Textdaten
<<< >>>
Autor: Hermine Villinger
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Böse
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50–51, S. 848–850, 873–875
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[848]

Der Böse.

Von Hermine Villinger. Mit Illustration von A. Seligmann.

Die unterhalb des Ortlers, stille Menschen, die mit der Natur um ihr bißchen Wiesenland kämpften, was wußten die in ihrer Weltabgeschiedenheit von Leidenschaften? Außer etwa, wenn dem Aelpler in der Bergeinsamkeit einmal ein Gemsbock in den Weg lief; dieser Anfechtung vermochte keiner zu widerstehen. Im übrigen ordneten sie sich in allen Dingen ihrem Kuraten unter, und keiner der neunundneunzig zur Kuratie gehörenden Seelen wäre es je eingefallen, irgend etwas besser wissen zu wollen als er, oder sich gar aus dem engen Hochthal hinauszusehnen.

Einem einzigen Burschen nur war das ewige Einerlei eines Tages nicht mehr ganz recht gewesen; er litt freilich an einem Brustübel, wohl die Hauptursache seiner Unzufriedenheit; auch hatte ihm ein Tourist gesagt – solche waren zur Zeit noch gar seltene Erscheinungen im Suldenthal – drüben im Welschland sei ewiger Sommer und der mache alle Kranken gesund.

Also geschah’s, daß zum erstenmal seit Menschengedenken einer von Sulden die Heimat verließ. Es litt ihn aber nicht lang draußen; schon nach wenigen Jahren kehrte er zurück, gesund, mit einem dunkeläugigen Weib, und es gab großes Aufsehen im Ort, weil die Fremde am helllichten Werktag goldene Ohrringe trug und ein farbiges Gehänge um den Hals. Dieser Uebermut hielt indes nur während der zwei Sommermonate an; der Welschen war’s zu kalt da oben, und nachdem sie einen Buben mit kohlschwarzen Augen zur Welt gebracht, trug man sie auf den kahlen Gottesacker, wo außer ein paar dürren Lärchlein nichts Grünes fortkam.

Der kleine Hans Sepp wuchs auf; wenn die Witwe vom Nachbarhof ihren Aloisl herüber schickte, damit die Kinder zusammen spielten, bekam sie ihren Buben nie anders als bitterlich weinend zurück und in einem Zustand, der die Thränen des Aloisl vollständig rechfertigte.

Hörte der Herr Kurat von dem gewaltthätigen Wesen des Hans Sepp, dann lachte er, daß seine sämtlichen Zahnlücken zum Vorschein kamen, und meinte, mit seinen kleinen Augen lustig zwinkernd: er soll mir nur in die Schule kommen!

Als aber das welsche Kind auf der Schulbank saß, war dem geistlichen Herrn, der zugleich das Lehramt in seiner Gemeinde verwaltete, das Lachen vergangen. Wenn er sonst nach zweistündiger Schulzeit über sein wellenförmiges Wiesenland schritt, das Brevier in der Hand und seine Gebete murmelnd, den Kopf tief drin in den Schultern, mit seinen langen dünnen schwarz bestrumpften Beinen wie ein Storch ausschreitend, da hatte er an nichts weiter gedacht als an den möglichen Heusegen, hatte ihn schon aufgespeichert gesehen an Ort und Stelle und vergnügt zur Sonne hinaufgeblinzelt: nur zu, nur recht kräftig, daß es ausgiebt!

Jezt aber fühlte sich der Herr Kurat gezwungen, immer wieder an den kleinen Kerl da auf der Schulbank zu denken, mit dem er gegen alles Herkommen nicht fertig wurde. Ein Kind, das auf die Lehre, Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen, verächtlich aus der Mitte seiner Genossen rief, die paar Hütten hätte er in einer Stunde fertig gehabt – ein Kind mit großen sehnsuchtsvollen Augen, die unter einem Wust blonder Haare wie zwei feurige Kohlen hervorglühten und alles haben wollten, was ihnen begehrenswert erschien; ein kleiner heißer Streiter um sein eigenes Selbst, das die Leute um ihn her nicht begriffen und einzuengen suchten, wie dem Gebirgsbach geschah, wenn er im Frühjahr von oben herunterbrauste und den Frieden des Thales gefährdete. Aber ihm, dem Bach, grub man ein Bett, wies ihm den Weg, daß er sich austoben und in wildem Ungestüm dem Thale zueilen konnte. Dem Hans Sepp wurde keine Bahn eröffnet, der thatendurstige kleine Mensch sollte sich in das beschauliche Leben fügen, wie man’s da oben angesichts des ewigen Winters nicht anders kannte; die grenzenlose Einsamkeit, die nie ein Vogelgezwitscher belebte, zeitigte nur stille Menschen; selbst der Kinder Lust klang wie gedämpft, wenn sie zu Füßen der Bergriesen ihre Spiele trieben. Sie nannten Hans Sepp den „Bösen“ und stoben alle auseinander, wenn er daher kam, immer bereit, irgend eine in seinen Augen notwendige Strafe an ihnen zu vollziehen, zu welchem Amte er sich kraft seiner Selbstherrlichkeit berufen fühlte.

Nur mit dem Vater machte er eine Ausnahme; der litt wieder an seinem Brustübel, und es lag ihm den ganzen Tag nichts anderes im Sinn, als sich jenseit der Berge wieder die Gesundheit zu holen. Davon sprachen die beiden den lieben langen Tag und freuten sich und lebten so mit ihrer Sehnsucht ein reiches inneres Leben, bis der Vater ein paar Gulden beisammen hatte. Da machten sie sich auf, kamen aber nicht weit, denn der Mann brach schon unterwegs an einem Blutsturz zusammen.

[849] Hilfreiche Menschen brachten den Hans Sepp mit der Leiche seines Vaters heim; ein Hund war ihnen gefolgt, ein ruppiger, langhaariger Schäferhund, und als sein Besitzer wieder heim wollte, hing sich das Kind an das Tier und wollte es nicht fort lassen, indem es unter Thränen behauptete: „Ich habe ja sonst niemand auf der Welt!“ Das rührte den Mann, und er zog ab und ließ seinen Hund zurück.

Der Hans Sepp blieb mit seinem Fex im väterlichen Hause wohnen; er wollte es so, und dagegen kam nicht einmal der Herr Kurat auf. Bei der Witwe nebenan ging der kleine selbständige Mensch in die Kost; da jedoch das, was die Frau kochte, nicht auch den Hund satt machte, so klopfte der Hans Sepp mit seinem Zinnteller an allen zehn Höfen des Thales an, überall ein paar Brocken für seinen Kameraden heischend. Dabei wurde dieser mit glühender Eifersucht bewacht, durfte nichts von einer andern als seines Herrn Hand annehmen und keinem, der ihn rief, Folge leisten.

Da nun aber zur Zeit der Fex der einzige Hund im Dorfe war, so gab’s für ihn der Anfechtungen gar viele, und wehe ihm, wenn er einer solchen zum Opfer fiel. Der Hans Sepp kannte im Strafen keine Grenzen und hieb zu, daß das Jammergeheul des Tieres das ganze Thal erfüllte. Und so war und blieb er der „Böse“, dem jedes Kind aus dem Wege ging, und der sich auch von keinem Großen wollte meistern lassen.

Es war nicht nur für den Hans Sepp eine Erlösung, als er mit zwölf Jahren der dumpfen Schulstube entwachsen war; der Herr Kurat trabte noch einmal so vergnügt über seine hügeligen Wiesen hin, seit er von dem störrischen Buben befreit war, der von allen Dingen, die da gelehrt wurden, Grund und Ursache wissen wollte und ohne Beweisführung den Glauben verweigerte.

Er that ein Uebriges, indem er den Buben zu seinem Hirten machte und ihm dafür die Kleidung stellte; für die Kost kam die Gemeinde auf.

Der Aloisl aber hütete die paar Kühe seiner Mutter, und so hatten die jungen Kameraden ihr Reich für sich – das ganze hintere Thal, vom brausenden Suldenbach aufwärts durch den sich lang hinstreckenden Lärchenwald bis dahin, wo in Geröll und Felsgestein jeder Graswuchs aufhört. Aber der Hirten Leben war kein friedliches; der arme kleine beschauliche Aloisl, der so gern still seiner Wege ging oder auf einem Baumstamm sitzend, sich selber unbewußt die Morgenstille einsog – wenn er sich noch so geborgen wähnte, eh’ er sich’s versah, erscholl des Kameraden Stimme aus der Höhe, und der Hans Sepp kam heruntergerast, seine Augen sprühten, und er lachte aus voller Brust dem Aloisl entgegen: „Gelt, gelt aber, ich habe Dich gefunden!“

So war es immer; er konnte nicht ohne den Aloisl sein, und hatte er ihn gefunden, dann quälte er ihn. Wie auf der Lauer saß er, mit Augen, die ohne Unterlaß vom Aloisl zum Fex wanderten und wieder zurück. Er war überzeugt, zwischen den beiden bestand eine geheime Liebe, und darum mußte ihnen aufgepaßt werden. Der Fex durfte nur ihm die Hand lecken, nur an ihm mit stürmischer Freude emporspringen; der andere ging ihn nichts an. Die geringste Liebkosung für diesen, nur ein freudiges Aufbellen trug dem armen Fex erbarmungslose Schläge ein. Als sich einmal der Aloisl voll Mitleid dazwischen werfen wollte, bekam er eines mit der Peitsche übers Gesicht, daß er ein blutiges Zeichen davontrug. „Du hast Deine Mutter, und der Fex gehört mir,“ wurde ihm bedeutet.

Also gaben sie sich die erdenklichste Mühe, der Fex und der Aloisl, das Wohlwollen, das sie für einander hegten, zu verbergen; nur ein unterdrücktes, wie ein Schluchzen klingendes Geheul entstieg der Hundekehle, wenn der Aloisl daherkam, der seinerseits, aber nur wenn er sich unbeachtet glaubte, schnell mit der Hand über den Kopf des Tieres fuhr. Der unglückselige Fex verriet aber dann immer die That des Aloisl durch das bodenlos schlechte Gewissen, das er zur Schau trug, und wenn er so einherschlich, mit eingeklemmtem Schwanz, und den funkelnden Blick seines jungen Herrn nicht auszuhalten vermochte, dann wußte dieser schon, wieviel die Glocke geschlagen hatte.

Hatte sich jedoch eine Kuh verstiegen und galt es, mit Gefahr des Lebens an schwindelnden Abhängen hinzuklettern, dann war der Hans Sepp an seinem Platz; denn nie war ihm wohler, als wenn er seine ganze Kraft an eine Sache setzen durfte, wenn sich’s um Aufregungen handelte, um Kampf und Gefahren, einerlei welcher Art. Nur im Frieden war er nicht zu gebrauchen.

Es machte ihn traurig, wenn er des Abends heimging durchs Thal, und die Kinder ihm scheu auswichen, oder wenn er mit dem Aloisl am Tisch der Witwe saß und sie freundliche Worte nur für ihren eigenen Buben hatte oder gar jammerte, daß der wieder ein Zeichen heimgebracht von der Hand des gewaltthätigen Kameraden. Zornig warf er dann seinen Löffel auf den Tisch und ging hinüber in sein verwahrlostes Heim, wo die Spinnen ihr Wesen trieben und die Fensterscheiben, vom Staub wie verschleiert, kaum ein gedämpftes Licht einließen. Da saß er in der Totenstille seiner Einsamkeit, die Arme um seinen Fex geschlungen, und haßte sie alle, die Menschen, haßte sie grenzenlos und nahm sich vor: „Ihnen zu leid bin ich bös’, denn sie alle miteinander verdienen’s nicht besser!“

Es war sein Schicksal, er mußte grausam sein auch gegen die, welche er liebte. Er riß im Schweiße seines Angesichtes junge Bäume aus dem Erdreich und schleppte sie hinunter zum Abhang, von wo er sie jauchzend dem tosenden Bach überlieferte; dann mußte der Fex herhalten und mit Gefahr seines Lebens dem reißenden Wasser den Raub abkämpfen, während der Aloisl droben vor Angst schrie und den Kameraden anflehte, von seinem Beginnen abzulassen. Da lachte der Hans Sepp und verhöhnte ihn, und obwohl ihm selbst das Herz vor Angst um seinen geliebten Fex zu zerspringen drohte, er gab nicht nach und hörte nicht auf mit Rufen und Befehlen, bis das Tier stolz erhobenen Hauptes ihm die Beute zu Füßen legte.

Eines Tages hatte sich eine von den Kühen des Aloisl verstiegen; der Hans Sepp, sofort bereit, das Tier herbeizuholen, befahl dem Fex, bei der Herde zu bleiben, und machte sich auf den Weg. Nachdem er seine Aufgabe gelöst und die Kuh auf einen gangbaren Weg gebracht hatte, setzte er sich einen Augenblick nieder, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen; plötzlich beugte er das Haupt weit vor und lauschte hinab; da unten, wo er den Fex gelassen, hörte er des Aloisl Stimme. Er schlich hinab, und durch eine Lichtung der Bäume sah er den Kameraden und zu dessen Füßen den Fex, mit dem Kopf auf des Buben Knien.

Wie der Blitz brach der Hans Sepp durch die Bäume und rutschte jählings über Wurzeln und Stoppeln zu den beiden hinab. Der [850] Hund heulte laut auf und eilte geduckt davon, als spürte er schon im voraus die Schläge, die seiner warteten. Und der Hans Sepp erhob den Stock und stürzte mit einem Wutgeschrei dem Tier nach. Aber der Aloisl ergriff den Kameraden beim Wams und hielt ihn fest und keuchte es ihm ins Gesicht: „Böser – o Du Böser!“

Da that der Hans Sepp einen Stoß mit der Faust gegen des Genossen Brust; der taumelte, überschlug sich und stürzte im nächsten Augenblick in den zischenden Bach hinab, der ihn verschlang. – –

*               *
*

Stunden waren vergangen, der Hans Sepp watete im Schnee, hoch droben auf dem Kamm des Ortlers; er wußte nicht, wie er heraufgekommen war; besinnungslos vor Entsezen war er dem Orte seiner That enteilt, von dem Gefühl seiner Schuld getrieben wie mit Peitschenhieben; blindlings war er über Spalten gesprungen, auf dem Bauche über Gletscher gekrochen. Und nun stand er oben in der Ureinsamkeit des Bergriesen und vernahm nichts weit und breit als das Atemholen seiner eigenen sündigen Brust.

Mit einem lauten Aufschrei brach er im Schnee zusammen.

Als er erwachte, lag er warm gebettet unter einem schützenden Dach; es fing eben an zu dämmern; ein dunkelbärtiger Mann beugte sich über ihn, lachte ihm zu und reichte ihm ein Glas Wein und ein Stück Brot. Hans Sepp setzte sich auf und aß und trank. Von dem, was der Mann zu ihm sagte, vermochte er nichts zu verstehen, aber soviel erriet er, daß er sich in der auf dem Kamm des Ortlers errichteten Schutzhütte befand, und die Männer, die sich um ihn her bewegten, Bergsteiger waren. Nachdem sich diese überzeugt hatten, daß der Bub, den sie im Schnee aufgefunden hatten, lebte und mit Lust aß, streckten sie sich unverzüglich auf ihren Pritschen aus, denn eine Verständigung blieb ausgeschlossen, da sie Italiener waren.

In der Frühe, als sie aufbrachen, wollte sich ihnen der kleine Mensch ohne weiteres anschließen; sie zeigten hinunter in sein Heimatthal, ob er dahin gehöre, aber er schüttelte den Kopf, als ginge es ihn nichts an; auch von Trafoi jenseit des Ortlers wollte er nichts wissen. Auf das Gebaren der Männer hin, die ihn durchaus nicht mitnehmen wollten, blieb er endlich zurück, auf der Schwelle der Hütte kauernd, wie in sein Schicksal ergeben.

Die Wanderer schritten über den Grat des Ortlers, angeseilt einer an den andern, mit Steigeisen und Pickel bewaffnet. Als sie, einen Augenblick von ihren Mühsalen rastend, sich umschauten, sahen sie zu ihrem Entsetzen den Buben hinter sich herkommen; nur mit einem Stock versehen, kletterte er die schmale Kante entlang, rechts und links schwindelnden Abgrund; dem kaum Vierzehnjährigen schien das Leben keinen Deut zu gelten. Einer der Männer kam ihm ein Stück entgegen, dann nahmen sie ihn in ihre Mitte, nachdem sie ihn mit dem Nötigsten versehen hatten.

Fünf Tage gingen so hin unter allen erdenklichen Strapazen, unterbrochen von einer gelegentlichen Rast in den da und dort für die Bergsteiger errichteten Schutzhütten. Der Unternehmer der Tour war ein junger Italiener mit seinen drei Führern, von denen der kühnste, den sie Felice nannten, in Hans Sepps Augen der Held war; ihm nachzueifern und ähnlich zu werden, war fortan sein ganzes Bestreben. Als dem Felice der Eispickel in eine Lawinenrinne hinuntersauste und kein Mensch daran dachte, ihn wieder zu holen, war’s der Hans Sepp, der in aller Stille die That unternahm. Die Männer hatten sich auf dem Plateau des Hochjoches an einer windgeschützten Stelle gelagert und mit Speise und Trank gestärkt, als der Bub völlig atemlos, mit leuchtenden Augen auf den Felice zutrat und ihm seinen verloren gegebenen Pickel hinreichte. Der junge Italiener, ganz hingerissen von des kleinen Mannes That, griff in die Tasche und schenkte dem Hans Sepp ein großes Silberstück. „Braver, Braver!“ nickte er ihm zu, mehr wußte er nicht von deutschen Lauten, aber diese reichten hin, dem Burschen die Röte der Scham in die Stirne zu treiben. Wie es ihm plötzlich wieder in den Ohren gellte, das „Böser, o Du Böser!“ – jene letzten Worte des Aloisl.

Unter den Gefahren, wenn ihm die Anstrengung Denken und Fühlen raubte, schwieg jene innere Stimme, um ihn dann freilich in den Augenblicken der Ruhe um so lauter zu verfolgen. Wo war sie nun hin, die ihn so plötzlich durchzuckende Freude über das erste eigene Geld, das seine Hand umschloß? Er war der Brave nicht, für den die Männer ihn hielten – der Aloisl war tot durch ihn, für immer von der Welt genommen; es gab keine Sonne mehr für den Armen, keinen Feiertag, nichts mehr, was ihn freuen konnte. – Ich darf auch nichts haben, flüsterte eine innere Stimme in Hans Sepps Brust, für mich soll’s auch keine Freude mehr geben auf Erden. Und mit einem tiefen Seufzer und Thränen an den Wimpern, ließ er sein Geldstück in eine Felsspalte gleiten; es war eine That für ihn, und er glaubte allen Ernstes, halbwegs wenigstens den lieben Gott versöhnt zu haben.

Allein trotzdem überkam ihn auf der ganzen Wanderschaft nie wieder auch nur ein einziges Mal jene plötzliche Fröhlichkeit, wie sie ihn daheim so oft erfaßt hatte, daß er wie ein Verrückter schreien und jauchzen mußte, als warte auf ihn irgend ein großes unermeßliches Glück. O ja, er hatte es schön gehabt, wenn schon er mit allen in Fehde gelebt; jetzt hatte er sein Recht verscherzt und durfte nie wieder Gericht halten über die andern, denn von allen Menschen hatte er das Schlimmste gethan.

[873] Ueber den Suldenferner ging’s hinüber zum Cevedale, und von da in die jenseitige Welt, den Thälern zu, wo die Orangen blühen. Der Hans Sepp lief immer hinter den Männern her; nun aber, da er die Heimat im Rücken hatte und das kleine Thal seinen Blicken entschwunden war, sah’s gar jämmerlich in seinem Innern aus; blutenden Herzens sehnte er sich nach seiner öden Hütte, nach seinem Hund, der ihn verlassen hatte; daß Fex es gethan, daß der Hund ihm nicht nachkam, daraus ersah Hans Sepp erst recht die Größe seiner Schuld.

Drunten in der Osteria cines kleinen italienischen Dorfes trennte sich der Herr von seinen Führern, und auch diese gingen jeder seines Wegs. Der Hans Sepp aber wich nicht von der Seite des dunkelbärtigen Felice, und dieser ließ ihn lachend gewähren.

Es war eine wunderbare Welt, die sich vor dem kleinen Hochländer aufthat, ihm so unbegreiflich mit ihrem südlichen Sonnenschein, ihrer Lebendigkeit und üppigen Farbenpracht. Aber der sonst für alles Neue so empfängliche Bursche war er nicht mehr; er ging mit einem Riß in der Seele, mit einer weit klaffenden Wunde, die ihn unaufhörlich schmerzte und ihm die Fähigkeit raubte, sich wie früher rückhaltlos seinen Eindrücken hinzugeben.

Außerhalb einer kleinen rebenumpflanzten Ortschaft lag des Felice Hütte, wie ein Schwalbennest an eine hohe Mauer geklebt, die, von dichtem Epheu umsponnen, aus einem Haufen von Schutt und Gestein ragte. Man erkannte an den bogenförmigen Eingängen der sich lang hinstreckenden Steinwand und an der zellenartigen Fensterreihe, daß es die Baureste eines alten Klosters waren, dessen Herrlichkeit allein das Pförtnerhäuschen überdauert hatte, während rings umher eine Mauer nach der andern eingestürzt war.

Felice und sein junger Begleiter mußten erst ganze Berge von Schutt übersteigen, bis sie zum Eingang der Hütte gelangten. Hier empfing sie ein ungekämmtes Weib mit einem unbeschreiblichen Aufwand von Geschrei; wieder war eine Wand zusammengefallen, und sie hatte müssen den ganzen Tag Schutt fahren, nur damit es möglich war, in das Haus zu kommen. Jetzt aber war’s an ihm, dem Felice, den Weg endgültig vom Gestein zu befreien, und sie verschwor sich hoch und teuer: nichts zu essen bekomme er, wenn er nicht arbeite.

Der Mann schob den Buben zwischen sich und das keifende Weib; den habe er mitgebracht, damit er die Arbeit thue; es sei ein hergelaufener Bursch, der froh sei über ein bißchen Essen und einen Platz hinterm Herd.

Der wurde ihm, und zu essen bekam er auch; allein so wenig verwöhnt der Hans Sepp von Haus aus war, seine kleine Hütte mit den blinden Fensterscheiben dünkte ihm ein wahres Herrenheim im Vergleich zu der vor Schmutz starrenden, über alle Begriffe unordentlichen Häuslichkeit des Felice; dieser selbst war wie ausgewechselt, that nichts als Tabakrauchen und auf der faulen Haut liegen und schickte jeden heim, der ihm seine Schuhe zum Flicken brachte; denn Felice war seines Handwerks ein Schuster, rührte aber keine Arbeit an, so lang er von seinem Führerlohn zu zehren hatte.

Wohl zwanzigmal im Tag fuhr das Weib mit dem Kopf in den kleinen Raum neben der Küche und schrie den auf einer Bank lungernden Felice an: „Thust wieder nichts, Du Faulpelz, dann [874] magst auch zerrissen herumlaufen und zuschauen, wer Dir Dein Zeug flickt!“

Laut krachend flog die Thüre zu. Nach ein paar Augenblicken wurde sie wieder aufgerissen und Felice steckte den Kopf in den Küchenraum: „Thust Du vielleicht etwas, nichtsnutziges Weib?“

„Nein,“ kreischte sie, „nein, nein, ich rühre nichts an, so lange Du nichts thust!“

Ein Fluch aus dem Munde des Mannes, und die Thüre flog abermals ins Schloß.

So oft aber die beiden vors Haus traten, um nach dem Buben auszuschauen, trafen sie ihn nie anders als thätig. Sein rundes braunes Gesicht war ganz hager geworden und seine früher so blitzenden Augen glimmten ernst und düster wie erlöschende Kohlen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt: „Wenn ich all den Schutt, der um das Haus liegt, in den Steinbruch gefahren habe, verzeiht mir vielleicht Gott –“

Und obgleich ihm das Heimweh fast die Seele verzehrte – er wischte sich mit dem Rücken der Hand die Thränen von den Wangen und biß die Zähne aufeinander.

So war die Weihnachtszeit herangekommen; es regnete wohl manchmal, aber kalt war es nicht, und der Hans Sepp erachtete es für ein besonderes Unglück, in einem Lande leben zu müssen, dem der Winter keinen Schnee brachte. Jetzt hatte die weiße glitzernde Decke längst sein geliebtes Hochthal eingehüllt und still und friedlich lebte jeder in seiner Hütte.

Zwar die zwei sich beständig ihre Faulheit vorwerfenden Menschen schienen sich mit einem Male eines anderen besonnen zu haben. Felice hatte den Anfang gemacht; das fremde Kind da draußen, das nie müde wurde, seinen Schutt aufzuladen und zum Steinbruch zu fahren, hatte es ihm angethan: ein Gefühl der Scham bemächtigte sich des Mannes, und eines Tages machte er sich in aller Stille über seine Gerätschaften her und begann zu arbeiten. Kaum aber hörte ihn das Weib in seiner Bude hämmern, als sie schleunigst zur Nadel griff und wie von Sinnen drauf los nähte. Draußen der Bub’ verwunderte sich: was ihnen nur ist, sie schlagen ja keine Thüren mehr zu?

Er sollte eine noch größere Ueberraschung erleben; er hatte ohne ein Wort der Klage die unbeschuhten Füße mit alten Lappen zu umwickeln gesucht und seine zerfetzte Jacke mit Nadeln zusammengesteckt – da, am Weihnachtsmorgen fand er vor seinem Lager ein Paar gute nägelbeschlagene Schuhe und ein buntfarbiges baumwollenes Hemd. Das hatten sie ihm heimlich hingelegt, der Felice und sein Weib. Als sich der Hans Sepp aber mit ein paar aufgeschnappten italienischen Brocken bei ihnen bedanken wollte, lachten sie ihn aus, und keines wollte von der Sache wissen.

Mit der Zeit schämten sich die beiden ihres Fleißes immer weniger, und als das Frühjahr kam, mühte sich nicht mehr der Bub’ allein mit dem Schuttfahren ab, auch Felice und sein Weib fuhren im Schweiße ihres Angesichtes ihren Karren zum Steinbruch. Und so stand eines Tages die Hütte auf geebnetem Boden und ringsumher in die feuchte Erde streute das Weib den Samen zu kommendem Wohlstand. Felice aber sagte zu dem Buben, den die milde Frühlingsluft um seine letzte Kraft zu bringen drohte: „Wie ist’s, kommst’ mit? Morgen geht’s auf den Cevedale.“

Dem Hans Sepp blieb die Antwort in der Kehle stecken; er ging rasch weg, um seine Erregung nicht zu verraten.

Am andern Morgen stand er schon in aller Frühe vor dem Häuschen; alles hatte er sich aufgepackt, beide Rucksäcke, Pickel und Seile; sein Antlitz glühte vor Eifer. Felice lachte laut auf, nahm das meiste an sich, und so schritten sie selbander davon. Das Weib kam ihnen nachgestürzt: „Bring’ ja den Buben wieder mit!“ empfahl sie ihrem Gatten; dann machte sie ein Kreuzeszeichen auf Hans Sepps Stirne: „Du warst unser guter Engel!“

Unterhalb des Cevedale trafen Führer und Touristen zusammen, und der Aufstieg begann.

O, die Heimatluft, die kräftige Luft der Alpen, sie gab der kleinen schuldgepreßten Brust des Verbannten den ersten glücklichen Augenblick wieder! Und als er erst oben stand und sein kleines Thal erblickte, tief drunten, nicht größer als die Fläche einer Hand, da vergaß er alles, was bisher wie ein Alp auf seiner Seele gelegen hatte, und jauchzte hinaus, daß es von den Bergen widerhallte.

Felice aber, der hinter ihm gestanden, klopfte ihm mit einem bedeutungsvollen Lächeln auf die Schulter. „So, jetzt weiß ich auch, wo Deine Heimat ist.“

Der Hans Sepp wurde dunkelrot. „Aber ich bleibe bei Dir, Felice,“ flüsterte er.

„Und warum?“ fragte der Mann.

„Ich will ein großer Führer werden,“ lautete die ausweichende Antwort des Buben.

Des Morgens in der Frühe, bevor sich noch einer in der Schutzhütte, wo man genächtigt hatte, rührte, schlich der Hans Sepp hinaus ins Freie. Es tagte eben; er nahm den Weg über die kolossalen Moränen des Suldenferners. Dem Thale strebte er mit stürmisch pochendem Herzen zu; dort im Lärchenwald konnte er sich verbergen und hinabsehen in sein Heimatthal – vielleicht daß er den Fex erblickte!

An der Ortlerspitze leuchtete das Frührot, als der Hans Sepp zur Stelle kam, von wo aus er sein geliebtes Thal zu überblicken vermochte, ohne daß er Gefahr lief, von unten gesehen zu werden. Zitternd stand er zwischen dem dichten Gestrüpp der hohen und niedrigen Bäume und lauschte, ob nicht etwa ein Hirte die Kühe dahertreibe. Plötzlich schrak er zusammen, der dumpfe Knall eines Schusses war an sein Ohr gedrungen, gleich darauf blitzte es durch die Bäume, Gesang ertönte, und die Glocken des Kirchleins läuteten feierlich zusammen. Jezt wußte der Hans Sepp, sie hatten einen Bittgang drunten, und er riß den Hut vom Kopf und preßte ihn mit seinen hageren Händen krampfhaft gegen die Brust; mechanisch, mit heiserer Stimme sang er die wohlbekannten Lieder mit, derweil sein Blick dem roten Baldachin folgte, unter dem der Herr Kurat mit dem Allerheiligsten in den Händen über die Wiesen schritt. Und er, er da oben war ausgeschlossen, durfte sich nie mehr in den vertrauten Kreis mischen – er war [875] der Böse, vor dem die drunten, die nie etwas Böses gethan, voll Abscheu das Antlitz wenden würden. Nein, er mußte wieder gehen, er durfte ihnen nicht vor die Augen treten, nur warten wollte er noch und hinabschauen, nur so lange, bis er den Fex gesehen. Er hatte ja doch so fleißig gearbeitet, den ganzen Winter lang, rechnete er dem lieben Gott vor, dafür könnte ihm schon diese eine Gnade zu teil werden. Mehr zu verlangen, das wußte er, hatte er kein Recht; später vielleicht, wenn er ein großer Führer geworden war und tausend Gefahren bestanden und vielen Menschen das Leben gerettet hatte, dann vielleicht durfte er wieder heimkommen und die Schwelle seines Hauses betreten, was ihm als der Inbegriff aller Glückseligkeit erschien.

Die Prozession war zu Ende; nur ein leiser Pulverdampf zog noch über das Thal hin; die Leute gingen heim – durch die Wiesen, über den Bach oder am Waldesrand entlang. Wie von magischer Gewalt gezogen, stieg Sepp tiefer hinab; verzehrend haftete sein Blick an dem kleinen Haus, das ihm gehörte und in das keiner hineinging, obwohl die Thür offen stand – warum stand sie offen?

Großer Gott, da erhob sich’s von der Schwelle und richtete sich auf und schnoberte in die Luft – der Fex – der Fex! Dem Buben stürzten die Thränen wie Bäche aus den Augen; er streckte die Arme aus, er wollte rufen, aber nur ein heiserer Laut drang aus seiner Kehle. Der Hund lief hinunter auf die Wiese, hinter einem Hirten her, der mit der Peitsche knallte. Die Thränen verhinderten den Hans Sepp, recht hinzusehen, er wischte sich die Augen, heftig, zornig – wem lief der Fex nach – wer war jetzt sein neuer Herr?

Im nächsten Augenblick stand der Hans Sepp wie eine Bildsäule da, mit weit aufgesperrten Augen, als sähe er am helllichten Tag Gespenster. Dann raste er hinab; drunten der Fex stieß ein markerschütterndes Geheul aus – ein paar Minuten später, und der Hans Sepp stand vor seinem Kameraden Aloisl.

„Jesus,“ schrie dieser auf, „wir haben ja alle Tag’ für Dich gebetet – wo warst denn so lang, Hans Sepp?“

„Bist nicht ertrunken?“ lautete dessen erstaunte Frage.

Der Aloisl schüttelte den Kopf. „Der Fex hat mich aus dem Bach gezogen – schau, jetzt meint er, Du haust ihn wieder, und hat Angst vor Dir. Wie die Männer Dich suchten, haben sie ihn droben am Ortler gefunden, halb verhungert, mit erfrorenen Pfoten; kraxeln kann er nimmer, aber vor Deinem Haus hat er alle Nacht gelegen und nach Dir gejammert. Gottlob, daß Du wieder da bist,“ schloß der Aloisl seinen Bericht, „und wir haben heut’ zum Glück grad Knödel und Speck.“

Der Hund hatte sich trotz seines schlechten Gewissens nicht länger zu halten vermocht und war an Hans Sepp wie närrisch emporgesprungen. Der Bursche umschlang das Tier und drückte die Wange gegen dessen Kopf.

„Aber,“ kam der Aloisl auf seine erste Frage zurück, „wo warst denn so lang, Hans Sepp?“

Der deutete mit der Hand nach den Höhen, von denen er herabgekommen war. „Dort drüben,“ murmelten seine Lippen, „weit, weit dort drüben –“ Dann blieb sein Auge mit einem Ausdruck plötzlichen Erstaunens an des Kameraden Gesichtszügen hängen – ein wenig gewachsen war er, der Aloisl, sonst hatte sich nichts in seinem stillen schläfrigen Gesicht verändert. Er aber – der Hans Sepp atmete tief auf und etwas wie ein Schauer ging ihm durch die Seele – er war ein anderer geworden, ein ganz anderer – er war kein „Böser“ mehr.