Die Hollandsgänger in Nordwest-Deutschland

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Titel: Die Hollandsgänger in Nordwest-Deutschland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 517–519
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Hollandsgänger in Nordwest-Deutschland.

Nicht nur unsere Künste, Gewerbe und Handwerker, sondern auch unser Ackerbau und unsere Bauern haben ihre Wanderburschen. Man findet diese Erscheinung einer von Zeit zu Zeit zum Wanderstabe greifenden Land-Bevölkerung in verschiedenen Theilen Europas. Sie zeigt sich überall da, wo sehr fruchtbare Landstriche von mannigfaltigem Anbau, in denen zur Zeit der reichen Ernte die Arbeit begehrt ist, mit dürftigen, von der Natur vernachlässigten Gegenden, in denen der Arbeiter viele und der Bodenproducte wenige sind, nachbarlich zusammenstoßen.

So zieht alle Jahre im Herbst die arme slovakische Bevölkerung der Karpathen mit Gesang und in froher Aussicht auf Erwerb in die üppigen Landschaften an der ungarischen Donau hinab, um dort den Bewohnern der „goldenen“ Insel Schütt und anderer ungarischen „Paradiese“ bei der Weizenernte zu helfen. So wandern die Thalbewohner verschiedener Alpendistricte aus ähnlichen Gründen und zu ähnlichen Zwecken in die üppige Po-Ebene hinab. Eben so helfen in Spanien die kräftigen, aber armen Bewohner der Gebirge Galiciens ihren castilischen und portugiesischen Nachbarn an den Niederungen der Flüsse. Und aus Irland ziehen die armen celtischen Torfhüttenbewohner alljährlich über’s Meer nach und von Schottland hinüber und herüber, um sich in den reichen Lowlands die Tasche zu füllen.

Auch bei uns in Deutschland haben die Contraste der Natur- und Bodenverhältnisse in verschiedenen Provinzen unter unsern sonst so sehr an dem Boden klebenden Bauern solche Bewegungen erzeugt, die nun schon seit Jahrhunderten Jahr aus Jahr ein so regelmäßig wiederkehren, wie die Schwalben- und Kranichzüge.

Eine der bedeutendsten Wanderungen dieser Art bringt der Gegensatz zwischen den armseligen Haide-Districten und den fetten, ihnen anliegenden Marschländern des nordwestlichen Deutschlands zu Wege. In den wundervollen Triften von Holland und Friesland sproßt in jedem Frühling eine solche Fülle von schönen Gräsern und Wiesenkräutern und darnach im Sommer ein solcher Segen von Raps, Flachs, Weizen und Roggen auf, daß die einheimischen Knechte der reichen „Mynheers“ nicht Alles rechtzeitig und schnell genug einheimsen können. Seit uralten Zeiten haben ihnen daher die Bewohner der deutschen Haiden ihre Arme geboten. Diese, die nicht an das üppige Leben der Marschleute gewöhnt sind, können sich in ihren Dörfern während des an Feiertagen reichen Winters billiger durchbringen, und vermögen daher ihre Dienste für eine geringere Entschädigung zu leisten, als die Knechte, welche die Marschenherren sich in ihrem eigenen Lande zuziehen könnten.

Es ist daraus das in einem großen Theile von Nordwestdeutschland bekannte sogenannte „ Hollands-Gehen “ entstanden. Dasselbe ist in der ganzen Osnabrück’schen Gegend, im nördlichen Westphalen, in der südlichen Hälfte des Herzogthums Oldenburg, in den Grafschaften Hoya und Verden, überhaupt vorzugsweise in allen Landschaften auf der linken Seite der Weser zur Sitte und zu einem eigenthümlichen Erwerbszweige geworden. Es setzt sich aber mit Variationen, wie die Haidestriche selbst, auch noch in’s Innere der Niederlande fort. Auch dort hilft natürlich wieder der einheimische Haidebewohner seinem reichen Nachbar in den Marschen und concurrirt mit den fremden Arbeitern aus Deutschland.

In den Dörfern aller der bezeichneten Striche thun sich im Frühjahr die arbeitslustigen Männer, die noch kein eigenes Besitzthum haben, die jüngeren Söhne der Bauern zusammen und beginnen ihre friedlichen Razzias in das lockende Niederland. Auch kleine Eigenthümer, schon besitzliche und verheirathete Leute schließen sich ihnen wohl an. Denn da in den Marschen andere Culturen herrschen und die Haupternten früher fallen, als auf den Haiden, so können sie, nachdem sie ihre dürftigen Roggen- und Buchweizenfeldchen bestellt haben, die Hütung derselben während des Sommers ihren Frauen und Kindern überlassen und dann noch rechtzeitig zur späten Ernte in der Heimath zurück sein.

Weil das guldenreiche Holland seit alten Zeilen ihr vornehmstes Ziel war, nennt man diese Leute gemeiniglich „Hollandsgänger“, [520] hie und da auch, „Frieslandsgänger“ oder auch wohl kurzweg „Friesen“.

Es giebt verschiedene Gattungen dieser „Friesen“. Denn obgleich ursprünglich wohl nur das Gras-und Kornmähen sie in's Leben rief, so haben sie doch in den aus lauter menschlicher Kunst und Arbeit hervorgegangenen Niederlanden noch manchen anderen lohnenden Zweig der Thätigkeit gefunden. Man kann dort überall einen kräftigen Arm verwenden, beim Torfbaggern, beim Häuserbau, bei den Canalgrabungen, bei den Schleußen und sonstigen Wasserwerken. Der Eine hat sich mehr Talent für dieses, der Andere für jenes angeeignet.

Da alle diese und andere Arbeiten ihre verschiedenen „Saisons“ haben, so setzen daher auch die Hollandsgänger zu verschiedenen Zeiten aus. Einige, die zu Hause viel Muße haben, und die dem Niederländer den ganzen Sommer hindurch erst beim Torfbaggern, dann beim Heuen, schließlich bei der Weizen-Ernte zu helfen denken, begeben sich schon im ersten Frühling, bereits im Anfange Aprils auf die Wanderung, und kommen dann im Spätsommer mit den reichsten Ersparnissen mit einer ganzen Halbjahrs-Ernte zurück. – Die Mehrzahl aber verläßt erst im Anfange Juni zur Zeit der Heuernte Haus und Hof und begnügt sich mit der Aussicht, bei der Rückkehr einen geringeren Sparpfennig in der Tasche zu haben. Die Zahl der auf diese Weise Beschäftigung suchenden Personen läßt sich natürlich kaum feststellen. Doch muß sie sich wohl auf viele Tausende belaufen. Denn es findet sich zwischen der Weser und den Niederlanden kaum ein Geestdorf, in welchem das „Hollandsgehen“ nicht eine mehr oder weniger bedeutende Rolle in dem Leben der Bewohner spielte.

Um durch Association ihre Reisen billiger oder auch wohl gefahrloser zu machen, vergesellschaften sich diejenigen, die sich aus einem Districte zu einem Hollandsgange entschlossen haben, zu kleinen Trupps. Zuweilen verschafft sich ein solcher Trupp einen sogenannten „Botenwagen“, und dieser wird mit den schweren Reiseeffecten, Ernteinstrumenten und Victualien bepackt, namentlich mit den Sensen und den für diese nöthigen Apparaten. Der große Bedarf und Verbrauch von Sensen von Seiten der Hollandsgänger hat in mehrern Haide-Dörfern das Schmiedehandwerk sehr bedeutend gemacht, und es sind im Osnabrück’schen, wie in der Grafschaft Diepholz, zuweilen in ganz abgelegenen Ortschaften, große von Wasser getriebene Hammerwerke entstanden, welche vorzugsweise für die Hollandsgänger arbeiten.

Alsdann bekommt der Botenwagen eine reiche Ladung von Speck und Schinken mit, die während des Winters in den räucherigen Hütten der Haideleute reiften und gahrten, und eben so wenig fehlt es ihm an kohlschwarzem Roggenbrod und Pumpernickel, mit dem die Hollandsgänger in manchen Strichen der niederländischen Weizenesser so viel Aufsehen machen. - Zuweilen betheiligen sich auch wohl ihre Töchter und Frauen mit einer kleinen Speculation an einer solchen Expedition. Sie haben im Winter Garn gestrickt oder Leinwand und sogenanntes „Wolllaken“ gewebt, und sie geben davon und von andern Producten ihrer Industrie und Haushaltung dem Botenwagen eine kleine Portion mit. Der Mann oder Vater sucht es ihnen in dem reichen Niederlande zu verhandeln nur bringt dafür zuweilen ein sehr willkommenes Douceur zurück.

Freilich haben in neuerer Zeit die strengeren Zollgesetze und Douaniers diesen kleinen mit unserer Bauernwanderung verknüpften Handelszweig sehr geknickt und fast getödtet. – Viele aber auch machen von dem nomadischen Botenwagen keinen Gebrauch, nehmen ihre Sensen selber auf die Schulter, hängen sich die Wasserflasche und den Brod- und Specksack über den Rücken und wandern nach dem philosophischen Grundsatz: „omnia mea mecum porto“ leicht geschürzt nach Nordwesten hinaus. – Auf der Reise leben sie natürlich sehr sparsam. In Wirthshäusern kehren sie nicht viel ein, namentlich auf der Hinreise, wo mehr guter Wille, als Mittel vorhanden sind, häufiger schon auf der Rückreise, wo der Holländer die Taschen gefüllt hat.

Wenn das Wetter nicht allzu schlimm ist, so übernachten sie unter freiem Himmel, in einem Walde oder unter einem Baume. Es scheint mir, daß sie eben so wie die Zigeuner seit alten Zeiten ihre bestimmten Striche und Pfade haben, auf denen sie gehen, und ihre gewissen Nachtstationen, die sie zu benutzen pflegen. Wenigstens sind mir aus meinen Streifereien in jenen Gebieten solche Hollandsgänger-Stationen wohl hie und da vorgekommen. So steht zum Beispiel am Rande des sogenannten „Stühe“, eines Waldes im Herzogthum Oldenburg, eine wundervolle, große und uralte Eiche, welche das Volk deswegen die „Holländer“- oder „Friesen-Eiche“ nennt, weil die Hollandsgänger unter ihrem weiten Gezweige und auf der hübschen Wiese, die sie beschattet, auf ihren Reisen zu rasten pflegen. Es mag noch viele andere solche Friesen-Eichen oder Hollandsgänger-Stationen in jenen Gegenden geben.

Wie Alles in der Welt, so werden auch die Unternehmungen der Hollandsgänger durch eine gewisse Gewohnheit und Kundschaft geregelt. Manche von ihnen haben ihre Freunde in Westfriesland, andere im Utrecht’schen, anderen ist Groeningen oder das eigentliche Holland geläufiger. Wieder andere pflegen nach einigen Districten von Brabant zu gehen.

In früherer Zeit ging bekanntlich von allen diesen Ländern eine großartige Bewegung der flanderischen und holländischen Stämme nach Osten aus, die friedlichen Wanderungen der Vlamingen in's sogenannte „Osterland“. Diese Wanderung hatte freilich eine andere Bedeutung als das jetzige Hollandsgehen unserer Haideleute. Die Vlamingen kamen in die Ostländer nicht als zeitweilige Knechte, sondern als culturverbreitende Colonisten und bleibende Ansiedler, die sich als Eigenthümer des von ihnen angebauten und der Wildniß entrissenen Bodens bemächtigten.

Diese Wanderung der Flanderer, Holländer und Friesen nach Osten hat jetzt aufgehört, da alle fruchtbaren Marschgegenden, welche sie lockten, mit Bevölkerung gefüllt sind. Aber vielleicht ist die jetzt stattfindende Bewegung in umgekehrter Richtung aus Osten nach Westen noch ein Nachhall, gleichsam eine kleine Ebbe jener größeren Fluth. Vielleicht spannen sich damals, durch die Ostwanderung vermittelt, jene Bekanntschaften im Westlande und die Einladungen dahin an. Jetzt hat nicht nur jeder östliche Haidedistrict – fast jedes Dorf – dort im Westen seinen Lieblingsdistrict, den es vorzugsweise ausbeutet, sondern auch jeder einzelne Hollandsgänger pflegt in den Marschen seinen Bauer zu haben, mit dem er seit länger bekannt ist, und der seinen „Hinrich, aus Suhlingen“ oder seinen „Dirk vom Dümmersee“ oder seinen „Kort von Borstel“, oder wie der Bursche und sein Dorf eben heißen, zur Zeit der Heuernte erwartet. Oft freilich lösen sich solche Kundschaften auf oder sind von einem Anfänger erst anzuknüpfen. Dann zieht der Hollandsgänger in den Marschen von Gehöfte zu Gehöfte herum und sucht sich da, wo man noch nicht mit Arbeitern versehen ist, unter den möglichst besten Bedingungen anzubringen. Festen Lohn bekommen sie nicht. Vielmehr herrscht in den Marschen und überall in Holland und Friesland die den Fleiß befördernde Sitte, ein Stück Arbeit, z. B. das Abmähen eines Feldes, in Bausch und Bogen zu verdingen, so viel für diesen Kamp, so viel für jenes Feld. Je mehr sie in kurzer Zeit niederbringen, desto mehr verdienen sie.

Da je nach Umständen, je nach der Lage oder Sumpfigkeit des Feldes, je nach der Härte der zu schneidenden Halme, des jungen Grases, des Klees, des Schilfs, des Getreides, die Arbeit schwieriger und mühseliger ist, so gehört viel Klugheit dazu, um dies Alles zu erwägen und abzuschätzen. Und der Umsichtige steht sich natürlich besser dabei, als der, welcher sich von dem kargen Holländer übertölpeln läßt. – Gewöhnlich machen sich zwei oder drei Freunde, die sich gegenseitig ungefähr gleiche Kraft und gleichen Eifer zutrauen, zusammen, berathen sich mit einander und arbeiten gemeinschaftlich an der Abrasirung einer großen Fläche, die sie mit einander in Contract nehmen. Sie thun dabei zuweilen recht glückliche, zuweilen aber auch recht unglückliche Griffe, und sie haben ihre guten und schlechten Jahre.

Wenn das junge Gras recht frisch und saftig steht, geht die Arbeit leichter von Statten, und sie machen einen ordentlichen Profit. Wenn der Frühling aber sehr trocken war und das Gras hart und struppig wurde, oder wenn Mäuse und Maulwürfe den Boden durchwühlten und häufige Erdhügel den Sensen in den Weg warfen und die Arbeiter dies nicht gleich beachteten, dann ist oft das Umgekehrte der Fall. – Waren alle Umstände günstig und das Jahr recht ergiebig, so eilen dann die Hollandsgänger, meistens im Monat August, zu ihren Haiden, die Taschen voll von blanken holländischen Gulden, zurück. – Da sie sich hierbei zuweilen ebenso wie beim Auszuge zusammenschaaren, so langen sie in ihren Dörfern oft in ganzen Trupps, alle die Kinder des Orts, die im Frühlinge auszogen, auf einmal an, und da ist dann großer [521] Jubel und Freude. – Den Ihrigen bringen sie mancherlei Geschenke aus den Niederlanden mit und dazu auch einen hübschen Sparpfennig, als Sorgenbrecher für den Winter.

Auch die Armen werden dabei nicht vergessen, und gewöhnlich wandert einer der 60 oder 80 holländischen Gulden in die Armenbüchse. Dagegen vergißt sie dann auch der fromme Pastor des Orts nicht. Er spricht am Sonntage öffentlich vor der Gemeinde dem lieben Gott seinen Dank aus dafür, daß er die Hollandsgänger glücklich zurückgeführt habe. Und ebenso giebt er ihnen auch im nächsten Frühling zur Zeit des Auszugs seine frommen Kanzelwünsche mit auf den Weg für eine ergiebige Ernte in dem holländischen Aegypten.