Die Kaiserin Katharina II. von Rußland vor ihrer Thronbesteigung

Textdaten
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Autor: Eduard Schulte
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Titel: Die Kaiserin Katharina II. von Rußland vor ihrer Thronbesteigung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 867, 870–873
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Kaiserin Katharina II. von Rußland vor ihrer Thronbesteigung.

Von Eduard Schulte.

Das Leben jener Herrscherin, die, einem deutschen Fürstenhause entsprossen, im Jahre 1762 an der Seite ihres Gatten den russischen Thron bestieg und dann nach Verdrängung des Gemahls als Katharina II. Selbstherrscherin von Rußland wurde, entrollt uns ein hervorragendes Kulturbild aus dem achtzehnten Jahrhundert, in dem neben den dunklen Schatten die Lichtseiten nicht fehlen. Uns sollen hier die Anfänge ihrer glänzenden Laufbahn beschäftigen.

Wer um das Jahr 1740 zur Sommerszeit nachmittags den Stadtgarten von Stettin betreten hätte, dem wäre vielleicht unter den dort umherspielenden Kindern eine Gruppe von zehn- bis zwölfjährigen Mädchen aufgefallen, kleinen Freundinnen, die zu einander hielten. Vielleicht hätte er bemerkt, daß eine von ihnen mit dem Namen „Fieke“, als Abkürzung von „Sophie“, oder „Sophiechen“, gerufen wurde und daß die so Gerufene, die Munterste und Ausgelassenste in der Gruppe, die gemeinsamen Spiele angab und leitete. Diese „Fieke“ war die spätere Kaiserin Katharina von Rußland. „Fieke“ fühlte früh einen natürlichen Beruf, führend aufzutreten, und überdies gab ihr der Rang ihrer Eltern, wenn er auch im Vergleich zu der späteren Kaiserwürde der Tochter bescheiden war, ein gewisses Uebergewicht über ihre Spielgefährtinnen. Ihr Vater war ein Fürst von Anhalt-Zerbst und befehligte, in preußischen Diensten stehend, ein Regiment Infanterie in Stettin; später wurde er Gouverneur der Stadt und stieg zum Feldmarschall auf. Die Mutter war eine geborene Prinzessin von Holstein-Gottorp. Die Eltern verwöhnten ihre Tochter Sophie, die am 2. Mai 1729 in Stettin geboren war und noch vier jüngere Geschwister hatte, in keiner Weise; sie ließen ihre Kinder aufwachsen, wie es in anderen Offiziersfamilien auch üblich war. Wenn Sophie einmal das stolze Dämchen spielen wollte, wozu sie Neigung hatte, kam sie bei der Mutter übel an. Die Einkünfte des Fürsten, dem die Regierung von Zerbst erst später zufiel, waren unbedeutend und bestanden zu einem wesentlichen Teil in dem Offiziersgehalt. Immerhin waren die Eltern in der Lage, ihren Kindern gute Lehrer zu halten. Sophie lernte leicht und wußte sich die französische Sprache schnell zu eigen zu machen. Ueber ihr Aeußeres sagt eine Dame, welche sie in Stettin sah, folgendes: „Sie war vortrefflich gebaut, zeichnete sich schon als Kind durch eine edle Haltung aus und war groß für ihr Alter. Der Ausdruck ihres Gesichtes war nicht gerade schön, aber angenehm; ihr offener Blick und ihr liebenswürdiges Lächeln gaben ihrer ganzen Person etwas sehr Anziehendes.“

Die ersten Jugendjahre flossen für die Prinzessin Sophie ohne außerordentliche Erlebnisse dahin. Eine willkommene Unterbrechung des Alltagslebens in Stettin brachten die wiederholten Besuche, welche die fürstliche Familie an den Höfen von Zerbst, von Braunschweig, von Berlin und bei der holsteinischen Familie in Eutin abstattete. Sophie lernte dabei den jungen Fürsten persönlich kennen, der später Friedrich der Große hieß.

Zehn Jahre alt, sah sie in Eutin einen entfernten Vetter aus der Familie ihrer Mutter, den damals elfjährigen Herzog Peter von Holstein, der unter einer für ihn regierenden Vormundschaft stand. Dessen Mutter war eine der Töchter Peters des Großen und also eine Schwester jener Elisabeth, welche 1741 den russischen Thron bestieg. Bei dieser ersten Begegnung zwischen den Kindern konnte schwerlich jemand deren gemeinsame Zukunft voraussehen: nach ihrer Thronbesteigung berief die Kaiserin Elisabeth ihren Neffen als Thronfolger nach St. Petersburg, Sophie wurde 1745 sein Weib, er selbst 1762 als Peter III. Kaiser von Rußland; er ist der Ahnherr der noch jetzt regierenden Zarenfamilie. Doch greifen wir den Ereignissen nicht vor. –

Sophiens Mutter, die als holsteinische Prinzessin geborene Fürstin von Zerbst, sah die Berufung des Herzogs Peter nach der russischen Hauptstadt mit Genugthuung und knüpfte an die ihr bekannte Hinneigung der Kaiserin zu der holsteinischen Familie weitere Hoffnungen für die Ihrigen. Sie schickte der Herrscherin einen Glückwunsch zur Thronbesteigung, und Elisabeth schenkte ihr dafür ihr Bild, das mit Diamanten im Werte von 18 000 Rubeln eingefaßt war. Die Fürstin von Zerbst sandte zum Dank ein Porträt ihrer Tochter Sophie nach St. Petersburg, das sowohl der Kaiserin als dem herzoglichen Großfürsten sehr gefiel. Elisabeth fing bereits an, sich nach einer Braut für den Thronfolger umzusehen. Der Vicekanzler Bestushew, der Leiter der auswärtigen Angelegenheiten, war für eine sächsische Prinzessin, der holsteinische Hofmarschall des Thronfolgers, Graf Brümmer, Elisabeths Arzt und Günstling Lestocq, der preußische Gesandte von Mardefeld und der französische Gesandte Marquis de la Chétardie, die eng verbündet waren und den Einfluß Bestushews bekämpften, verwiesen auf die Prinzessin von Zerbst. Für letztere entschied sich, mehr durch eigene Erwägungen als durch fremde Einflüsse bestimmt, die Kaiserin Elisabeth.

Während die Fürstin von Zerbst der Entschließungen der Zarin harrte, beschäftigte sich die Einbildungskraft der Prinzessin Sophie lebhaft mit der schönen russischen Herrscherin, die so reichlich schenken konnte, und mit der glanzvollen Kaiserstadt an der Newa. Da traf am Neujahrstag 1744 in Zerbst, wo die ganze fürstliche Familie versammelt war, aus St. Petersburg für die Fürstin ein Brief ein, worin der Hofmarschall Brümmer sie im Auftrage der Kaiserin einlud, mit ihrer Tochter Sophie ohne Verzug nach Petersburg zu kommen. Die Kaiserin habe gewichtige Gründe, zu wünschen, daß die Fürstin ihren Gemahl nicht mitbringe. Wahrscheinlich wollte Elisabeth die fremden Einflüsse, die sie, hierin ganz Altrussin, nicht liebte, durch die Anwesenheit des Fürsten nicht noch gemehrt sehen; war das Kommen der Fürstin unvermeidlich, so mochte es daran auch genug sein. Der Zweck der Reise war so durchsichtig, daß Brümmer es nicht für nötig hielt, ihn besonders zu erwähnen. Auf die schwach bestellte Kasse der Fürstin Rücksicht nehmend, schrieb er: „Damit sich Euerer Durchlaucht keine Hindernisse in den Weg stellen, damit Sie für sich und die Prinzessin, Ihre Tochter, einige Toiletten anschaffen und die Reise ohne Zeitverlust unternehmen können, habe ich die Ehre, diesem Brief einen Wechsel beizulegen, auf welchen Sie beim Vorzeigen desselben sofort Geld ausgezahlt erhalten werden. Die Summe ist freilich sehr bescheiden; allein ich muß Euerer Durchlaucht sagen, daß dies mit Absicht geschieht, damit die Zahlung einer großen Summe nicht denen in die Augen fällt, die alle unsere Handlungen beobachten.“ Ferner schlug Brümmer vor, die Abreise möglichst geheim zu halten und bis Riga unter dem Namen einer Gräfin Reinbeck zu reisen.

Wenige Stunden nach diesem Briefe lief ein Schreiben Friedrichs des Großen ein, welcher der Fürstin die Absicht der Zarin, die Prinzessin Sophie mit dem Thronfolger zu vermählen, offen mitteilte, sich des Verdienstes, die Augen auf die junge Dame gelenkt zu haben, in wohlberechneter Weise rühmte und ebenfalls Geheimhaltung empfahl. Er sowohl wie Brümmer wünschten jedenfalls, etwaigen Gegenwirkungen, die von anderen Höfen gegen den Heiratsplan unternommen werden konnten, zuvorzukommen. Eine preußische Prinzessin, etwa eine seiner Schwestern, nach Rußland zu verheiraten, hatte Friedrich ausdrücklich abgelehnt, da ihr Los dort ihm zu unsicher schien. Aber es war ihm recht, daß die Prinzessin eines Hauses, das er dem preußischen Interesse zugeneigt glaubte, die Brautfahrt nach St. Petersburg unternahm.

Die Fürstin von Zerbst hatte nicht das leiseste Bedenken. Sie sah in der Verbindung ihrer Tochter mit dem russischen Thronfolger nur eine glänzende, für eine Prinzessin aus armem Fürstenhause doppelt wünschenswerte Versorgung. Sie packte ihre Koffer, und es klingt wie eine Erklärung und Entschuldigung für die Freudigkeit, mit der sie einpackte, wenn wir erfahren, daß sie für ihre „Fieke“ weiter nichts mitnahm als drei bis vier Kleider, ein Dutzend Hemden, einige Paar Strümpfe und wenige Taschentücher. Das war alles. Wie die Kaiserin Elisabeth das Reisegeld bezahlte, so gab sie später in St. Petersburg auch die Geldsummen, welche nötig waren, um die Fürstin und ihre „Fieke“ einigermaßen standesgemäß einzukleiden. Wie gut kannte der Hofmarschall Brümmer die Gedanken und Entschließungen der Fürstin, wenn er der Kaiserin Elisabeth auf die Frage, wann die Damen aus Zerbst wohl eintreffen würden, antwortete: „Ihrer Durchlaucht fehlen nur die Flügel, sonst würde sie zu Eurer Majestät geflogen kommen!“

Nicht ganz wohl bei der Sache war es dem Vater der Prinzessin, dem Fürsten von Zerbst. Der Frau Gemahlin gegenüber mochte er nur eine beratende Stimme haben. Sollte aber die [870] Tochter doch einmal nach Rußland gehen, so wollte er ihr wenigstens eine Denkschrift ausarbeiten, in der sie Warnungen vor mancherlei Gefahren und andere nützliche Ratschläge finden sollte. Die Fürstin sollte das Schriftstück mitnehmen und der Tochter nach der Ankunft in Rußland einhändigen. In dieser noch jetzt im Original vorhandenen Denkschrift heißt es, der Kaiserin solle sie „nächst Gott die größte Hochachtung und Dienstfertigkeit fußfällig beweisen“, dem Großfürsten solle sie sich unbedingt unterordnen; nur diesen beiden dürfe sie Vertrauen schenken. Mit Höflingen und Dienern dürfe sie sich nicht auf vertraulichen Fuß stellen, im Audienzzimmer niemand allein sprechen, überall müsse sie sich vorsichtig und zurückhaltend zeigen und sich niemals in Staatsangelegenheiten mischen. Es mußte sich nun herausstellen, ob die Prinzessin geeignet und gewillt war, diese Aufgabe zu erfüllen.

Sophie erfuhr, als die Briefe des Hofmarschalls und des Königs ankamen und die Reisevorbereitungen getroffen wurden, von den Aussichten und Zukunftsplänen der Eltern noch nichts, obgleich ihr deren Erregtheit und die häufigen Gespräche über den russischen Hof und die griechische Kirche auffallen mochten.

Am 10. Januar 1744 reisten der Fürst, die Fürstin und die Prinzessin zunächst nach Berlin. Die Fürstin hatte eine lange Audienz beim König und eine Unterredung mit dem Minister von Podewils. Da der König sie als eine rege und unternehmende Frau kannte und auf ihre Ergebenheit zählen durfte, so unterrichteten er und sein Minister sie auf Grund der Berichte der preußischen Gesandtschaft in St. Petersburg über den russischen Hof und legten ihr die Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der preußischen Politik in Bezug auf Rußland dar. Am 16. Januar setzte die fürstliche Familie ihre Reise in der Richtung nach Schwedt fort. In Schwedt trennte sich der Fürst von den Damen und ihrem kleinen Gefolge, um auf seinen Posten nach Stettin zurückzukehren, und jetzt erst wurde der Prinzessin, die von ihrem Vater für immer Abschied nahm, klar, wohin die Reise gehe.

Obwohl der preußische König die Regierungspräsidenten und die militärischen Befehlshaber, durch deren Gebiet der Weg führte, angewiesen hatte, der „Gräfin Reinbeck“, wie die Fürstin sich unterwegs nannte, behilflich und gefällig zu sein, fanden die Reisenden doch oft ungeheizte Zimmer auf den Stationen, und zuweilen mußten sie und ihre Dienerschaft mit der ganzen Wirtsfamilie und deren Hunden und Hühnern in einem Raum schlafen. Einmal wurden sie von Räubern bedroht. Gegen die außergewöhnliche Kälte schützten sich die Damen durch wollene Masken, Bedeckungen des ganzen Kopfes, welche nur die Augen freiließen. In Mitau wurden die Ankommenden, die nun ihr Inkognito wieder ablegten, mit fürstlichen Ehren empfangen, und von Riga an, wo der Prinzessin als erstes Geschenk der russischen Kaiserin ein prachtvoller Zobelpelz überreicht wurde, war ihr Schlittenzug von hohen und niederen Hofbeamten und von Kavallerie-Abteilungen geleitet. Von Ehrensalven begrüßt, kamen sie am 14. Februar in St. Petersburg an. Der Hof befand sich seit vierzehn Tagen in Moskau, um dort wie alljährlich mehrere Monate zu residieren, und es war Sitte, daß die Würdenträger des Reiches, der Senat, die oberen Behörden mit ihren Kanzleien, die fremden Diplomaten und andere angesehene Leute gleichzeitig nach Moskau übersiedelten. Der englische Gesandte giebt an, daß die Gesamtzahl der Uebersiedelnden mit den vielen Beamten, Geschäftsleuten und Dienern sich auf 100000 Köpfe belief. Der Zug der Schlitten und Wagen dauerte mehrere Wochen. Die kaiserlichen Schlösser zwischen St. Petersburg und Moskau waren für die Würdenträger Tag und Nacht gastlich geöffnet. Nach einer Rast von nur zwei Tagen schlossen sich die beiden Damen, von mehr als zwanzig Schlitten begleitet, dem mächtigen Wanderzuge an. Am 20. Februar erfolgte ihre Ankunft in Moskau. Die Kaiserin und der Großfürst empfingen sie mit großer Freundlichkeit. Nach der ersten Begrüßung ließ die Kaiserin ihre Augen lange auf der Fürstin ruhen, und deren Aehnlichkeit mit ihrem verstorbenen Bräutigam, dem Bruder der Fürstin, rief ihr ihren Verlust so lebhaft ins Gedächtnis, daß sie auf einige Zeit ins Nebenzimmer ging, um dort ihre Thränen zu verbergen. Sie überhäufte die Damen mit Ehren, Orden und Geschenken, und der von all dem Glanz geblendeten „Fieke“ war zu Mute, als wäre sie leibhaftig in die Welt eines orientalischen Märchens versetzt worden.

Die Verhältnisse, die am russischen Hofe bestanden, waren für jeden, der in dies Hofleben mit eintrat, aus mehr als einem Grunde schwierig und gefährlich. Die Kaiserin Elisabeth war eine Frau, die ihre Zeit zwischen Vergnügungen mancherlei Art und der strengen Beobachtung kirchlicher Gebräuche teilte. Bekanntlich hatte sie ihre Krone durch eine Thronumwälzung erlangt und der von ihr entthronte Kaiser Iwan lebte noch – wir verweisen den Leser auf den bezüglichen Aufsatz im Jahrgang 1893, S. 204, „der Gartenlaube“ – so war sie nie frei von Furcht und Mißtrauen. Um ihre Gunst und um den Einfluß auf ihre Entschließungen stritten sich die Großwürdenträger und die Mitglieder des von ihr wieder zu Ansehen gebrachten Senates: Eine preußisch-französisch-holsteinische Partei stand einer österreichisch-englischen entgegen.

Was den jungen Fürsten betrifft, an dessen Seite und mit dessen Hilfe die Prinzessin einen Platz an diesem Hofe behaupten sollte, so ist an ihm nur allzu sehr das Wort seiner Mutter wahr geworden: „Armes Kind! Nicht zum Glücke bist Du geboren!“ Nicht oft hat sich die trübe Vorahnung einer Mutter als so begründet erwiesen. Peters Vater hatte die Erziehung des Knaben vernachlässigt; das einzige, worin er den Sohn beeinflußte, war, daß dieser von jenem eine krankhafte Vorliebe für das Drillen der Soldaten annahm. Die Lehrer des Prinzen, der mit elf Jahren ganz verwaiste, waren rohe und pedantische Menschen, die ihn mit einer übergroßen Zahl von Unterrichtsstunden quälten, ihn blutig schlugen, ihn trotz seiner Kränklichkeit häufig zur Strafe hungern ließen und ihm niemals erlaubten, im Freien zu spielen. Da er wie auf den russischen auch zeitweilig auf den schwedischen Thron einige Aussichten hatte, so unterrichtete man ihn, je nach dem Stande dieser seiner Aussichten, jetzt einige Wochen in der schwedischen Sprache und im lutherischen Glauben und dann wieder einige Wochen in der russischen Sprache und im griechisch-orthodoxen Glauben. Die Folge war, daß er, als er im Jahre 1742 vierzehnjährig nach Petersburg berufen wurde, beträchtlich unklare Vorstellungen von der Religion hatte und weder Russisch noch Schwedisch verstand. Die Kaiserin Elisabeth gab ihm neue Lehrer und war in der Wahl derselben wiederum nicht glücklich. Einer von ihnen, ein Fanatiker des Anschauungsunterrichts, rühmte von sich: „Wir haben uns bemüht, aus jedem Zufall Nutzen zu ziehen. Auf der Jagd zum Beispiel wurden Bücher mit Abbildungen über Jagden durchgesehen, an den Plafonds wurden die mythologischen Metamorphosen erklärt; an Puppen wurde der Mechanismus der Maschinerie und alle Handgriffe der Taschenspieler besprochen, bei Feuersbrünsten wurden die Löschanstalten und ihre Zusammensetzung erklärt“ etc. Zu planlosem Unterricht und verkehrter Erziehung kam bei dem Großfürsten der Einfluß der einzigen Spielgefährten, die er hatte, nämlich seiner Bedienten, die ihn zum Trunk verführten, hinzu. Wie eingeschüchterte Kinder zu thun lieben, träumte er sich als Helden, und von einigen Kämpfen, die er als Kind im Auftrage seines Vaters gegen Räuber und Zigeuner durchgefochten haben wollte, erzählte er so oft, bis er selbst daran glaubte. Seine Mußestunden am russischen Hofe verbrachte der Knabe damit, daß er oft die Uniform wechselte und mit Bleisoldaten und Puppen spielte. Als er, nun sechzehnjährig, die um ein Jahr jüngere Prinzessin Sophie in Rußland wiedersah, war eine der ersten Mitteilungen an sie das Geständnis, daß er in eine Hofdame der Kaiserin verliebt gewesen sei, doch leider sei sie mit ihrer Mutter nach Sibirien verbannt worden; er habe diese Hofdame gern heiraten wollen, aber nun sei es ihm auch recht, wenn er die Prinzessin heirate, da seine kaiserliche Tante es doch einmal so wünsche. Die Prinzessin schreibt: „Ich hörte ihm errötend zu und dankte ihm für sein Vertrauen, aber im Grunde meines Herzens betrachtete ich seine Unklugheit und seinen Mangel an Urteil mit Erstaunen.“ Ein andermal sagt sie in ihrer zuweilen malerischen Sprache von ihm: „Er war diskret wie ein Kanonenschuß.“ Ihr Verhältnis zu ihm bezeichnet sie später kurz und treffend mit den Worten: „Bei seiner Sinnesart war er mir ziemlich gleichgültig, aber die Krone von Rußland war es mir nicht.“

Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Moskau mußte die Prinzessin anfangen, Unterricht in der russischen Sprache und in der griechischen Religionslehre zu nehmen. Sie begriff, daß von ihrem Eifer und von ihren Fortschritten das Maß des Wohlwollens wesentlich abhinge, das die mächtige Kaiserin ihr erweisen würde, denn noch hatte Elisabeth das entscheidende Wort nicht gesprochen, das die arme „Fieke“ von Zerbst zur Erbin des russischen Thrones erhob. Um das schwierige Russisch schnell zu erlernen, nahm sie [871] selbst die Nachtstunden zu Hilfe, und da sie sich dabei gegen den Frost nicht hinreichend schützte, erkältete sie sich und verfiel in eine langwierige lebensgefährliche Krankheit. Aus Besinnungslosigkeit erwachend, wünschte sie ihren neuen Religionslehrer zu sprechen. War sie von seinem Unterricht nicht durchgängig erbaut – denn der Gedanke an den Glaubenswechsel hatte doch viel Peinliches für sie – so hatte ihr immerhin sein gewinnendes Wesen zugesagt. Die Kaiserin erblickte in diesem Wunsche ein vollgültiges und willkommenes Zeichen innerer Bekehrung; dadurch und weil es bekannt war, daß die Prinzessin sich ihre Krankheit durch ihre Bemühungen um die Erlernung der russischen Sprache zugezogen hatte, gewann sie die Zuneigung der Kaiserin. Auch bei Hofe und unter dem Volke erregte sie Teilnahme, die sie nach ihrer Genesung, körperlich nun völlig erwachsen, durch vorsichtiges und leutseliges Verhalten zu steigern wußte. Die Kaiserin hielt sie jetzt der Ehre für würdig, die sie ihr zugedacht hatte. Der Vorschlag der Fürstin von Zerbst, den diese aus Rücksicht auf den Wunsch ihres Gemahls vorbrachte, aber wohl selbst nicht ernstlich meinte: auf einen Glaubenswechsel ihrer Tochter zu verzichten, wurde abgewiesen, und so trat die junge Prinzessin, die fortan den Namen Katharina führte, am 9. Juli 1744 öffentlich zur griechischen Kirche über. Am folgenden Tage fand die Verlobung mit dem Großfürsten Peter statt. Daß die Kaiserin ihr in dieser Zeit die Thronfolge zugesichert habe, falls der Großfürst vor ihr sterbe, hat die neuere Forschung als irrig erwiesen. Die Kaiserin schenkte der Braut ein Heiligenbild mit Brillanten für mehrere 100 000 Rubel und dem Brautpaare Ringe für etwa 50 000 Dukaten. Katharina führte nun den Titel Großfürstin und Kaiserliche Hoheit. Sie bekam einen Hofstaat und jährlich 30 000 Rubel „Nadelgeld“.

Der Großfürstin Katharina blieben in ihrer neuen glänzenden Stellung mancherlei bittere Erfahrungen nicht erspart. Sie hatte bisher kaum über einige Thaler verfügen können und verstand noch nicht, mit dem Gelde umzugehen, ja sie wurde auch späterhin nicht sparsam und kam sogar durch heimliche Anleihen in eine gewisse Abhängigkeit vom englischen Gesandten. Durch ihre Umgebung wurde sie zu kostspieligen Einkäufen verleitet, sie selbst erfreute gern durch Geschenke. Dabei geriet ihre Kasse in Bedrängnis. Die Kaiserin erfuhr davon und ließ ihr deshalb Vorwürfe machen. Der Großfürst war dabei zugegen und stimmte lebhaft mit ein, denn um der Kaiserin zu gefallen, stellte er sich stets auf ihre Seite. Jede Spur von Unmut, welche sich auf der Stirn der Kaiserin zeigte, fand zudem in der Schadenfreude der nicht betroffenen Höflinge ihren Wiederschein.

Erstaunt und nachdenklich betrachtete Katharina das alles. Sie sah, wie abhängig sie war und wie einsam sie trotz der launischen Gunst der Kaiserin dastand. Zugleich erkannte sie täglich mehr, daß am wenigsten ihre Mutter befähigt war, ihr einen Rat zu erteilen, vielmehr durch ihr Verhalten ein warnendes Beispiel dafür gab, wie man an diesem Hofe nicht auftreten durfte.

Wenn man die Briefe liest, welche die Fürstin von Zerbst an ihren Gemahl, an Verwandte in Deutschland und Schweden sowie an Friedrich den Großen schrieb, so sieht man, daß die Auffassung, welche sie von der Bedeutung ihrer Person und ihrer Sendung in Rußland hatte, eine ungemein hohe war; der Tochter that sie dabei nur ganz beiläufig Erwähnung. Sie, die erst 32 Jahre alt war, betrachtete sich als die Hauptperson und konnte sich, wie das einer Frau in mittleren Jahren wohl begegnet, schon an den Gedanken nicht gewöhnen, daß ihre Tochter allmählich heranwuchs und an ihr vorbei in den Vordergrund rückte. So ließ sie sich zum Beispiel von der armen Fieke, die von ihr auch noch in Rußland bei jeder Gelegenheit Ohrfeigen bekam, ein Stück guten Kleiderstoffes schenken, das die Kleine als ein Geschenk ihres Oheims für sich mitgebracht hatte; trotz einiger bescheidener Einwendungen der Tochter prangte nun die Mama in diesem Kleide. Nur das herrlichste Gewand des zerbstischen Kleiderbestandes ziemte einer Dame, die in Rußland eine gewaltige Staatsaktion vornehmen wollte! Sie hatte ausgesprochenermaßen die Absicht, den Vicekanzler Bestushew zu stürzen, das russische Reich einem preußisch-französisch-schwedischen Bündnis dienstbar zu machen, gewisse Schwierigkeiten in den Besitzverhältnissen von Holstein und Kurland zu ordnen und Rußland in eine andere Bahn der Entwicklung zu drängen. Zerbst verhandelte hier mit Rußland, und das Mißverhältnis der äußeren Machtmittel wurde dadurch mindestens ausgeglichen, daß das geistige und sittliche Uebergewicht offenbar auf seiten von Zerbst zu finden war. So dachte wenigstens die Fürstin. In Rußland hatten die Leute nun freilich ganz andere Ansichten.

Die Kaiserin Elisabeth sah in der Fürstin anfangs eine liebe Verwandte, die ihr als Schwester ihres verstorbenen Bräutigams doppelt wert war. Aber als sie nun erfuhr, daß die Fürstin mit den Feinden Bestushews, mit Brümmer und Lestocq, mit den Gesandten Mardefeld und Chétardie heimliche Unterredungen hatte und mit diesen Herren sowie mit dem Könige von Preußen in eifrigem Briefwechsel stand, verlor sie die Geduld. Sie stellte die Fürstin zur Rede und eröffnete ihr, es stehe ihr schlecht an, sich in Dinge zu mischen, die sie nichts angingen; sie möge sich diese Bemerkung als Lehre für die Zukunft dienen lassen. Die Fürstin fiel aus allen Himmeln und stammelte thränenden Auges Entschuldigungen. Es war ihr entgangen, daß der Vicekanzler alle Briefe, die sie zur Post gab, sofort fein säuberlich öffnen und genau abschreiben ließ, so daß die Kaiserin sie schon bald nach der Einlieferung an die Post lesen konnte. Der französische Marquis Chétardie, der sein Beglaubigungsschreiben noch nicht überreicht hatte und also durch das Gesandtenrecht noch nicht geschützt war, erhielt den Befehl, binnen vierundzwanzig Stunden seine Heimreise anzutreten. Später wurden auch Lestocq und Brümmer vom Hofe entfernt. Gegen das preußische Interesse wurde ein Vertrag mit Oesterreich geschlossen, und Bestushew erhielt seine Ernennung zum Großkanzler. Da die Fürstin sich durch diese Vorgänge noch immer nicht belehren ließ und bald von neuem zu intrigieren anfing, so wurde die Hochzeit des großfürstlichen Paares, obwohl der Großfürst noch einem Knaben glich, beschleunigt und damit der Fürstin die Veranlassung zu längerer Anwesenheit entzogen. Sie wurde zur Abreise reichlich beschenkt, und als sie im Oktober 1745 nach Riga kam, erreichte sie ein Brief der Kaiserin, worin die Bitte ausgesprochen war, sie möge bei ihrer Ankunft in Berlin Seiner preußischen Majestät im Namen der Kaiserin den Wunsch vorlegen, den Gesandten Mardefeld abzuberufen. Die Bitte war äußerst höflich abgefaßt, aber der Hohn und die Ironie, die in dem Auftrage selbst lagen, da die Fürstin mit König Friedrich und Mardefeld im Bunde gestanden hatte, waren vernichtend. Friedrich, der, in Schlesien kämpfend, das Vorgefallene brieflich erfuhr, war nicht wenig verwundert darüber, da er nach den Briefen der Fürstin hatte glauben müssen, daß sie die Herrin der Lage sei. In Wahrheit ist er nie in seinem Leben so unglücklich vertreten worden wie durch die Fürstin. Ihre Staatsaktion konnte nicht kläglicher endigen.

Am 1. September 1745 hatte die Trauung des siebzehnjährigen Großfürsten, der noch im letzten Jahre mehrere schwere Erkrankungen zu überstehen gehabt, mit der sechzehnjährigen Großfürstin zu St. Petersburg stattgefunden. Das junge Paar wohnte, wenn der Hof in einem der St. Petersburger Schlösser weilte, immer unter demselben Dache mit der Kaiserin. Katharinas Aufgabe war keine leichte. Ihr Gemahl langweilte sie damit, in den wenigen Zimmern, die ihnen beiden zur Verfügung standen, seine Bedienten zu exerzieren und eine Meute Hunde, die nachts in der Nähe des Schlafzimmers untergebracht wurde, abzurichten. Einmal traf sie ihn damit beschäftigt, eine Ratte, welche die ihm zum Spielzeug dienende hölzerne Festung benagt hatte und dabei von einem seiner Hunde ergriffen worden war, auf Grund eines standrechtlichen Erkenntnisses zu henken. Im Winterpalais, wo er Wand an Wand mit der Kaiserin wohnte, berief er eines Abends die Herren und Damen seines Hofes zu sich, um ihnen, was er gern that, eine Vorstellung auf seinem Puppentheater zu geben. Für das Vorspiel des Stückes verwies er sie auf eine verschlossene Thür desselben Zimmers, welche in das Speisezimmer der Kaiserin führte. Er hatte die Thür über und über mit Löchern durchbohrt, und die Zuschauer konnten die Kaiserin mit ihrem Hofe speisen sehen. Die Großfürstin, welche er ebenfalls zum Zuschauen herbeirief, erschrak, als sie hörte, um was es sich handle, erklärte, daß sie an diesem unpassenden und gefährlichen Zeitvertreib, welcher der Kaiserin bei so viel Zeugen schwerlich verborgen bleibe, nicht teilnehmen werde, und ging in ihr Zimmer zurück. Die Kaiserin hörte von dem Vorgefallenen und machte dem Großfürsten persönlich heftige Vorwürfe, ja, sie verstieg sich zu der Aeußerung, daß sie ihn seiner Streiche wegen noch vom Throne ausschließen werde. Aehnliche Auftritte und Drohungen fielen öfters vor und kamen durch die Diplomaten zur Kenntnis [872] der fremden Höfe. Daß die Großfürstin diesem Gatten nicht innerlich nahe stehen konnte, ist begreiflich. Die Neigung, die er ihr anfangs gezeigt hatte, erkaltete schnell. An der Seite dieses Gatten ist dann freilich auch die Großfürstin nicht vorwurfsfrei geblieben.

Die Kaiserin war zu unbeständig, als daß ihr Verhältnis zu der Großfürstin auf die Dauer ungetrübt hätte sein können. Katharina durfte mit ihrer Mutter, der sie trotz der Entfremdung vor der Trennung mit großer Anhänglichkeit zugethan blieb, keinen Briefwechsel führen. Wollte sie eine Nachricht geben, so wurde der Brief vom Auswärtigen Amte aufgesetzt und enthielt einige nichtssagende Redensarten; sie durfte nur ihren Namen darunter schreiben. Diesem Zwange gegenüber hielt sie es für erlaubt, sich um die Ermöglichung eines unbehinderten Briefwechsels zu bemühen; eine Zeit lang steckte sie bei Hofkonzerten einem eingeweihten Geigenspieler, der weitere Verbindungen hatte, ihre in kleine Röllchen gewickelten Briefe in die Rocktasche, während sie hinter dem Stuhl, wo er saß, scheinbar harmlos vorbeiging. Ihre Vorsicht und ihre immer weiter greifende Beliebtheit schützten sie bei dieser und mancher anderen Heimlichkeit. Schon erkannten die Staatsmänner und die Gesandten, daß sie, ganz anders geartet als ihr Gemahl, eine Frau war, mit der man rechnen konnte und vielleicht einmal rechnen mußte. Seit 1753 näherte sie sich dem Kanzler Bestushew, der ihrem Hause abgeneigt gewesen war, weil es die preußischen Interessen vertrat, aber nicht ihr persönlich: er blieb ihr fortan ergeben.

Nachdem das großfürstliche Paar neun Jahre verheiratet gewesen war, erfolgte am 1. Oktober 1754 die Geburt eines Knaben, des Großfürsten Paul. Die junge Frau hatte nicht das Glück, für ihr Kind selbst sorgen zu dürfen. Die Kaiserin Elisabeth hätte es als eine Schädigung ihres Ansehens und ihrer Macht betrachtet, wenn sie den kleinen Großfürsten nicht in ihrem Zimmer und unter ihren Augen hätte aufwachsen sehen; nur ihr sollte, wenn er zum Bewußtsein erwachte, seine kindliche Zuneigung gelten. Der Mutter wurde er gleich nach der Geburt genommen; sie durfte ihn erst nach sechs Wochen und von da ab nur in Zwischenräumen von mehreren Monaten sehen, und auch dann nur flüchtig. Um seine Pflege hatte sie sich nicht zu bekümmern. Auch von dem zweiten Kinde, der im Jahre 1757 geborenen Großfürstin Anna, wurde Katharina in gleicher Weise ferngehalten.

Kaiserin Katharina II. von Rußland
im Alter von 19 Jahren.
Nach dem Gemälde von v. Grooth.

Keine Entschädigung für die Sorge um ihr Kind, aber doch eine Gelegenheit zu nützlichem Wirken fand die Großfürstin in demselben Jahre 1754 durch die Uebernahme der holsteinischen Regierungsgeschäfte. Ihrem Gemahl waren sie lästig geworden, und er bat Katharina, sie ihm abzunehmen. Sie erfüllte seine Bitte, nachdem er ihr die nötige Vollmacht ausgestellt hatte. Bei ihrer Neigung zur Gründlichkeit ließ sie sich von den holsteinischen Beamten über die Fragen der Finanzen, der Rechtspflege, der Kirchen- und Schulangelegenheiten, der Handelspolitik, kurz über alle Zweige der Staatsverwaltung eingehend unterrichten und führte nun die Geschäfte mit erstaunlicher Arbeitslust und Arbeitskraft. Ihre mehrjährige Regierung über Holstein war für sie eine Vorschule für die Regierung von Rußland. Kaum je hat eine Fürstin einen Thron so gut vorbereitet bestiegen wie Katharina.

Mit der ernsten Beschäftigung stellte sich auch das Bedürfnis ernster Lektüre ein. Vor allen alten und neuen Schriften bevorzugte sie die Geschichtswerke des Tacitus und den „Geist der Gesetze“ von Montesquieu, Werke also, die meist auf Frauen nur geringe Anziehungskraft auszuüben pflegen. Montesquieus gehaltvolles Buch, das die Höhe der staatsphilosophischen Einsicht des achtzehnten Jahrhunderts darstellt, wurde ihr so wert, daß sie es ihr „Gebetbuch“ nannte; sie lernte daraus das Regieren als eine verantwortungsvolle Pflicht betrachten.

Die schwersten Zeiten, die Katharina verlebte, fallen in die Jahre 1757 bis 1760. Eine plötzliche ernste Erkrankung der Kaiserin im Jahre 1757 gab der Frage der Thronfolge, über die nach einem Ukas von 1722 das Staatsoberhaupt allein zu verfügen hatte, eine erhöhte Wichtigkeit. Der von der Kaiserin zum Erben eingesetzte Großfürst Peter erfreute sich keiner Zuneigung. Daß er Friedrich den Großen nicht nur bewunderte, sondern auch mit ihm, obwohl Rußland seit 1756 Krieg gegen Preußen führte, in brieflichem Verkehr stand, entfremdete ihm die russischen Staatsmänner, und daß er am liebsten preußische Uniform trug und auf preußischem Fuß exercierte, mißfiel dem gemeinen Manne. Trotzdem hatte die Kaiserin ihre wiederholt ausgesprochene Drohung, ihm sein Thronrecht wieder zu entziehen, nicht verwirklicht. Was geschah, wenn sie plötzlich starb? Der Kanzler Bestushew suchte brieflich das Einverständnis der Großfürstin für den Plan nach, sie unmittelbar nach dem Tode Elisabeths zur Mitregentin des neuen Kaisers ausrufen zu lassen. Trotz ihrer Verbindungen mit einflußreichen Personen wagte sie jedoch nicht, ihre Zustimmnng auszusprechen, und unmittelbar darauf gelang es ihren und Bestushews Feinden, das zwischen ihr und ihm bestehende stille Bündnis durch den Sturz Bestushews unwirksam zu machen. Der Rückzug des russischen Feldmarschalls Apraxin bald nach dem Siege, den er bei Großjägerndorf gegen den preußischen Feldmarschall Lehwald im Jahre 1757 gewonnen hatte, wurde nämlich böswillig dem Kanzler in die Schuhe geschoben; es hieß – und irrigerweise wird noch jetzt so erzählt – Bestushew habe den Rückzug angeraten, im Hinblick auf die Erkrankung der Kaiserin und den scheinbar nahegerückten Thronwechsel, der den preußisch gesinnten Großfürsten zur Herrschaft gebracht hätte. Während aber die Erkrankung der Kaiserin am 19. September erfolgte, ist der Rückzug der russischen Armee schon am 7. September im versammelten Kriegsrat beschlossen worden, und zwar wegen der traurigen Lage, in welcher das durch die zwar siegreiche, aber blutige Schlacht geschwächte Heer sich befand. Umgekehrt hat Bestushew, um den Feldmarschall Apraxin von jenem Verdacht zu reinigen, die mit Apraxin wie mit ihm befreundete Großfürstin veranlaßt, den Feldherrn in einem Briefe vor der Fortsetzung des Rückzuges, von dem man in Petersburg hörte, zu warnen. Die Feinde Bestushews und der Großfürstin erhielten von diesem Briefe eine unsichere Kunde und stellten, den Thatbestand verdrehend, der Kaiserin das Verhalten beider als verräterisch dar. Es gelang diesen Feinden freilich nicht, die Sache zu beweisen, dagegen wurde immerhin ein gewisses Einverständnis zwischen Bestushew, Apraxin und [873] Katharina deutlich. Das reichte hin, den Zorn der Kaiserin zu erregen. Bestushew fiel samt Apraxin in Ungnade, er wurde verhaftet und verlor seine Stelle, und die Großfürstin bekam von der Kaiserin so schlimme Worte zu hören, daß sie diese bat, ihr die Rückkehr nach Deutschland zu gestatten. So weit wollte Elisabeth die Sache jedoch nicht treiben, um so weniger, als der Großfürst den Plan der Entfernung seiner Gemahlin mit Freuden aufgriff, um statt ihrer ein Fräulein Woronzow heiraten zu können. So verlangte Elisabeth nur, daß die Leitung der holsteinischen Regierung, die ihr für die Großfürstin als eine Versuchung zur Machterweiterung erscheinen mochte, von dieser aufgegeben werde; im übrigen ging der Sturm ohne dauernden Nachteil für Katharina vorüber.

Am 5. Januar 1762 starb die Kaiserin Elisabeth, und der Großfürst bestieg als Peter III. mit seiner Gemahlin den Kaiserthron. Wohlgemeinte Warnungen Friedrichs des Großen hielten den neuen Herrscher, wie er einmal beschaffen war, von Thorheiten nicht ab. „Die Kaiserin befindet sich in einer grausamen Lage,“ schrieb der französische Gesandte Breteuil, „und wird mit der ausgezeichnetsten Verachtung behandelt. Sie erträgt das Benehmen des Kaisers gegen sie und den Hochmut des Fräuleins Woronzow mit großer Ungeduld. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kaiserin, deren Mut und Heftigkeit ich kenne, nicht früher oder später zum Aeußersten greifen sollte. Sie hat Freunde, welche, wenn sie es verlangt, alles für sie wagen würden.“ Eine unmögliche Regierungsweise vor Augen, scharten sich die russischen Großen wie von selbst um Katharina. Die drei Grafen Orlow mit ihrem großen Anhange unter den Offizieren, der Graf Panin, die Fürstin Daschkow übernahmen es, der Kaiserin die Herrschaft zu sichern, und diese hatte außerdem die öffentliche Meinung im russischen Volke für sich. Am 10. Juli 1762 wollte Peter seine Gemahlin und ihren Sohn gefangen setzen und sie in ein Kloster bringen lassen; unmittelbar darauf sollte seine Trauung mit Fräulein Woronzow stattfinden. Nun galt es, handelnd ihm zuvorzukommen. In der Nacht zum 9. Juli fuhr Katharina von Peterhof nach der Hauptstadt und ließ sich in den Kasernen und in der Kathedrale huldigen. Der Kaiser erfuhr in Peterhof, daß er zu regieren aufgehört habe, und fügte sich in sein Schicksal. Er wurde in das Landhaus zu Ropscha gebracht; später sollte er in Schlüsselburg in Haft gehalten werden. Allein acht Tage später wurde er, wahrscheinlich von Alexei Orlow, in Ropscha ermordet. Katharina durfte nicht wagen, die Ermordung ihres Gatten zu bestrafen, aber es darf ihr nicht zur Last gelegt werden, daß sie sie angeordnet oder auch nur vorher gewußt und gebilligt habe.

So wurde aus der „Fieke“ von Zerbst die Kaiserin Katharina II. von Rußland.