Die Hungersnoth in der Eifel
Die Hungersnoth in der Eifel.
Sehr vielen unserer Leser wird die Eifel wohl kaum mehr als dem Namen nach bekannt sein, und wohl nur sehr wenige werden sie bereist haben und mithin aus eigener Anschauung kennen. Die Moseltouristen freilich, die von Coblenz nach Trier fahren und sich in Trarbach und Bernkastel einige Tage aufhalten (manche von ihnen vielleicht mehr wegen der köstlichen Weine, als wegen der Naturschönheiten), machen wohl von dem gegenüberliegenden Alf einen Abstecher nach dem hübschen Bade-Orte Bertrich, wo bereits die Eifel beginnt; sie diniren vortrefflich im dortigen Curhause und besuchen dann den berühmten „Käskeller“, wo sie stets heitere Gesellschaft und natürlich auch die obenerwähnten köstlichen Weine finden. Wer kennte nicht den Bernkasteler „Doctor“, von dem ein altes Volkslied sagt:
„Das ist der wahre Medicus;
Heilt Leib und Seel’ von jedem Verdruß;
Bernkasteler Doctorwein
Schenkt der Herrgott selber ein!“
Der „Käskeller“ ist eine gewaltige Basalthöhle, die diesen Namen deshalb führt, weil die Säulen ganz so aussehen, als wären sie aus großen, auf einander gelegten holländischen Käsen gebildet. Poetische Damen, die sich in das Fremdenbuch mit irgendeinem gefühlvollen Verse, eigenen oder fremden Fabrikats, einschreiben, nennen sie aber lieber die Feen- oder Elfengrotte. Nicht weit davon braust ein prächtiger Wasserfall von der Höhe herab, eine schwindelnde, aber sichere Brücke trägt hinüber, und man hat dort oben einen lohnenden Rundblick in die Ferne. Der eigenartige und zwar vulcanische Charakter der Eifel tritt schon hier deutlich hervor: überall ragende Felsblöcke, die sich aber bei näherer Besichtigung als tausendjährige Lavamassen herausstellen, die von längst erloschenen Kratern herrühren. Solche Krater findet man überall in der Eifel verstreut, die meisten von ihnen sind mit Wasser gefüllt und bilden dunkle Teiche und Seen, die sogenannten Maaren, mit meist düsterer, aber oft sehr pittoresker Umgebung[1]. Auf den Bertricher Aussichtspunkten sieht man freilich davon nur wenig; blühende, reichbewachsene Gelände wechseln dort ab mit romantischen Felspartien, üppige Kornfelder ziehen sich in den Niederungen entlang, und wenn die vergnügte Reisegesellschaft spät Abende nach Alf oder Trarbach zurückkehrt, so haben sich Alle köstlich amüsirt und rathen Jedem an der Gasttafel, doch ja den hübschen Ausflug nicht zu versäumen.
Das ist aber nur die Lichtseite und auch nur die eines kleinen Theiles der Eifel, wie sie deren übrigens noch verschiedene bietet, namentlich nach dem östlich gelegenen Rheinthal hin, denn der königliche Rhein entfaltet gerade dort eine solche Fülle von Schönheiten, [259] daß er einige von ihnen, als hätte er deren zu viel, gern den nachbarlichen Länderstrecken überläßt.
Auch die vor mehreren Jahren eröffnete Zweigbahn von Trier nach Köln (über Bittburg, Stadtkyll und Euskirchen) führt noch dann und wann durch freundliche und sogar romantische Gegenden, obwohl sich auch hier schon der düstere, einförmige und öde Charakter des Landes zeigt.
Das eigentliche Gebiet der Eifel erstreckt sich aber westlich von dieser Bahnlinie bis an die belgische Grenze; Eupen z. B. liegt nur wenige Stunden von Verviers, und die Städte Montjoie und Malmedy deuten schon durch ihren Namen die französische Nachbarschaft an. Südlich bildet alsdann das Großherzogthum Luxemburg den Abschluß, sowohl nach Rheinpreußen, als auch weiterhin nach dem deutschen Reichslande Lothringen. Die Länge des ganzen Eifelgebietes beträgt mithin etwas über vierzig und die Breite gegen zwanzig deutsche Meilen, und dasselbe ist schon deshalb überaus merkwürdig, weil es durchweg eine Hochebene bildet, die sich bis zu anderthalbtausend Fuß über dem Meeresspiegel und etwa zwölf- bis dreizehnhundert Fuß über dem gewohnlichen Wasserstande des Rheins erhebt. Aus diesem Grunde haben manche Geographen, nachdem sie die allerdings sehr gewagte Behauptung aufgestellt, daß Deutschland vor vielen tausend Jahren noch vom Meere bedeckt gewesen, die jetzige Eifel als eine große Insel in diesem Meere angesehen; eine Frage, die wir natürlich auf sich beruhen lassen.
Der mittlere Theil dieses Plateaus ist zugleich der höchste und deshalb auch der ödeste und unfruchtbarste. Und doch ist er von Menschen bewohnt, die den ärmlichen Boden mit Korn und vorwiegend mit Kartoffeln mühsam bestellen, und die selbst in den günstigsten Jahren froh sind, wenn der Ertrag für ihren eigenen Unterhalt ausreicht. Eine weitere Hülfe und zwar an Brennmaterial bieten die Torfmoore, die sich in der holzarmen Gegend meilenweit hinziehen, aber freilich auch nur für den eigenen Bedarf ausgebeutet werden, da es an directen Communicationsmitteln zur Versendung fehlt, die sich überdies bei dem großen Kohlenreichthum der Nachbarländer auch nicht lohnen würde.
Nichts ist trostloser als jene Moorgegenden, auf denen oft wochen- und monatelang, namentlich im Herbste, dichter, feuchter Nebel liegt, der das Klima zu einem höchst ungesunden macht. Aber der Mensch gewöhnt sich an Alles, und der arme Eifelbewohner wird gewissermaßen mit Ergebung in sein hartes Schicksal geboren. Hier und da sieht man auf jenen Moorflächen auch wohl ein kleines hölzernes Kreuz, das die Unglücksstätte bezeichnet, wo ein einsamer verirrter Wanderer bei Nacht und Nebel im Sumpfe versank, dessen Leichnam dann später zufällig von den Torfarbeitern aufgefunden wurde.
Die Winter sind dort begreiflich ebenso langdauernd wie streng, der Schnee liegt oft monatelang meterhoch, weshalb auch dieser Theil der Eifel den Namen Schnee-Eifel trägt (das Volk sagt kurzweg „Schneifel“), und eisige Winde, die auf diesem Plateau von allen Seiten den freien Zugang haben, mahnen geradezu an Sibirien. Die einzelnen Häuser der Dörfer liegen fast immer weit aus einander; das Dorf Rottingen z. B. nimmt mit kaum hundert Häusern und sieben- bis achthundert Einwohnern fast einen gleichen Umfang wie Aachen ein.[2] Und „Häuser“ kann man diese niedrigen, rauchgeschwärzten, oft sogar fensterlosen Hütten kaum nennen, die nur einen einzigen und, wenn es hoch kommt, zwei Wohnräume enthalten und nur mit dem allernothdürftigsten Mobiliar (auch diese Benennung klingt viel zu vornehm) versehen sind. Kirche und Pfarrhaus sind in vielen Dörfern gleich unansehnlich, und beim Anblicke mancher Schulhäuser glaubt man gar nicht in Preußen zu sein, wo doch im Allgemeinen gerade für die Schulen so viel gethan wird, obwohl auch in einigen größeren Ortschaften neue Schulhäuser gebaut wurden, aber auf Kosten der Gemeinden, die dadurch in große Schulden gerathen sind. Auch sonst ist die Steuerlast schwer und kaum mehr zu ertragen, und, was das Schlimmste ist, die kleinen Grundbesitzer sind noch anderweitig stark verschuldet und zwar an die Güterhändler, die mit ihren Agenten unaufhörlich das Land durchziehen und stets bei der Hand sind, den Bedürftigen Geld vorzuschießen, natürlich gegen hohe Zinsen und außerdem gegen hypothekarische Verschreibung ihres Eigenthums. Das Volk nennt sie „Halsabschneider“, und mancher Bauer, der in ihre Krallen gerathen, hat schließlich und ohne recht zu wissen, wo und wie, all sein Hab und Gut an sie verloren und ist mit den Seinigen an den Bettelstab gekommen. Die Gerichte können nur in den seltensten Fällen einschreiten, denn jene Leute sind raffinirt, „man braucht sich mit ihnen ja nicht einzulassen“, und ein Proceß kostet erst recht viel Geld. Auch die letzte Zuflucht, die so vielen anderen Leidensgefährten in Deutschland offen steht, das Auswandern, ist den armen Eifelern verwehrt; denn auch dazu gehört Geld, was sie eben nicht haben.
Das ist mit wenig kurzen Worten das Land, wo jetzt die entsetzlichste aller Nöthen, die Hungersnoth, herrscht, von deren Schilderungen die Zeitungen voll sind und zu deren Linderung von allen Seiten Aufrufe erlassen werden. Manche Einzelnheiten entziehen sich geradezu der Beschreibung und würden, wenn man sie in ihrer ganzen erschütternden Wahrheit ausmalen wollte, bei den meisten Lesern kaum Glauben finden. Man bedenke dabei zunächst nur dies Eine: Nothstand, beklagenswerther, jämmerlicher Nothstand hat schon seit den letzten zehn Jahren fast überall in der Eifel und ganz besonders in der Schnee-Eifel geherrscht, wo seit Menschengedenken die Armuth das Loos des weitaus größten Theiles der Bevölkerung gewesen ist; wer sich mit den Seinigen satt essen und nothdürftig kleiden, und wohl gar einige wenige Thaler für die schlimmen Tage bei Seite legen konnte, der gehörte zu den Glücklichen und Beneidenswerthen – „etwas hungern hat der Eifeler von jeher müssen“, hört man oft am Rhein in leicht hingeworfener Rede sagen, „jetzt wird es nur gar zu arg“. Das sind keine Worte der Hartherzigkeit, gewiß nicht! Denn der brave und gemüthliche Rheinländer war auch hier, und bevor die Kunde des Elends weiter hinaus durch Deutschland drang, wieder der erste, der den guten Nachbarn zu Hülfe kam; wir theilen diese Aeußerung nur deshalb mit, weil sie die allgemeine Lage des Landes so zutreffend bezeichnet.
Da es sich nun hier um den Hunger handelt – der Ausdruck „Nothstand“ ist ein zu allgemeiner und läßt deshalb verschiedene Deutungen zu, und weshalb auch die Sache nicht bei ihrem rechten und wahren Namen nennen, wenn es auch noch so traurig klingt? – so müssen wir durchaus zwei Worte über die tägliche Nahrung der Eifeler Landbewohner in guten Tagen sagen. In guten Tagen! Es sind auch buchstäblich nur zwei Worte. Kartoffeln und Hafer. Die „Kornfelder“ in der Eifel sind immer nur Haferfelder, Roggen wird nur wenig und mehr nach der belgischen Grenze in der Nähe der größeren Städte gebaut und Weizen gar nicht. Der erstere würde als Winterkorn auf den höher gelegenen Feldern der strengen Kälte nicht widerstehen können, und für den zweiten ist der Boden viel zu mager. Weißbrod, das heißt Weizenbrod ist daher in den Dörfern der Schnee-Eifel und der hohen Veen so gut wie unbekannt; die Kinder nennen es Kuchen, „und Kuchen ist nur für reiche Leute.“ Brod wird also nur aus Hafer gebacken, aber weit mehr wird Haferbrei gegessen: das Mehl einfach mit Wasser und etwas Salz über dem schwelenden Torffeuer so lange gerührt, bis es steif, also gahr geworden ist, und wenn dann nur die Portion für Eltern und Kinder (das Privilegium der armen Leute: reichlicher Kindersegen findet sich natürlich auch in der Eifel) nicht zu klein ausfällt, so sind alle froh und zufrieden, denn sie werden satt. Neben dem Hafer hat der Eifeler nur die Kartoffeln, die gleichfalls kein fettes Erdreich verlangen und die in manchen Strecken, wo auch der Hafer nicht gut gedeihen will, die einzige Nahrung bilden. Morgens, Mittags und Abends eine Schüssel „gequellter“ Kartoffeln; und auch hier gilt dasselbe, wie von dem Haferbrei: wenn nur genug da ist, so hört man keine Klagen.
Nun sind aber sowohl der Hafer wie die Kartoffeln in den letzten Jahren mißrathen, die Kartoffeln sogar im vorigen Herbst total, und damit erklärt sich auch sofort der Nothstand, das heißt die Hungersnoth. Die Leute haben nichts zu essen. Wie sich das so leicht hinschreibt und so leicht liest! Und doch – welch eine Fülle unsäglichen Elends schließen diese Paar Worte ein; so entsetzlich, daß man fast an Gottes Barmherzigkeit verzweifeln möchte. Aber ein solches Elend liegt auch gar nicht in der göttlichen Weltordnung; wenn nur diejenigen, die viel haben, denen, die wenig oder nichts haben, nach Kräften beistehen, so ist dieser schrecklichste sociale Mißklang sofort gehoben. Dabei ist von [260] communistischcn Tendenzen ganz und gar nicht die Rede; Arme und Reiche wird es immer geben, denn das liegt eben wieder in der göttlichen Weltordnung; aber die werkthätige Nächstenliebe ist jedenfalls die erste aller menschlichen Tugenden.
Ein Beispiel, das gottlob nicht allein steht, wenn es auch in dieser Bedeutung zu den Seltenheiten gehört. Ein reicher Mann, ein „zwölffacher Millionär“, ist im vorigen Jahre an den Rhein gezogen, wo er sich am Fuße des Drachenfelsen ein prächtiges Schloß baut. Dadurch finden hunderte und mittelbar tausende von Arbeitern aller Art lohnende Beschäftigung, Dadurch ist die Ankunft dieses Millionärs ein Segen für die ganze Umgegend geworden. Aber dieser Ehrenmann (es ist der Baron Sarter) macht auch einen noch nobleren Gebrauch von seinem Gelde. Er hat nämlich ein warmes Herz für die Armen, und als er die grauenhaften Schilderungen von der Hungersnoth in der Eifel gelesen, trifft er sofort Anstalt, den am schlimmsten betroffenen Gemeinden zweitausend Centner Kartoffeln (die Hälfte zur Frühjahrssaat) anzuweisen. Anfangs fürchtete man, die Berichterstatter hätten in der Freude eine Null zu viel gemacht; aber nein, es sind wirklich volle zweitausend Centner und noch dazu bester Qualität … eine fürstliche Gabe!
Damit sind viele Tausende satt zu machen, und ihr Dank könnte diesem edlen Menschenfreunde dermaleinst die letzte Stunde sehr erleichtern, obwohl wir ihm ein langes, langes Leben wünschen, damit er noch recht, recht viel Gutes thun kann.
Wir sagten eben viele Tausende, und dies ist wörtlich zu nehmen, denn nach einer oberflächlichen Schätzung waren schon um die Mitte des Märzmonats zwischen 16000 bis 18000 Menschen von allen Nahrungsmitteln so gut wie ganz entblößt und auf die öffentliche und private Mildthätigkeit angewiesen. Und das in der Eifel, einem Lande, wo diejenigen reich genannt werden, die für sich selbst ihr bescheidenes Auskommen haben und nicht zu darben brauchen. Wie wären die im Stande, auch mit dem besten Willen ihren unglücklichen Mitbrüdern erfolgreich zu helfen?
Sehr charakteristisch ist ferner der Umstand, daß alle Berichte und Schilderungen aus den so schwer heimgesuchten Bezirken fast ganz gleichmäßig lauten; immer ein und dasselbe in wahrhaft erschütternder Uebereinstimmung.
„Die hungernden Kinder ziehen schaarenweise bettelnd von Dorf zu Dorf durch den tiefen Schnee und bei sechs, sieben und mehr Grad Kälte, glücklich, wenn sie noch heile Holzpantoffeln an den nackten Füßen haben, denn anderes Schuhwerk tragen sie niemals, und dabei pfeift der eisige Wind durch ihre dünnen, zerlumpten Kleider, daß oft mehrere von ihnen vor einem Bauernhause, wo sie auf ein Stück Brod hoffen, dicht neben einander niederkauern, um sich gegenseitig zu erwärmen. Die Männer gehen wohl auf Arbeit aus, finden aber selten welche, denn es giebt nichts zu thun und also auch keinen Verdienst. Die Frauen bleiben daheim in den kahlen, unwirthlichen Stätten und beschwichtigen die kleinsten Kinder, die vor Hunger weinen und die doch noch einige Stunden warten müssen, bis die Suppenanstalt im Gemeindehause geöffnet wird, wo sie endlich etwas Warmes zu essen bekommen. Und auch dort werden einer jeden Familie, wenn sie auch aus noch so viel Köpfen besteht, nur zwei oder allerhöchstens drei ängstlich bemessene Portionen verabfolgt, denn die Geber sind in ihren Mitteln sehr beschränkt, und morgen ist wieder ein Tag, und die Zahl der Armen wächst noch fortwährend in wahrhaft bedrohlicher Weise. Ob sie am Abend wiederkommen dürfen, um sich noch eine Portion zu holen, fragen Viele, und es thut bitter weh, ihnen eine verneinende Antwort zu geben, aber es geht leider nicht anders.“
So schreibt ein Pastor aus einem Dorfe bei Prüm und fügt, indem er um milde Gaben bittet, naiv hinzu, er selbst habe auch nichts mehr, denn das Wenige, was er besessen, habe er längst hergegeben.
„Wir hungern und frieren,“ schreibt man aus Auw bei Manderfeld, „und wissen uns schier gar nicht mehr zu helfen. Wir bewohnen den kältesten und unfruchtbarstcn Theil der Eifel, und eine gute Ernte haben wir seit langen Jahren nicht mehr gehabt. In unserem Dorfe und in den umliegenden Dörfern mit etwa 1200 bis 1300 Seelen giebt es keine zehn Familien, die täglich, wenn auch nur einmal, sich in Kartoffeln satt essen können. Hafer und Buchweizen konnten im vorigen nassen Herbst nicht eingeheimst werden, und als es endlich doch geschehen mußte, um nur etwas zu retten, war das Korn ausgewachsen, und das davon gebackene Brod ist so gut wie ungenießbar. Gegessen muß es trotzdem werden, aber die Leute, namentlich die Kinder, werden krank davon. Es ist ein unbeschreibliches Elend. Und was mag uns noch für die Zukunft beschieden sein, denn wir haben kein Saatkorn und keine Saatkartoffeln, und dazu ist der Winter auf einmal mit verdoppelter Gewalt wiedergekommen.“
In ähnlicher Weise lauten alle Berichte und stets mit demselben entsetzlichen Refrain: uns hungert und friert. In einem Dorfe des Bezirks St. Vith wurden eines Morgens über dreißig Kinder bald nach ihrer Ankunft im Schulhause von Schwindel und Kopfschmerzen ergriffen, und zwar einfach aus Entkräftung, denn sie hatten den einstündigen Weg durch Schnee und Nordwind nüchtern zurückgelegt. Manche waren im Schulzimmer buchstäblich umgefallen, viele wurden später ernstlich krank und drei von ihnen sollen bald darauf gestorben sein. Ueberhaupt räumt der Tod in diesem Jahre gewaltig unter den Kindern der Eifeldörfer auf, und auch sonst ist die Sterblichkeit dort größer als in normalen Verhältnissen.
Gethan wird allerdings viel und von allen Seiten zur Linderung der Noth; zunächst in den Rheinlanden selbst, wo in allen Städten, großen und kleinen, Sammelstellen errichtet sind, um die Geldbeiträge und sonstigen Gaben an Kleidungsstücken, wollenen Decken und Nahrungsmitteln entgegen zu nehmen. Ganz wie vor einigen Monaten zur Zeit der Überschwemmung. Und dabei fragt es sich sehr, ob die augenblickliche Noth in der Eifel, wenn auch örtlich auf einen geringeren Umfang beschränkt, nicht noch schrecklicher und noch dringender hülfeheischend ist, als jene. Gehungert haben doch die von der Ueberschwemmung Heimgesuchten wenigstens nicht, und ausgiebige Hülfe und Unterstützung waren damals so rasch und in so umfassendem Maße zur Stelle, daß schon nach wenigen Wochen der schlimmsten Noth gesteuert war.
Auch für die weiterreichenden Folgen der schrecklichen Wasserkatastrophe ist durch bedeutende Summen und durch staatliche Beihülfe ausreichend gesorgt; jene Summen sind sogar, namentlich durch die aus Amerika und England eingegangenen Gelder, zu einer solchen Höhe angewachsen, daß die Provinziallandtage von Rheinland und Westfalen schon einen beträchtlichen Theil davon für die Eifel in Aussicht genommen haben, was man hoffentlich höheren Orts gutheißen wird, denn die armen Eifeler sind ja ein Brudervolk.
Und sind wir das nicht längst Alle in Deutschland, vollends jetzt nach der glorreichen Einigung aller Stämme, mit dem schönen Wahlspruch, der an jenem denkwürdigen Januartage in Versailles ausgerufen wurde:
„… Ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen und Gefahr!“
So werden wir auch diesmal hoffentlich nicht vergebens bitten; das thut ohnehin die „Gartenlaube“ nie, denn sie kommt ja in viele hunderttausend Hände, überall wo deutsche Herzen schlagen, und alle diese Herzen (dies hat sich ja schon unzählige Male bestätigt!), wie sie theilnehmen an den freudigen und ruhmvollen Ereignissen im Vaterlande, so haben sie sich auch für die Leiden und die Noth der Landsleute ein warmes Mitgefühl bewahrt.
Und gerade jetzt, wo der sehnlich erwartete Lenz endlich, endlich seinen triumphirenden Einzug hält mit Blättergrün und Wiesenblumen und den Winter besiegt und vertrieben hat, öffnen sich die Herzen der Menschen ja noch mehr dem Mitleid und der Nächstenliebe … ach! in der armen Eifel dauert der Winter noch länger und wir müssen ihn walten lassen mit seinem Schnee und seinen eisigen Winden; aber den anderen noch schrecklicheren Winter des Hungers und des Elends, dem die arme Bevölkerung fast zu erliegen droht, den können wir bekämpfen und bannen durch hülfreichen Beistand, und so den Schwerbedrängten schon vor der Zeit einen erlösenden Frühlingsgruß bringen.
Unter Hinweis auf den obigen Artikel: „Die Hungersnoth in der Eifel“ eröffnen wir eine Sammelstelle für die schwergeprüften Nothleidenden, und bitten unsere Leser und Freunde, ihre Liebesgaben schleunigst an die Adresse der Verlagshandlung Ernst Keil in Leipzig senden zu wollen. Die Redaction.
- ↑ Die „Gartenlaube“ hat im Jahrgang 1878, S. 179 das Weinfelder
Maar abgebildet und einen ausführichen Artikel über Land und Leute
und die Sagenstätten auf der Eifel („Auf vulcanischem Boden“ von
Ferdinand Hey’l) gebracht. Wir verweisen auf denselben unsere Leser,
welche über die Geschichte dee Landes sich näher unterrichten möchten. D. Red.
- ↑ Vergleiche die kürzlich erschienene Schrift „Der Nothstand auf der Eifel“ von Fr. Thomas (bei Bagel in Düsseldorf), aus welcher wir diese und einige andere Notizen entlehnten.