen von Else und dem Lieutenant in seiner Nähe hörte.

„Ich weiß schon, wo das Tuch liegt, Walter, ich danke Dir – Mama vergaß es auf dem Flügel,“ sagte das Mädchen. „Und nun muß ich noch einmal hinauf, das Beruhigungsmittel für Mamas Nerven zu holen. Sie fürchtet, durch das Knallen beim Feuerwerk –“

„Laß einen Augenblick das Beruhigungsmittel und das Knallen, Else, ich bitte Dich! Unser Thema ist noch keineswegs erledigt.“ Die Stimme des Offiziers klang erregt. Weder er noch Else schienen den Doktor zu gewahren; während dieser noch überlegte, ob es nöthig sei, die jungen Leute durch ein plötzliches Hervortreten zu erschrecken und in Verlegenheit zu setzen, erklang schon in etwas erregtem Tone die Antwort:

„Ich habe Dir alles der Wahrheit gemäß berichtet, Walter, wozu mich doch gewiß kein Mensch zwingen konnte, und daraus siehst Du am besten, wie ich mit diesem Doktor Claudius stehe, wie unbegründet wieder einmal Deine Eifersucht ist.“

„Ganz gut! Ich sage Dir aber, daß mir der Mann im höchsten Grade mißfällt und daß ich Dich nicht länger mit ihm unter einem Dache wissen mag! Er macht Augen an Dich hin! Vorhin hat er’s wieder gethan! Er – nun kurz und gut, eines von Euch muß aus diesem Hause! Du könntest Mama veranlassen –“

„Ich kann gar nichts, Walter, als höchstens dem Doktor Claudius im Vertrauen mittheilen, daß wir heimlich verlobt sind.“

„Mit Ihrer gütigen Erlaubniß, mein gnädiges Fräulein – er weiß es bereits!“

„Aber Herr Doktor! Sind Sie denn als ein zweiter ‚Hans Heiling‘ aus der Erde aufgestiegen?“

„Keineswegs, gnädiges Fräulein. Ich möchte mich sehr dagegen verwahren, von Ihnen und Ihrem Herrn Verlobten als finsterer Dämon angesehen zu werden, der Ihren Herzensbeziehungen feindlich gesinnt ist; ich möchte vielmehr Sie beide bitten, von der Aufrichtigkeit meiner Theilnahme, von meiner Freude über diese zufällige Enthüllung fest überzeugt zu sein!“

Claudius hatte diese Worte mit freimüthiger Herzlichkeit gesprochen. Else, die erst sehr verlegen war, reichte ihm jetzt lächelnd die Hand und der Freiherr folgte nach kurzem Zögern ihrem Beispiel.

„Wir danken Ihnen, Herr Doktor,“ sagte er mit einiger Befangenheit in Blick und Stimme. „Ich muß gestehen, daß ich mich in Ihnen geirrt habe, vergessen Sie, bitte, meine unzutreffenden Worte von vorhin.“

„Jene Worte waren ja nicht für mein Ohr bestimmt, Herr von Grollmann, und wie ich denke, auch nicht buchstäblich zu nehmen.“

„Dessen dürfen Sie versichert sein, Herr Doktor. Wäre mein Urlaub nicht morgen schon zu Ende, so würde ich es Ihnen gern durch die That beweisen.“

„Auch ich reise morgen ab, dringende Geschäfte rufen mich nach Hause. Wollen Sie mir gestatten, diesen letzten Abend in Ihrer Gesellschaft –“ ein lauter Knall schnitt dem Doktor die Rede ab.

„Das Feuerwerk beginnt!“ rief Else erschrocken, „und Mama sitzt ohne Tuch und ohne ihr Nervenmittel im Kurgarten am Weiher!“

„So laß mich mit dem Tuche vorangehen, Else. Du holst wohl indessen die Tinktur und folgst – unter dem Schutze des Herrn Doktors.“

Claudius verstand den jungen Offizier sofort. „Ich danke Ihnen,“ erwiderte er einfach, „eine schönere Genugthuung konnte mir nicht werden.“

Als Claudius und Else allein den Weg zum Kurgarten einschlugen, waren beide doch ein wenig befangen und schweigend schritten sie neben einander her.

„Wissen Sie, woran ich soeben dachte, Herr Doktor?“ unterbrach Else plötzlich die Stille – „an Ihr plötzliches Auftauchen in Hirschberg. Ihre ganze Art hatte auch dort etwas Absonderliches, Geheimnißvolles an sich; wollen und können Sie mir wohl vor unserm Auseinandergehen den Schlüssel dazu geben?“

„Herzlich gern, Fräulein Else. Befehlen Sie nur, wann!“

„Am liebsten sofort. Ich werde gleich die erste Frage thun: War ich der Gegenstand Ihrer Aufmerksamkeit?“

„Allerdings. Mein beharrliches Anfundabwandern vor Ihrem Hause war dadurch veranlaßt, daß ich Sie in Hut und Mantel am Fenster gesehen hatte und nun Ihr Herunterkommen abwarten wollte.“

„Um mit mir zu sprechen?“

„Zunächst nur, um Sie zu sehen.“

„Geschah das denn niemals vordem bei anderer Gelegenheit?“

„Niemals. Sie waren mir persönlich ganz fremd. So fremd wie Hirschberg, wo ich erst am Morgen jenes Tages angelangt war.“

„Sie haben aber doch Hirschberg nicht um meinetwillen aufgesucht?“

„Nur um Ihretwillen.“

„Da sehen Sie! Ich ahnte es doch gleich, daß dieser sonderbaren Begebenheit ein ungewöhnliches Geheimniß zugrunde liegen müsse. Habe ich recht?“

„Vollkommen. Und jetzt sollen Sie den Schlüssel zu dem Geheimniß empfangen, Fräulein Else. Ich bin Freimuth aus Grützburg!“

Das Wort traf! Claudius sah es im Schein der nahen Gaslampen, wie Else zusammenzuckte und tief erröthete. Auch ihre Stimme klang unsicher, als sie nach einer kleinen Pause entgegnete:

„Das erklärt allerdings viel, aber nicht alles.“

„Was wünschen Sie noch zu wissen?“

„Wer Ihnen meinen Namen verrieth, meine Wohnung nannte!“

Claudius lächelte über die steigende Erregung seiner Begleiterin. „Das machte sich alles ganz einfach,“ sagte er. „Nachdem Sie mir die Möglichkeit abgeschnitten hatten, Sie kennen zu lernen oder auch nur wieder an Sie zu schreiben, wandte ich mich an den Photographen der ,Kamerunerin“ und erbat mir in ganz geschäftsmäßiger Weise Auskunft über den Ursprung des Bildes, das zufällig in meine Hände gelangt sei. Das war nur ein unsicherer Versuch, allein ich hatte Glück. Man schrieb mir sehr artig, daß die photographische Aufnahme nur einmal und zwar für Fräulein Else Heydecker in Hirschberg nach einem im Besitz der genannten Dame befindlichen Buntdruckbildchen gemacht worden sei. Da ich es mir in den Kopf gesetzt hatte, die Verfasserin jener Briefe persönlich kennenzulernen, so wär’ ich am liebsten gleich Mitte Januar in den Reisewagen gestiegen, doch gab es zuvor allerlei geschäftliche ‚Steine des Anstoßes‘ aus dem Wege zu räumen. Als die Bahn frei war, schmolz bereits der Schnee. Ich packte mein Ränzel, marschierte in die Welt hinaus –“

„Und ganz tapfer mitten in den Hirschberger Aprilschmutz hinein, das muß ich sagen!“

Else lachte wieder, der Schreck schien überwunden. „Und dann, Herr Doktor?“ fragte sie, das Köpfchen schelmisch zur Seite neigend.

„Jetzt wissen Sie alles, Fräulein Else, und werden mir gewiß die Berechtigung zugestehen, zuguterletzt auch meinerseits einige Fragen zu thun.“

„Betreffs meiner Person?“

„Allerdings. Sie sollen mir gleichfalls ein Räthsel lösen. Wie erklärt sich die tiefe Verschiedenheit zwischen der ausgeprägten Geistesart, die mir aus Ihren Briefen entgegentrat, und zwischen dem Wesen, welches Sie mir seit unserer persönlichen Bekanntschaft gezeigt haben? Warum finde ich, seit der mündliche Gedankenaustausch an Stelle des brieflichen getreten ist, meine wohlwollende Gegnerin in keinem Worte, keiner Empfindung wieder?“

„Aber lieber Doktor! Wissen Sie denn nicht, daß in jedem Weibe etwas von einer Sphinx steckt, daß jedes eine Art Doppelwesen ist? Des Dichters Wort: ‚Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!‘ – es paßt vor allem auf unser Geschlecht.“

„Fein pariert! Aber so schnell ergebe ich mich nicht. Gestehen Sie nur, Sie haben mit dem thörichten Herrn Freimuth ein wenig Komödie gespielt, und es macht Ihnen jetzt Vergnügen, zu sehen, wie der Ungeschickte enttäuscht ist, daß die Briefe nur aus einer angenommenen Rolle heraus geschrieben waren.“

„Vergessen Sie nicht, Herr Doktor, daß die ,Rolle‘ in einem einzigen Briefe bestand und damit ein für allemal beendet sein sollte. Alles weitere erzwangen Sie sich, Sie haben also etwaige Enttäuschungen lediglich Ihrem eigenen Vorwitz zu danken.“

„Sehr richtig! Und so können wir denn unsern kleinen, lehrreichen Roman recht passend mit dieser Fibelmoral schließen,“ fiel Claudius heiter ein. Wenn er seinen Traum auch nicht ohne ein gewisses Schmerzgefühl in nichts zerrinnen sah, so sollte doch [562] Else dies nicht aus seinen Mienen herauslesen. Zudem dauerte ihn das Mädchen, das offenbar unter dem Eindruck litt, dem Doktor gegenüber in ein falsches Licht gerathen zu sein. So ging er bald auf in dem Bestreben, den auf ihrem Gemüth lastenden Schatten durch sein Benehmen wieder zu zerstreuen. Es gelang ihm auch vollständig, und da seine Liebenswürdigkeit von wohlthuender Herzenswärme getragen war, so bildeten sich im Verlauf dieses Abends und des folgenden Tages, mit dessen scheidender Sonne auch er zu scheiden gedachte, die freundschaftlichsten Beziehungen zwischen ihm und der Familie Heydecker.

Der Augenblick der Trennung kam für alle zu schnell. „Ich kann das Abschiednehmen nicht vertragen!“ klagte die Forsträthin, ihr Taschentuch und das Nervenmittel aus der Tasche ziehend. „Es macht mich allemal krank, besonders wenn der Scheidende ein angenehmer Mensch ist.“

Else sprach wenig. Zuletzt schien es, als wollte sich noch ein besonderes, bisher gewaltsam zurückgehaltenes Äbschiedswort auf ihre Lippen drängen, allein es wurde nicht gesprochen, vielleicht, weil sich die gesammte Pensionsgesellschaft um Claudius versammelt hatte. Der Lieutenant geleitete den Scheidenden zur Bahn. Noch in den letzten Stunden hatte er in Erfahrung gebracht, daß Ernst Claudius, dieser „höllisch nette Kerl“, Landwehroffizier bei der Kavallerie, demnach ein „Kamerad“ sei, und so ließ er es sich doppelt angelegen sein, jede Rücksicht zu üben.

„Also es bleibt dabei, unsere Hochzeit machen Sie mit, Doktor!“ sagte er noch im letzten Augenblick vor Abgang des Zuges.

„Es gilt! Und als Gegenleistung erbitte ich mir Ihren und Ihrer Frau Gemahlin Besuch auf der Rückkehr von der Hochzeitsreise – vorausgesetzt, daß Sie die erforderliche Nachsicht gegen alle Unzulänglichkeiten meines Junggesellenheims mitbringen wollen.“

„Alles, was Sie wünschen, wird mitgebracht, Herr Kamerad. Aber wär’ es nicht schöner, Sie selbst würden bis zu unserm Kommen eine liebliche junge Hausfrau nach Hermannsthal führen?“ Der schrille Pfiff der Lokomotive übertönte die Antwort des Doktors. Noch ein Händedruck, ein „Auf Wiedersehen!“, dann setzte sich der Zug in Bewegung.

[575]
6.0 Vorstadt-Idyll.

In Kronfurth ging während der Abwesenheit von Claudius alles im alten Geleise. Man arbeitete, politisierte, trug Neuigkeiten zu getreuen Freunden und Nachbarn, und wenn es möglich war, so verband wenigstens die weibliche Welt die Arbeit und die Besprechung des neuesten Stadtklatsches miteinander.

Im Hause des Polizeiraths Adler saßen dessen Töchter Dora und Flora stickend am Fenster. Sie verfertigten einen Schreibtischteppich für ihren Vater und waren eben daran, eine Anzahl dickköpfiger junger Möpse auf einer grellgrünen Wiese zu entwerfen; allein das verhinderte sie nicht, den Straßenverkehr scharfäugig zu überwachen und spitzzüngig zu kritisieren, hier und da mit Vorübergehenden Grüße zu wechseln und über die einzelnen boshafte Bemerkungen auszutauschen. Sophie, welche am großen Mitteltische mit Zuschneiden beschäftigt war, betheiligte sich nicht an der Unterhaltung. Obschon seit jenem vielversprechenden, weihnachtlichen Triumphabend, auf den der Hermannsthaler nur noch seine Vielliebchengabe und dann nichts weiteres hatte folgen lassen, ihr Siegesglanz ein bißchen verblichen war – so gelang es den Schwestern dennoch nicht, sie wieder zur Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Sophie hatte Selbstbewußtsein genug gewonnen, um allenthalben zu zeigen, daß sie Individualität und eigene Ansichten besaß. Sie führte bei den häuslichen Schwesterkriegen hinfüro eine anerkannt gute Klinge, welche in jüngster Zeit mehrfach im Dienste der Wahrheit gegen die Verleumdung, im Dienste des Doktor Claudius gegen Kronfurth geschwungen worden war. Eine geheimnißvolle Geschichte von einer Farbigen, einer Kamerunerin, die der Doktor heirathen wolle, war durch den schönen Amadeus, der gehorcht und die Photographie der Schwarzen auf dem Schreibtisch seines Herrn gesehen haben mochte, erst in die Küche von Hermannsthal gelangt und von da natürlich nach Kronfurth. Man sagte sich, daß doch „etwas dran sein“ müsse, und wer noch ein paar Haare dazu übrig hatte, dem sträubten sie sich in ehrbarer Entrüstung. Diese vielbesprochene Geschichte war soeben wieder seitens der beiden Stickerinnen verhandelt worden, als plötzlich Dora den Gegenstand ihrer augenblicklichen Fürsorge, einen halbvollendeten Hundeschwanz, [576] aus den Händen gleiten ließ und sich weit vorneigte. Jemand hatte zum Fenster heraufgegrüßt, die Mädchen dankten holdselig.

„Der Hermannsthaler!“ rief Dora. „Er sieht ja gar nicht anders aus als sonst!“

„Nun, wenn die Schwarze echt ist, so wird sie nicht abfärben,“ meinte Flora. „Sei versichert, das Geschöpf sitzt bereits in Hermannsthal, auf dem neuen weinrothen Sofa, von dessen Ueberzug der Meter zwanzig Mark kostet. Das mag ein recht harmonisches Bild sein, Schwarz und Roth gehen ausgezeichnet zusammen.“

Bis hierher hatte Sophie schweigend ihre Kreidestriche gezogen, ihre festen, sichern Schnitte mit der großen Schneiderschere gethan. Jetzt fuhr sie von der Arbeit empor und erklärte mit bestimmtem Tone: „Laßt nun endlich einmal den Doktor in Ruhe mit Euren thörichten Vermuthungen. Ich freue mich über seine Rückkehr, denn nun wird es sich bald genug zeigen, daß an der ganzen albernen Klatschgeschichte kein wahres Wort ist.“

Damit räumte sie ruhig ihre Arbeit zusammen und verließ das Zimmer. Sie war fest entschlossen, Claudius bei nächster Gelegenheit über den Stadtklatsch aufs genaueste zu unterrichten. Er sollte Feind und Freund kennenlernen, sollte der Verleumdung offen entgegentreten können! – –

Indessen schlenderte Claudius ruhig weiter, nicht ahnend, daß sein Erscheinen die Kriegsfackel in dem polizeiräthlichen Hause entzündet hatte. Seit zwei Tagen war er wieder daheim. Vor ihm hatte der Frühling seinen Einzug in Hermannsthal gehalten, ein Frühling, welcher dem Fabrikherrn farbloser erschien als irgend ein früherer, den er aber – das gestand er sich selbst – schöner als alle vorangegangenen gefunden haben würde, wenn seine Reise nach dem Glück von Erfolg gekrönt gewesen wäre, wenn sie, die Erträumte, als frühlingsfrische Wirklichkeit neben ihm auf den umgrünten Pfaden hingeschritten wäre.

Gerlach hatte das Schlußkapitel des Romans vernommen und gar nicht übel gefunden. „Es ist ungewöhnlicher als das beliebte Ende mit Hochzeitsglockenklang,“ sagte er. „Hoffentlich verdrießt es Sie nicht gar zu sehr, nun bis auf weiteres so nach alter, unromantischer Art mit mir auf der Drachenburg fortwirthschaften zu müssen?“

„Sicherlich nicht, liebster Gerlach. Sie sind ein Lebensgefährte, mit dem sich’s trefflich hausen läßt. Und ich denke auch:

‚Alles kommt
Wie’s uns frommt!‘“

So lagen die Dinge, als eines Morgens in Hermannsthal ein dicker Brief aus der Hauptstadt eintraf, der auf der Rückseite ein breit aufgedrücktes freiherrliches Wappen zeigte. Clandius öffnete ihn nicht ohne innere Antheilnahme, denn er vermuthete sofort, daß der Brief von Lieutenant Grollmann herrühre; es mußten wohl nähere Nachrichten über das Glück des jungen Paares darin enthalten sein, und doch wollte sich im Hintergrund seiner Seele etwas wie Gleichgültigkeit regen. Was konnte man ihm von Berlin, was von irgend einem Orte auf der ganzen weiten Welt für sein eigenes Herz zu sagen haben?

Herr Walter schrieb erstaunlich viel und recht freundschaftlich.

 „Lieber Herr Kamerad!
Was Sie denken werden, wenn Sie diesen Brief empfangen, ist nicht! Die Schwiegermama in spe ließ sich noch nicht breitschlagen, obschon ich’s gleich nach Ihrer Abreise versuchte. Sie will ihre Jüngste und Letzte nicht so schnell hergeben; sie hat eben keinen Schimmer davon, wie kolossal mich das Junggesellenleben anödet und wie riesig ich Else liebe. Sie meint, ich möge im Herbst ’mal wieder nachfragen. Aus dieser Rücksichtslosigkeit ersehe ich aber, daß sie doch noch ’mal meine Schwiegermutter wird und alles andere nur äußerlich ist. Darauf hin wird die Festung ununterbrochen weiterbombardiert, bis sie sich ergiebt oder – fällt. So, das wären meine Angelegenheiten; nun kommen die Ihrigen. Sie meinen, die gingen mich nichts an? Nur langsam, Herr Kamerad! Es handelt sich nämlich um die Geschichte der Kamerunerin. Ich erfuhr die Sache auch erst an jenem letzten Abend in Wiesbaden. Else vertraute sie mir an, da sie sich Ihnen gegenüber einigermaßen schuldig fühlte und meine Ansicht darüber hören wollte. Else hat Ihnen nämlich nicht die ganze Wahrheit gesagt, lieber Doktor, sie hat – ja, ich merke, ich muß Ihnen die Geschichte hübsch von Anfang an erzählen. Also: meine Else hat in Berlin einen Onkel, einen Gelehrten. Dieser Onkel hat einen Freund, so ein Stück Ahasver, der die ganze Welt bereist und in den letzten Jahren mehrere Bücher darüber geschrieben hat, welche in Berlin gedruckt werden. ‚Ahasver‘ besuchte die Hauptstadt schon früher mit möglichster Regelmäßigkeit; gegenwärtig thut er es, um sich mit seinen Verlegern bequemer zanken zu können. Allemal brachte er sein mutterloses Töchterlein mit, und so kam es, daß die kleine Martina mit meiner Else, welche sich einige Jahre hindurch in einer hauptstädtischen Erziehungsanstalt befand und natürlich häufiger Gast beim ‚Onkel Professor‘ war, schon in früher Jugend Freundschaft schloß. Die innigen Beziehungen zwischen den Mädchen lockerten sich auch in späteren Jahren und während längerer Trennungen nicht. Seit Else erwachsen und nach Hirschberg in ihr Elternhaus zurückgekehrt ist, sucht sie es immer einzurichten, daß ihre Anwesenheit in Berlin mit derjenigen Ahasvers zusammenfällt.

So, Herr Kamerad, nun sind Sie über die Vorgeschichte unterrichtet und ich komme zu dem Punkte, wo Ihre Person auf den Schauplatz tritt. Das war Ende vorigen Jahres. Schwarz und Blond hatten sich da auch wieder einmal in Berlin zusammengefunden. Der Zufall wollte, daß eine gewisse Zeitung in die Hände der Mädchen gelangte, daß ein gewisses Inserat von ihnen darin entdeckt wurde und – daß Ahasvers Tochter sich leidenschaftlich darüber empörte! Schwarz und Blond beschließen also, dem Einsender des Inserats ihre Meinung zu sagen. Else sieht in der Sache einen Scherz, Martina nimmt sie ernster. Der Brief, welchen sie nun zusammenbraut, ‚gilt nicht nur dem Einen, er ist im Grunde an den Zeitgeist gerichtet, an diesen schrecklichen Gesellen, welcher die Welt so nüchtern gemacht hat und die Männer lehrte, das weibliche Geschlecht durch eine die Wahrheit entstellende, Verstand und Gefühl irreleitende Brille anzuschauen‘ (wörtliche Ueberlieferung, nach Else!).

Nun waren in einem Papierladen gerade allerlei neue Glückwunschkarten ausgestellt, von denen sich Schwarz und Blond einen kleinen Vorrath mitnehmen wollten; beim Auswählen und Beschauen bemerkte Martina das Bildchen mit der Kamerunerin. Das war etwas für Herrn Freimuth aus Grützburg! Sie gedachte ihm den Rath zu geben, behufs Erfüllung seines Ideals bei Damen dieser Art nachzufragen. Das grell kolorierte Bild sollte, um wie ein dem wirklichen Leben entnommenes Porträt zu erscheinen, photographiert und die Photographie sodann dem Schreiben beigefügt werden. So geschah es. Else übernahm die Beförderung von Hirschberg aus. Ueber Hirschberg ging dann auch der weitere Briefverkehr, welcher übrigens nach Elsens Dafürhalten viel zu früh und zu jäh abgebrochen wurde. Martina blieb aber trotz aller Gegenvorstellungen dabei, sie und Herr Freimuth seien fertig miteinander. ‚Ein weiteres Ausspinnen der Angelegenheit würde dieser ihren Witz und mir eine freundliche Erinnerung rauben,‘ schrieb sie der Freundin in ihrer bestimmten Art. ‚Ich rechne also auf Deine unverbrüchliche Verschwiegenheit gegen jedermann – Deinen Walter ausgenommen, wenn ihm gegenüber eine Ausnahme nöthig werden sollte. Und vergiß es nicht: ein Treubruch wäre gleichzeitig ein Freundschaftsbruch zwischen uns.‘ Abermals wörtliche Ueberlieferung, Herr Kamerad! Sie werden nun begreifen, warum meine Else damals im Kurgarten nicht Farbe bekannte; warum sie heute noch sagt: ‚Ich darf mein Wort nicht brechen, darf Martinas Vertrauen nicht mißbrauchen.‘ Bon, liebes Kind, dachte ich, die Sache geht ganz von alleine. Mir hat niemand ein Schloß vor den Mund gelegt. Ich halte es daher für meine Pflicht: ad 1, Ihnen, lieber Doktor, den wir alle so lieb gewonnen haben, dem ich von wegen meiner schauderhaften Rauhbeinigkeit zu Anfang unserer Bekanntschaft noch einige Genugthuung zu schulden glaube, nach Kräften zu dienen; ad 2, meiner kleinen Else von ihren Gewissensbissen zu helfen; ad 3, auch der guten Martina insgeheim einen Gefallen zu thun, da sie mir unter jene Naturen zu gehören scheint, welche zu ihrem Glücke gezwungen werden müssen.

Sie sehen mir nicht aus, als ob Ihre Bekanntschaft einem braven Mädel zum Schaden gereichen könnte, Doktor, deshalb lege ich Martinas Adresse vertrauensvoll in Ihre Hände.

So, Herr Kamerad! Nun gestatten Sie vielleicht, daß ich den Schreibkrampf gekriegt habe. Ein ganzer Sonntagnachmittag ist hin und dies der umfangreichste Brief meines Lebens. Möchte meine Selbstverleugnung Ihnen und Ihrer alten Drachenburg zum Heile gereichen!
  Ihr
aufrichtiger Kamerad  
 Walter Grollmann.“      

[578] So lang die Epistel war, Ernst Claudius las sie sogleich zum zweiten Mal, hastig, fieberhaft. Sein Herz pochte fast hörbar; es war so still um ihn her. Ein kleiner, weißer Schmetterling kam zum offenen Fenster herein und setzte sich zutraulich auf den Brief, den er vor sich hingelegt hatte. Er lächelte das Thierchen an, als gehöre es mit in das Glück dieser schweigsamen Nachmittagsstunde. Und als der kleine Gast die leichten Flügel zur Weiterreise ausspannte, da gab er ihm leise den Namen „Martina“ wie eine Botschaft mit auf den Weg.

Martina … Martina … das lautete wie Glockenton! Also hatte die Stimme seines Herzens dennoch nicht getrogen, also war die Erträumte dennoch da und konnte gesucht, gefunden, gewonnen werden!

Geraume Zeit verging, bevor Claudius sich ganz wiederzufinden und sein Thun und Lassen für die nächste Zeit vernünftig zu durchdenken vermochte. Und jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß der Name Martina, so süß und vielbedeutend er ihm auch klang, bei weitem nicht genug besage. Die Adresse – wo war die Adresse? Richtig, da auf der letzten Seite des dritten Briefbogens war sie in eine Ecke gekritzelt! Er las, las laut, weil er seinen Augen nicht traute und das Zeugniß seiner Ohren zu Hilfe nehmen wollte: „Martina Ronald. Kronfurth. Lindenhaus.“

War es möglich? Das Traumbild, dessen Verkörperung er in der weiten Welt draußen gesucht hatte, es war ihm seit Jahren leibhaftig nahe gewesen! Und zu allem hin war sie die Tochter des Mannes, dessen Bücher ihm nun schon über Jahr und Tag liebe Gefährten einsamer Abendstunden gewesen waren. Niemand hatte je mit ihm davon gesprochen, daß der Autor der „Weltwanderungen“ in Kronfurth lebe; allerdings kannte auch niemand seine Vorliebe für Ronalds Schriften, und außerdem stand er selbst den städtischen Dingen so fern, daß es keinem Kronfurther in den Sinn kommen konnte, ihm besondere Einzelheiten mitzutheilen.

„Ein Roman, ein regelrechter Roman!“ sagte sich Claudius, als er seine bunten Gedanken und Gefühle ein wenig geordnet hatte. „Aber ich bin entschlossen, ihn zu baldigem Ende zu bringen.“

*               *
*

Noch an demselben Nachmittag schlenderte der Doktor, vergnügt wie ein Schulknabe am ersten Ferientage, durch das kleine alte Städtchen. Kronfurth muthete ihn heute freundlicher als jemals an und die außerhalb des südlichen Stadtthors beginnende, von blühenden Hecken eingefaßte Landstraße erschien ihm stimmungsvoll wie ein Gedicht. An dieser Straße, etwa eine Viertelstunde vom Thore entfernt, lag inmitten eines ausgedehnten Gartens das Lindenhaus. Claudius kannte das hübsche, aus rothen Ziegeln aufgeführte Gebäude sehr wohl von früheren Gängen her, allein um seine Bewohner hatte er sich nie bekümmert. Jetzt sagte er sich, daß es eine überaus friedliche und freundliche Heimstätte sein müsse. Die uralten Lindenbäume, welche dem Hause den Namen gegeben hatten, umstanden es gleich treuen Hütern in unregelmäßigen Gruppen, beschatteten es aber nur zum Theil, ohne Licht und Luft abzuschließen. Die Sonne war Hausfreundin bei den Ronalds und von jeher daran gewöhnt, an allen Familienvorgängen bevorzugten Antheil zu nehmen. Sie kümmerte sich um des Professors Manuskripte und bedeckte sie ganz nach Belieben mit ihren goldenen Zeichen – sie guckte in Kochtopf und Wäscheschrank der alten Tante Seraphine und ging vor allem gern, so viel ihre hohe Stellung es gestattete, mit der Tochter des Lindenhauses. Sie liebte jene Menschenkinder, bei denen sich nichts ihrem leuchtenden Tiefblick verschloß, in denen alles wahr und klar war und werth, ans Licht gebracht und von obenher vergoldet zu werden.

Martina Ronald war im Garten beschäftigt und band Rosenbäumchen an den Pfählen fest, ohne eine Ahnung davon, welches anmuthige Bild sie inmitten ihrer stillen Gartenwelt abgab und daß von der Gartenpforte her ein Paar dunkler Männeraugen sehnsüchtig auf sie hinschauten. Claudius sah auf den ersten Blick, daß dieses schlanke brünette Mädchen im einfachen braunen Hauskleide durchaus keine Schönheit, gleichzeitig aber auch, daß sie gerade so die vollkommenste Verkörperung seines Traumbildes war! Alles an ihr: das ruhige Ebenmaß der mittelgroßen Gestalt, das charaktervolle, fast ein wenig strenggeschnittene Antlitz mit seiner reinen Blässe, mit dem frischen lieblichen Munde und den Augen, von denen er aus der Ferne nur zu erkennen vermochte, daß sie groß und dunkel waren – alles das muthete ihn wie etwas längst Gekanntes, längst Geliebtes an. Und er fand es plötzlich lächerlich und unnatürlich, daß er vor ihr wie vor einer Fremden den Hut abnehmen und sie mit „mein Fräulein“ anreden sollte. War es ihm doch, als sei es sein gutes Recht, ohne weiteres den fremden Garten zu betreten, Martinas Hand zu ergreifen und sie fortzuführen – dorthin, wo sie ja schon so lange daheim war, wenn auch nur als Bild seiner Phantasie!

Jetzt – er hatte die Pforte bereits geöffnet – bemerkte ihn das Mädchen und schritt ihm mit einer großen Gartenschere und der zusammengerafften Schürze voll welker Blätter unbefangen entgegen.

„Wollen Sie zu den Bewohnern des Lindenhauses, mein Herr?“

Diese in höflichem Tone, mit wohlklingender Stimme an ihn gerichtete Frage brachte den Doktor wieder zu sich selbst und gab ihm seine weltmännische Gewandtheit zurück.

„Ich bin ein Unbescheidener,“ sagte er lächelnd, „einer, der einen Ueberfall auf dieses stille Heim wagt, obgleich ihm bekannt ist, wie ungern es sich fremden Eindringlingen erschließt."

Nun lächelte auch sie; zwei Grübchen in den Wangen ließen ihr Gesicht plötzlich weich, beinahe kindlich erscheinen.

„Aber Sie sind doch kein Wolf im Schafspelz, das heißt, kein überneugieriger Zeitungsberichterstatter – das ist ein Milderungsgrund,“ entgegnete sie schelmisch und fügte dann, wie um einer Vorstellung vorzubeugen, rasch hinzu: „Herr Doktor Claudius von Hermannsthal, nicht wahr?“

„Kennen Sie mich?“

„Ein wenig, so vom Sehen und Hörensagen,“ antwortete sie einfach. „Es giebt hier der guten Reiter nicht viele; wir hatten oft unsere Freude an Ihrem prächtigen Rappen und wie Sie mit demselben förmlich zusammengewachsen waren beim schnellen Ritt. Zufällig befand sich einmal der Kronfurther Pfarrer beim Vater, als Sie vorüberkamen, und nannte uns Ihren Namen. Später vernahm ich denselben im Zusammenhang mit dem Geschick einer durch Brandunglück verarmten Tagelöhnerfamilie in Grünau, welche ihr Wiederaufkommen lediglich den Unterstützungen aus Hermannsthal zu danken hatte. Dieser letztere Umstand macht es, daß ich Ihnen nicht wie einem Fremden entgegenzutreten vermag, Herr Doktor; auch mein Vater wird sich sehr freuen, Sie kennenzulernen.“

Das klang alles schlicht und aufrichtig. „Ich danke Ihnen, mein Fräulein,“ entgegnete Claudius ebenso – „ich werde Ihre Güte sicherlich nicht mißbrauchen. Erscheint es mir doch als eine hohe Schicksalsgunst, dem Manne, mit dessen Geistesleben ich mich seit langem aus seinen Werken vertraut fühle, meine Bewunderung und Verehrung Auge in Auge aussprechen zu dürfen.“

„Ohne Zweifel wird mein Vater die Echtheit Ihrer Zuneigung ebenso wie ich selbst herausfühlen, Herr Doktor; leider befindet er sich zur Zeit nicht daheim. Wenn Sie aber wiederkehren wollen – –“

Er bückte sich, um eine kleine, zu ihren Füßen blühende Aurikel zu pflücken; die Blume hatte dasselbe tiefe Sammetbraun wie Martinas Augen und sollte ihn zu Haufe darüber vergewissern, daß das Erlebniß dieser letzten Stunde mehr als ein lichter Maientraum gewesen sei. „Ich werde wiederkehren,“ versetzte er.

Martina ließ es mit leicht verwundertem Aufblicke geschehen, daß er ihre Hand ergriff und kräftig drückte.

„Leben Sie wohl!“ sagte sie in ihrer gelassenen freundlichen Art und wandte sich wieder ihren Blumen zu. Er stand noch eine Weile und schaute dem braunen Kleide nach, wie es hier und da zwischen den grünen Sträuchern verschwand und wieder auftauchte – dann wanderte er, seine Aurikel gleich einem Siegeszeichen in der Hand tragend, langsam und gedankenvoll in die Stadt zurück.

Auf den goldenen Sonntag folgte eine schlimme Regenwoche, eine Woche, während welcher Claudius, da sein Direktor in Geschäften abwesend war, reichlich Arbeit hatte. „Ueberlegsames“ Wetter pflegte der schöne Amadeus solche Tage zu nennen, an denen man sich durch die rinnenden Regenfäden wie durch eine Mauer von der ganzen übrigen Welt abgeschieden fühlt, und der Alte bemerkte dabei, daß diese Nässe draußen und diese Trockenheit und Stille in der behaglichen Stube dem Fortschreiten der „Nachteule“ erfahrungsgemäß am förderlichsten seien.

Claudius machte jetzt eine sehr ähnliche Erfahrung. Er fand, es lasse sich köstlich nachdenken und im eigenen Innern „aufräumen“ bei dem verschwiegenen grauen Zwielicht und dem gleichmäßig eintönigen, alle Aufregung beschwichtigenden Regengeplätscher. Er wußte jetzt ganz genau, was er wollte und in welcher [579] Reihenfolge das Nothwendige vor sich zu gehen hatte. Demzufolge wartete er zu seinem zweiten Besuche im Lindenhause die Wiederkehr des guten Wetters ab.

An einem sonnigen Spätnachmittage suchte er das Lindenhaus zum zweiten Male auf und fand Martina, wie er erwartet hatte, im Garten. Sie begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. „Heute treffen Sie es gut, Herr Doktor. Mein Vater ist daheim und wird sich freuen, Sie zu empfangen.“

„Ich werde sofort von Ihrer freundlichen Aufforderung Gebrauch machen, zuvor aber müssen Sie, mein Fräulein, hier in Ihrem grünen Reiche mir noch eine kleine Audienz gewähren!“

Sie blickte überrascht auf. „Wozu das, Herr Doktor?“

Er lächelte. „Ich will mich Ihnen in der Bildersprache des Morgenlandes verständlich machen,“ sagte er – „da Sie diese mir gegenüber schon einmal mit Erfolg angewandt haben. Kennen Sie diese junge Dame?“

Ahnungslos trat Martina einige Schritte vor und erblickte in seiner geöffneten Brieftasche das dunkle Gesicht der Kamerunerin! Claudius bereute sein Thun, als er ihr jähes Erblassen, den erschrockenen, rathlosen Ausdruck ihrer Augen gewahrte, aber schon hatte Martina die Herrschaft über sich selbst zurückgewonnen.

„Jetzt muß ich Sie allerdings um einige Aufklärungen bitten, Herr Doktor,“ sagte sie in ihrem gewohnten, ruhigen Tone – „zunächst wohl darüber, wie Sie in den Besitz dieses Bildes gelangt sind.“

„Unsere Wünsche begegnen sich, mein Fräulein. Vieles zwischen uns bedarf der Aufklärung. Sie müssen mich kennen, bevor ich Ihr Haus betrete, müssen entscheiden, ob Sie den Doktor Claudius noch Ihrer Gastfreundschaft werth erachten, wenn er sich vor Ihnen als ‚Freimuth‘ entpuppt.“

Nun war es heraus! Sie standen einander im Lindenschatten schweigend gegenüber; er in der Erwartung einer viel entscheidenden Antwort, sie gesenkten Blickes, mit heißen Wangen, aber doch mit einem weichen, halb lächelnden Zuge um die Lippen, der ihm Gutes verhieß.

„Soll ‚Freimuth‘ seinen Wanderstab weiter setzen, Fräulein Martina?“

Da schaute sie auf und ließ ihre großen sprechenden Augen sekundenlang fest auf seinem Antlitz ruhen; er ertrug die scharfe, offenbar prüfende Musterung, ohne mit den Wimpern zu zucken.

„Bestanden?“ fragte er dann.

Sie bot ihm die Hand. „Bestanden! Ich denke, ich darf es wagen, Herrn Freimuth aus Grützburg im Lindenhause willkommen zu heißen, auf die Gefahr hin, daß dadurch der erbitterte Kampf: ‚Hie Deutschland, hie Kamerun!‘ aufs neue entbrennt.“

„Das steht nicht zu befürchten. Der Kampf ist entschieden. Freimuth erklärt sich für besiegt, streckt die Waffen und ergiebt sich auf Gnade und Ungnade seiner edlen Gegnerin.“

Sie lachte fröhlich auf. „Diese begnügt sich mit dem Lorbeer des Siegers und giebt, da überdies ihre Feste zur Beherbergung von Kriegsgefangenen wenig geeignet ist, dem hochherzigen Feinde die Freiheit zurück!“

„Welche dieser im Dienste und zur Ehre seiner gnädigen Herrin zu verwenden bestrebt sein wird!“

„Angenommen! … Und nun, da der Friedensschluß vollzogen ist, verlangt es mich danach, die Meinigen an meinem Ruhme theilnehmen zu lassen, indem ich ihnen den überwundenen Gegner zuführe. Vater und Tante Seraphine – sie wissen beide die Geschichte von der Kamerunerin – müssen unbedingt mit anhören, was ich jetzt unverzüglich zu erfahren wünsche: wie nämlich Herr Freimuth aus Grützburg Namen und Adresse der geheimnißvollen Briefstellerin in Erfahrung bringen konnte!“

[590] Das Wohnzimmer des Lindenhauses trug ein ganz eigenartiges Gepräge. Es war ein saalartiger, heller Raum. Durch geschickte Anordnung der altmodischen, dunkeln Möbel zerfiel er in zwei selbständige, obschon ungleiche Hälften, von denen jede ihr eigenes, ausdrucksvolles Gesicht hatte. Die linke und größere bildete wohl das Reich der Frauen, denn hier gab es orientalische Sitzplätze und Teppiche; in vergoldetem Ringe schaukelte sich ein buntfarbiger Vogel und daneben stand in einer tiefen Fensternische friedlich ein echt deutsches Nähtischchen.

„Hier hausen wir, Tante Seraphine und ich – drüben regiert Papa,“ erklärte Martina dem Gaste. „Es läuft also keineswegs auf eins hinaus, ob sich der Besucher beim Eintritt nach links oder rechts wendet. Hier wird nur Kaffee oder Thee verabreicht und je nachdem bürgerlich kleinstädtisch oder über Dinge der Kunst Unterhaltung gemacht, während drüben, jenseit des Striches“ – den „Strich“ bildete ein geöffneter, mit Notenblättern bestreuter Flügel – „Weltumsegler und andere Menschenkinder, die für ‚hohe‘ Wissenschaft etwas übrig haben, ungestört mit dem Vater ihre Kreise ziehen dürfen.“

In der That begann „jenseit des Striches“ eine andere Welt. Da hingen statt der Gemälde Landkarten jeder Art und Größe an den Wänden, da gab es einen Schrank mit Büchern, einen zweiten voller Erinnerungsschätze, eingesammelt auf gefahrvollen und mühseligen Wanderungen – schließlich unweit des malerischen alten Kaminofens einen von hochlehnigen Stühlen umgebenen großen Tisch, auf welchem sich alle zu des Professors Arbeiten erforderlichen Dinge um einen mächtigen Globus geschart hatten.

„An diesem Tische empfing ich als Kind den ersten Unterricht,“ sagte Martina, während ihre Hand liebkosend über den abgenutzten, schwarzen Wachstuchbezug glitt. „Vater selbst ertheilte ihn mir. An seiner Hand durchwanderte ich im Geiste die Welt und lernte ihre Wunder kennen und schätzen. – Doch da kommen die Meinen,“ unterbrach sie sich, die Augen zur Thür wendend. „Ich brenne darauf, endlich Ihre Geschichte zu vernehmen, aus welcher hoffentlich auch hervorgehen wird, woher Sie meinen doch zum mindesten ungewöhnlichen Vornamen wissen.“

Nicht lange danach saß die kleine Gesellschaft „diesseit des Striches“ – in gemüthlicher Unterhaltung beisammen.

Der Professor war ein überaus liebenswürdiger, schlichter alter Herr, dem die Jahre sein einstiges lebensfrohes Kindergesicht nur mit einigen Falten durchzogen, aber nicht zu nehmen vermocht hatten. Tante Seraphine, die runde kleine Dame mit dem spiegelglatten Silberscheitel, den apfelfrischen Wangen und den blanken, lustigen Schlehenäuglein kam dem Doktor vor wie das vollendete Bild eines freundlichen Hausgeistes. Er sagte ihr das auch in seiner einfachen Art, der man die Wahrhaftigkeit anmerkte, und versprach der vor Freude ganz jugendlich Erröthenden, wenn, wie er sicher hoffe, demnächst die Familie Ronald in Hermannsthal einen Besuch mache, so werde sie auf einem meisterhaften alten niederländischen Gemälde ihr Ebenbild erblicken!

In diesem Augenblicke, in dem sich der Doktor behaglich zum Erzählen zurechtsetzte, verschwand die Sonne am Horizont, im Scheiden noch eine Fülle von Purpurrosen über das Lindenhaus hinstreuend.




7.0 Wer hätte das gedacht!

Es versetzte ganz Kronfurth in eine unbeschreibliche Aufregung, daß der Hermannsthaler das Innere der Drachenburg urplötzlich, ohne ersichtliche Veranlassung, durchweg auffrischen und verschönern ließ; nicht verständnißlos, so daß nur neue Möbel an Stelle des angestammten behaglichen Hausrathes gesetzt worden wären, sondern mit liebevoller Schonung des Alten. Nur das verschwand, was der Wohnung bisher da und dort einen nüchternen Junggesellenanstrich gegeben hatte.

„Der Herr Doktor Claudius richtet sich ein wie ein Hochzeiter,“ erklärte der Kronfurther Tapezier jedem, der ihn über den wichtigen Gegenstand ausfragte, „und es eilt ihm mit dem Fertigwerden, als sei das erste Aufgebot bereits heraus!“

In der That strebte Claudius mit fieberhaftem Eifer dem ersehnten Ziele zu.

„Ich muß den Kronfurthern mit der vollbrachten That entgegentreten, bevor sie ihre Nasen in mein zur Zeit noch verborgenes Lebensglück gesteckt haben,“ sagte er zu dem getreuen Gerlach, welcher sofort nach seiner Rückkehr von ihm ins Vertrauen gezogen worden war.

„Ganz meine Meinung,“ entgegnete der junge Direktor. „Versichern Sie sich nur Ihres ‚Dornröschens‘, alles andere wollen wir dann schon so schnell und heimlich besorgen, daß die große [591] Neuigkeit wie eine Bombe in das neugierige alte Nest hineinplatzen soll!" – –

Die Mertens hatte Migräne, und noch dazu am Vortage der ersten Mittagsgesellschaft in Hermannsthal. Auf morgen hatte ihr Herr seine alten Freunde, die Eberhards und den Direktor feierlich zu Tisch geladen, und dazu jemand ganz Fremdes, die Familie Ronald vom Lindenhaus draußen. Und nun mußte sie unthätig hier auf dem Sofa in ihrem Stübchen sitzen und sich die Stirn mit Essigtüchern kühlen, statt in der Küche nachzusehen. Aber so geht’s, Unglück kommt nicht allein!

Der schöne Amadeus war auf ein paar Minuten heruntergekommen, um nach ihrem Ergehen zu fragen, und saß nun mit gleichfalls umwölkter Miene ihr gegenüber am Tische. Seine Beziehungen zu der Mertens hatten seit Weihnachten eine noch wärmere Art angenommen, seit Weihnachten, wo ihn die Gute mit selbstgestrickten Pulswärmern und Ueberziehschuhen überrascht hatte. „So einer wie Sie, Herr Amadeus, denkt nicht an seine leibliche Wohlfahrt,“ hatte sie gefühlvoll dabei bemerkt – „deshalb braucht so einer einen andern, der ein weibliches und fürsorgliches Auge auf ihn hat!“

Das war sehr richtig, und deshalb trauerte der schöne Amadeus; denn die brave Mertens sollte das Haus verlassen. Allerdings, sie hätte vorsichtiger sein und dasjenige, was er im Vertrauen mit ihr besprach, für sich behalten müssen, statt es ihren Freundinnen in der Stadt auf die Nase zu binden; aber du lieber Himmel, sie hatte es doch gar nicht böse gemeint und nun war’s einmal geschehen! Man muß auch verzeihen können! Der Doktor hätte der Mertens nicht gleich kündigen sollen, als er erfuhr, daß die Geschichte von der Kamerunerin von ihr ausgegangen sei. Seitdem that sie nichts als weinen, bis ihre Augen ganz entzündet und verschwollen waren.

„Das geht nun nicht länger so,“ begann heute der schöne Amadeus. „Es ist nicht zu bestreiten, daß sich der Herr Doktor uns gegenüber – ich sage ‚uns‘, da ich mich gleichfalls einigermaßen schuldig fühle – im Rechte befindet, ebenso wenig aber, daß er bisher allezeit ein überaus nachsichtiger und gütiger Gebieter gewesen ist. So will ich es denn unternehmen, ihm die ganze Sache noch einmal, vom Gefühlsstandpunkt aus, vorzustellen!“

„Das heißt, Sie wollen ein gutes Wort für mich einlegen, Herr Amadeas?“

„Gerade das, meine Liebe. Sie waren mir immer wohlgesinnt, erwiesen mir manchen Freundschaftsdienst, und so wäre ich wirklich froh, bei dieser Gelegenheit meine Dankesschuld in etwas abtragen zu können.“

„O, Herr Amadeus, wie gut Sie sind! … Wenn ich daran denke, daß ich aus diesem schönen, behaglichen Leben fort soll, das drückt mir mein Herz ab! Eine solche Küche mit solchem Prachtherde krieg’ ich mein Lebtag nicht wieder! Ach, und all das andere –!"

„Unsere netten Plauderabende bei Punsch und Kartenlegen zum Beispiel!“

„Erbarmen Sie sich, Herr Amadeus! Daran darf ich schon gar nicht denken!“

„Im Gegentheil! Sie sollen daran denken und sich aufraffen, statt ohne weiteres die Flinte ins Korn zu werfen! Statt zu weinen und sich zu grämen, sollten Sie nach Ihrem Zauberstabe greifen!“

„Nach – was, Herr Amadeus?“

„Nach dem Kochlöffel, wenn Ihnen das besser einleuchtet. Das ist Ihr Zauberstab, dessen Macht Sie morgen zeigen müssen. Sie sollten alles dran wenden, unsern Doktor und seine Gäste durch die glänzendsten Leistungen auf dem Gebiete der Kochkunst in Erstaunen und gute Laune zu versetzen! Dann wäre der Augenblick da, wo meine Fürsprache die rechte Würdigung und vermuthlich auch Erhörung finden könnte!“

Die Mertens hörte auf zu weinen und schleuderte ihre Stirnbinde in eine Ecke. Der Vorschlag des schönen Amadeus schmeichelte ihrem Selbstgefühl und stachelte ihren Ehrgeiz an.

„Was für ein Segen ist es doch, einen so klugen und gebildeten Rathgeber zu besitzen!“ sagte sie mit begeistertem Aufblick zur Zimmerdecke. „Ich werde Ihnen folgen, Herr Amadeus! Ich werde thun, was in meinen Kräften steht, und das übrige dem Himmel und Ihnen überlassen! Was meinen Sie zu einer feinen Hühnerpastete?“

„Dazu darf ich bei meiner Unwissenheit in der Küchenkunst gar nichts meinen, liebe Freundin. Es hieße, mit ungeschickter Hand in Ihre zarten Kombinationen eingreifen!“

„Reichen Sie mir das Kochbuch von der Kommode herüber, Herr Amadeus, wenn Sie so gütig sein wollen,“ sagte sie mit einer gewissen Feierlichkeit als Antwort auf diese feine Schmeichelei. „Ich bin noch etwas schwach auf den Füßen, aber seien Sie ohne Sorge: Philippine Mertens kennt ihre Pflicht! So, ich danke Ihnen. Nun werden wir den Speisezettel zusammenstellen. Nach der Suppe natürlich Forellen mit frischer Butter. Darauf käme dann meine delikate Hühnerpastete. Zum jungen Gemüse –“

Der schöne Amadeus erhob sich. „Ich möchte die Einzelheiten der Speisekarte lieber heute noch nicht hören, sondern mich morgen davon überraschen lassen,“ meinte er artig.

„Wie es Ihnen beliebt. Eins aber könnten Sie mir noch zu Gefallen thun, Herr Amadeus. Ich habe da vorgestern bei meinen Wirthschaftseinkäufen in Kronfurth einen Zucker-Amor im Schaufenster des Konditors gesehen; den könnten Sie mir verschaffen. Ich möchte ihn auf die Torte setzen. Er hält ein durchstochenes Herz in der Hand und paßt für alles.“

„Schön, Fräulein Mertens; soll bestens besorgt werden. Der Einfall ist nicht ohne Poesie, hoffen wir, daß er unserm Doktor das Herz rührt.“ – –

Als die Mittagsgesellschaft recht im Zuge war – der schöne Amadeus trug eben mit Hilfe des in eine Livree gesteckten Gärtnerburschen den vierten Gang auf – machte sich die Mertens einen Augenblick in der Küche los und stellte das Hilfsmädchen an ihren Platz. Sie mußte unbedingt einen verstohlenen Blick in den Speisesaal thun; hatte doch Amadeus eigens zu diesem Zweck die Thür hinter sich ein Ritzchen weit aufgelassen.

„Sehen Sie sich nur unseres Herrn neue Bekanntschaft gut an, Fräulein Mertens,“ hatte er vorhin mit wichtiger Miene gesagt – „der alte Herr ist nämlich ein berühmter Schriftsteller!“

„Ah! So einer, wie Sie einer werden wollen, Herr Amadeus?“

„Ganz richtig, meine Liebe. Auch seine Damen scheinen moralischen Werth zu besitzen. Die ältere bemerkte vorhin, es gehe hier alles so regelrecht zu, wie ihr das in einem unverheiratheten Haushalte noch niemals vorgekommen sei.“

So stand nun die Mertens an der Thürspalte und freute sich über ihre geschmackvolle Festtafel, zu deren Ausschmückung allerdings der freundliche Sommer mit seinem Blüthenreichthum das beste gethan hatte, über die gut aussehenden Speisen, die fröhlichen Gesichter und den sichtlichen Appetit aller Gäste. Die neuen Bekannten des Herrn gefielen auch ihr, besonders das Fräulein im schwarzen Spitzenkleide, mit den blaßrothen Rosen an der Brust. Auch Doktor Claudius hatte heute eine Rosenknospe im Knopfloch; er sah sehr stattlich aus und strahlend von Fröhlichkeit. Die Unterhaltung ging flott und heiter, Eberhards und Herr Gerlach schienen mit der fremden Familie bereits recht gut Freund zu sein.

Nachdem die Mertens ihre größte Neugierde befriedigt hatte, schlüpfte sie wieder in die Küche hinunter. War doch der Augenblick nicht mehr fern, wo man zum Nachtisch gelangen, wo der schöne Amadeus mit Takt und Geschick die Torte auftragen und den Amor mit dem durchstochenen Herzen ins rechte Licht setzen würde! Die Mertens bekam eine Gänsehaut und plötzlich wurde ihr so schwach, daß sie in ihr Stübchen gehen und einen Likör nehmen mußte. Die Karten lagen auf dem Tische; sie griff danach und begann eilig die gewohnte Figur zu legen. Hier! Hier stand es wieder, was sie schon einmal herausgelesen hatte: Veränderung im Hause! Während sie so angelegentlich mit der Enthüllung der Zukunftsräthsel beschäftigt war, trat der schöne Amadeus ins Zimmer.

„Wo stecken Sie denn, Fräulein Mertens? Ist Ihnen nicht gut?“

„Nur ein bißchen schwach, Herr Amadeus.“

„Ach was, jetzt ist keine Zeit zum Schwachsein! Auf, der Doktor will alles vergeben und vergessen sein lassen. Ja, ja, ohne Spaß. Aber es ist besser, Sie versparen sich die Rührung bis später, denn der Anstand erfordert es, daß Sie jetzt mit mir hinaufgehen, zum Gratulieren.“

„Zum – Gratulieren?!“ Die Mertens stand wie von einer Feder emporgeschnellt auf den Füßen.

[592] „Zum Gratulieren,“ wiederholte er feierlich. Die Sache war nämlich so: kurz vor dem Nachtisch hat der Herr Professor Eberhard einen kleinen Trinkspruch gehalten und gesagt, er freue sich, daß sein lieber Freund Claudius endlich doch noch unter die ‚Fröhlichen‘ gegangen sei, und er hoffe, die heutige, so überaus gelungene gesellige Vereinigung werde nicht die letzte im schönen, alten Claudiushause sein. Darauf nickte unser Doktor ihm zu – sie schienen ein bißchen im Einverstädniß – und erhob gleichfalls das Glas. Er meinte, es sei ihm eine große Freude, heute seine nächsten und besten Freunde um sich versammelt und mit der Umgestaltung seines äußeren Lebens einverstanden zu sehen. Ebenso sicher erhoffe er nun auch ihre Billigung hinsichtlich der Umwandlung seines inneren Menschen, welche der anderen vorangegangen sei und ihnen nun, im Vertrauen auf ihre freundschaftliche Antheilnahme, geoffenbart werden solle. Er habe sich nämlich, um nicht in die alte Duckmäuserei zurückzufallen, einen Schutzgeist, eine treue und verständnißvolle Lebensgefährtin ausgewählt. Hier that die Frau Professor Eberhard einen kleinen Schrei, doch der verhallte ziemlich ungehört unter dem allgemeinen Stuhlrutschen. Unser Doktor aber nahm das fremde Fräulein bei der Hand und stellte sie als seine Braut vor. Sie hatte Thränen in den Augen und lächelte dazu und stand ganz still, während die andern um sie herumliefen, durcheinander sprachen und mit ihr anstoßen wollten. Als endlich jedes wieder an seinem Platze saß, kam ich mit der Torte und stellte sie gerade vor das Brautpaar hin. Das Fräulein bemerkte den Amor zuerst. ‚Wie niedlich er ist!‘ sagte sie. ‚Hast Du den kleinen, geflügelten Schelm eigens für heute bestellt, lieber Ernst?‘

‚Nein, gnädiges Fräulein Braut,‘ antwortete ich statt unseres Doktors, der den Amor lächelnd betrachtete – ‚er ist, wenn Sie gütigst gestatten, eine kleine Huldigung von unserer Haushälterin!‘

‚Ja, aber wußte denn die –?‘

‚Nein, gnädiges Fräulein Braut,‘ antwortete ich mit dem gleichen, edlen Anstande – ‚sie wußte nichts, aber sie ahnte etwas. Frauen haben ja in solchen Sachen einen besondern Ahnimus! Und so wollte sie denn in dieser jedermann verständlichen Sprache ihren Glückwunsch darbringen, der aus aufrichtigem, wenn auch tiefbetrübtem Herzen kommt!‘“

„O, Herr Amadeus, wie himmlisch!“ schluchzte die Mertens.

Er lächelte geschmeichelt. Nun, himmlisch wohl gerade nicht, aber ganz gut muß ich gesprochen haben, denn sie lächelten beide. ,Warum betrübt?‘ fragte das Fräulein, sich nach mir umwendend. Dann schien sie sich zu erinnern, unser Doktor mußte ihr die Geschichte erzählt haben.

‚Möchtest Du nicht vergeben, Ernst?‘ fragte sie halblaut. ‚Es sollte heute in Deinem Hause nur fröhliche Herzen geben! Und schließlich –‘ hier sprach sie ganz leise, aber ich erlauschte es doch, freilich ohne den Sinn ihrer Worte zu verstehen – ‚schließlich war ja auch an der Klatschgeschichte nicht alles böswillige Erfindung. Die Kamerunerin hat’s ja doch ausgemacht.‘

Da lachte der Doktor sehr vergnügt. ,Sei es denn,‘ sagte er – und dann, zu mir gewendet: ‚Theilen Sie der Mertens mit, daß alles vergeben und vergessen sein soll.‘

‚Mit Freuden, Herr Doktor!‘ erwiderte ich, verneigte mich wie in meiner Glanzzeit auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, und ging stolz durch die Mitte ab.“

„Ach, Herr Amadeus, Herr Amadeus!“

„Wischen Sie sich das Gesicht ab und gehen Sie grad so wie Sie aussehen mit zum Gratulieren. Verweinte Augen machen sich bei Familienfesten niemals schlecht und gehören nach dem Vorangegangenen noch besonders zu Ihrer Rolle.“

„Verlobung! Verlobung in Hermannsthal! Wer hätte das gedacht!“ sagte die Mertens. Dann gingen sie miteinander hinauf.

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„Wer hätte das gedacht!“ sagte auch Frau Edith, als sie im Hermannsthaler Jagdwagen durch den sternenklaren Sommerabend heimfuhren. „Diese Martina – was für ein absonderlicher Name! – ist ja ein recht nettes Mädchen, aber … ja wunderst Du Dich denn wirklich gar nicht ein bißchen, Mann?“

„Nicht ein bißchen. Warum auch? Eine Verlobung ist doch das natürlichste Ding der Welt. Nur Ihr Frauen seid immer erstaunt, wenn Ihr’s nicht ein paar Monate vorher schon ausgetiftelt habt.“

„Unausstehlicher Mann! … Aber höre ’mal, Du bist doch auch der Ansicht, daß diese Geschichte schon lange spielt, nicht erst seit Wochen?“

„Das weiß ich wirklich nicht zu sagen, Mäuschen. Erinnere Dich, wie schnell wir einander fanden. Ein Tanzkränzchen, eine Landpartie und die Sache war fertig.“

„Ach ja, wir hatten damals ebenso schönes Sommerwetter wie heute! Ich trug noch lange Zöpfe und Du warst noch so hübsch schlank!“

Die Erinnerung stimmte Frau Edith ganz weich. „Möchten die Hermannsthaler so glücklich werden, als wir es sind,“ sagte sie, vergewisserte sich, daß der Kutscher sich nicht umblicke, und schnitt jede Gegenäußerung ihres Eheherrn durch einen unhörbaren, aber sehr nachdrücklichen Kuß ab. –

„Wer hätte das gedacht!“ sagte ganz Kronfurth, als mit der Abendpost die Verlobungskarten ankamen. Niemand hatte ja dasjenige, was hier unabänderlich gedruckt stand, auch nur im entferntesten geahnt, und einer lief zum andern, um sich Gewißheit zu holen, da er seinen eigenen Augen nicht traute. Als Sophie Adler die Neuigkeit erfuhr, schlich sie sich sachte davon, in den dunkelnden, einsamen Stadtpark. Dort weinte sie ungesehen und ungehört ihr Herzeleid aus. Nicht, daß sie sich ernstliche Hoffnungen gemacht oder auch nur allzukühne Träume geträumt hätte, aber – „daß es gerade so kommen, und daß es so bald, so plötzlich kommen würde, wer hätte das gedacht!“ –

Des Doktors „Lebensroman“ war mit der Verlobung nicht zu Ende. Das vermeintliche Schlußkapitel bildete vielmehr den Anfang zu einer neuen, ungeahnten Fülle von Lebensglück, zu einer neuen Lebensgeschichte, die auf jedem Blatt vom echten Frieden der Liebe zu erzählen wußte. Walter von Grollmann machte sich des Doktors Beispiel zu nutze, er ließ nicht nach, bis auch er seine Else heimführen durfte, und auf der Rückkehr von der Hochzeitsreise machte er mit seiner Frau wirklich seinem Versprechen gemäß eine Woche Rast in Hermannsthal. Dort fanden die beiden alles in schönster Eintracht; das Band, welches den Doktor mit Gerlach verknüpft hatte, war durch die Heirath nur noch fester geworden. Die „wohlthuendste Harmonie“ aber bestand, wie Amadeus dem Lieutenant versicherte, zwischen ihm und dem Professor Ronald. Und er hatte nicht ganz unrecht. Ronald hörte die Theatererinnerungen und philosophischen Betrachtungen des ehemaligen Komödianten gerne an und verrieth sogar für die Einzelheiten der „Nachteule“ eine wohlwollende Theilnahme. Da Amadeus gut und fließend schrieb, durfte er für den Professor bisweilen Manuskripte abschreiben, woraus ihm sowohl geistig als praktisch ein hübscher Gewinn erwuchs.

„Heute bin ich wieder den ganzen Nachmittag nicht vom Pegasus heruntergekommen,“ pflegt er nach solchem Arbeitstage mit wichtiger Miene zu seiner Vertrauten Mertens zu sagen, mit der er ebenfalls in ungetrübter Harmonie verbleibt. „Ja, ja, meine Liebe, es ist etwas Großes und Schönes, aber keineswegs etwas Leichtes, Mitarbeiter eines bedeutenden Gelehrten zu sein!“ Und dann rückt die gute Mertens, welche eine unklare, aber sehr grauenhafte Vorstellung von besagtem Pegasus besitzt, im Sturmschritt mit einem Imbiß für die erschlafften Lebensgeister ihres Freundes und Gönners heran. – – –

Im Aristoteles-Zimmer, dem Schreibtisch des Doktors gegenüber, hat sich Frau Martina ein anmuthiges Arbeitsplätzchen eingerichtet und über diesem prangt, jetzt unter Glas und Rahmen, das Bild der Kamerunerin. Jedermann weiß, daß dieses kleine Scheusal in irgend einer Beziehung zu des Doktors Herzensgeschichte steht, aber niemand wagt, die Sache zur Sprache zu bringen. Nur die vorlaute Nelly hatte eines Tages danach gefragt, als die Sonne das braune Antlitz durch ihr bewegliches Spiel gerade wie lebendig erscheinen ließ und dadurch die Neugier der Kleinen erweckte. Und der „Onkel Doktor“ hatte ihr folgende bemerkenswerthe, späterhin in Kronfurth von Haus zu Haus gehende Antwort gegeben:

„Mein liebes Kind, das ist eine sehr gute Freundin von mir! Eine höchst achtungswerthe Dame, welcher ich viel – ja eigentlich mein ganzes Lebensglück verdanke!“

Natürlich sind Nelly und die Kronfurther durch diese Antwort nicht klüger geworden.